D. Mart. Luthers Disputation vom Menschen 1536
Philosophische Definition des Menschen - animal rationale (zoon logikon) 1. Die Philosophie, oder menschliche Weisheit, beschreibt den Menschen als ein Thier, das Vernunft, Empfindung und einen Körper hat. 2. Nun istīs unnöthig, darum zu streiten, ob der Mensch im eigentlichen, oder uneigentlichen Sinne ein Thier genannt werde. 3. Das muß man aber wissen, daß diese Beschreibung nur auf den sterblichen Menschen gehe, und zwar in diesem Leben. 4. Und es ist freiliche wahr, daß die Vernunft unter allen Dingen das Vornehmste und die Hauptsache, und vor allen anderen Dingen dieses Lebens das Beste, und etwas Göttliches sei. 5. Denn sie ist die Erfinderin und Regiererin aller Künste, der Arzneiwissenschaft, der Rechtsgelehrsamkeit und aller Weisheit, Macht, Tugend und Ehre, welche die Menschen in diesem Leben besitzen. 6. Daß man sie daher mit Recht den wesentlichen Unterschied nennen muß, durch welchen sich der Mensch von den Thieren und andern Dingen unterscheidet. 7. Auch die heilige Schrift macht sie zu einer Herrin über die Erde, Vögel, Fische, und über das Vieh, und spricht: "Herrschet" usw. 8. Das ist, daß sie sei eine Sonne und eine Art Gottheit, die zur Regierung dieser Dinge in diesem Leben gesetzt ist. 9. Und diese Herrlichkeit hat GOtt nach dem Falle Adams der Vernunft nicht genommen, sondern vielmehr bestätigt. 10. Doch daß sie etwas so Majestätisches sei, weiß selbst die Vernunft nicht von vorn herein, sondern nur hinterher (a posteriori), [wenn sie darüber belehrt wird]. 11. Wenn man daher die Weltweisheit, oder die Vernunft selbst, gegen die Gottesgelehrtheit hält, so wird klar werden, daß wir von dem Menschen fast nichts wissen, 12. Da man sieht, daß wir seine materiale Ursache kaum hinlänglich erkennen. 13. Denn die Weltweisheit kennt wenigstens die wirkende Ursache nicht, gleicherweise auch die Endursache nicht, 14. Weil sie keine andere Endursache angibt, als den Frieden dieses Lebens, und nicht weiß, daß die wirkende Ursache GOtt, der Schöpfer sei. 15. Ueber die formale Ursache aber, welche sie die Seele nennen, sind die Weltweisen niemals einig geworden, werden auch darüber niemals einig werden. 16. Denn daß Aristoteles sie beschreibt als den ersten Trieb (actum) eines Körpers, der das Vermögen hat zu leben, damit hat er seine Leser und Zuhörer nur blenden wollen. 17. Und es ist keine Hoffnung, daß ein Mensch sich selbst nach diesem vornehmsten Theile, was er sei, werde erkennen können, bis er sich in der Quelle selbst, nämlich in GOtt, angeschaut hat. 18. Ja, was kläglich ist, so hat er nicht einmal über seinen Rath oder über seine Erkenntniß volle und sicher Gewalt, sondern ist darin dem Ungefähr und der Eitelkeit unterworfen. 19. Wie aber dieses Leben, so ist auch die Beschreibung und Erkenntniß des Menschen beschaffen, das ist, sie ist gering, unbeständig (lubrica) und gar zu körperlich (materialis). Theologische Definition des Menschen 20. Die Gottesgelehrtheit hingegen beschreibt aus der Fülle der Weisheit den Menschen völlig und vollkommen. 21. Nämlich, daß der Mensch sei ein Geschöpf GOttes, welches aus dem Leibe und einer lebendigen Seele bestehe, der anfänglich nach dem Ebenbild GOttes ohne Sünde erschaffen worden sei, damit er sein Geschlecht fortpflanzen und über die erschaffenen Dinge herrschen und unsterblich sein sollte, 22. Daß er aber nach dem Fall Adams der Gewalt des Teufels, der Sünde und dem Tode unterworfen sei, einem zwiefachen Uebel, welches für seine Kräfte unüberwindlich und unaufhörlich ist. 23. Davon er auch druch niemand als durch JEsum Christum, den Sohn GOttes (wenn er an ihn glaubt), könne befreit und des ewigen Lebens theilhaftig gemacht werden. 24. Da dieses feststeht, und dieses schönste und vortrefflichste unter allen Dingen, wie denn die Vernunft ist nach dem Falle, unter der Gewalt des Teufels steht, so muß man auch hier den Schluß machen: 25. Daß der ganze Mensch und ein jeglicher Mensch, er sei König, Herr, Knecht, weise, gerecht und reichbegabt mit allen möglichen Gütern dieses Lebens, dennoch der Sünde und des Todes schuldig sei und bleibe, unter der Gewalt des Satans befindlich. 26. Daher reden die, welche behaupten, die Natur sei nach dem Fall unverletzt geblieben, gottlos, nach ihrer Vernunft, wider die Gottesgelehrtheit. 27. Gleicherweise diejenigen, die da sagen, wenn der Mensch thue, so viel an ihm ist, so könne er die Gnade GOttes und das [ewige] Leben verdienen. 28. Desgleichen, die sich auf den Aristtoteles (der von einem gottesgelehrten [theologico] Menschen nichts wußte) dafür berufen, daß die Vernunft die besten Dinge erstrebe. 29. Desgleichen, daß in dem Menschen ein Licht des Angesichts GOttes sei, womit wir bezeichnet wären, das heißt, der freie Wille, welcher sowohl die Entschließungen (dictamen) der Vernunft recht leite, als auch den Willen gut einrichte. 30. Desgleichen, daß es bei dem Menschen stehe, das Gute und das Böse oder das Leben und den Tod zu erwählen usw. 31. Alle diese verstehen nicht, was der Mensch sei, und wissen nicht, wovon sie reden. 32. Paulus faßt Röm. 3,32 in diesen Worten: "So halten wir nun, daß der Mensch gerecht werde, ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben", die Beschreibung des Menschen kurz zusammen und sagt: der Mensch werde durch den Glauben gerecht. 33. Gewiß, wer da sagt, daß ein Mensch gerecht gemacht werden muß, der behauptet, daß er ein Sünder, ein Ungerechter und deshalb vor GOtt schuldig sei, aber aus Gnaden selig werden muß. 34. Und zwar nimmt er den Menschen unbestimmter Weise, das ist, ganz allgemein, damit er die ganze Welt, oder alles, was Mensch heißt, unter die Sünde beschließe. 35. Deshalb ist der Mensch in diesem Leben eine bloße Materie GOttes zu dem Leben in jener künftigen Gestalt. 36. Gleichwie auch alle Creatur, die jetzt der Eitelkeit unterworfen ist, für GOtt eine Materie zu ihrer künftigen herrlichen Gestalt ist. 37. Und wie Himmel und Erde im Anfang war zu der nach sechs Tagen vollendeten Gestalt, das heißt, seine Materie, 38. So ist auch der Mensch in diesem Leben [eine Materie] zu seiner künftigen Gestalt, wenn das Ebenbild GOttes erneuert und völlig in uns hergestellt sein wird. 39. Unterdessen lebt der Mensch in Sünden und wird entweder von Tag zu Tag gerechter gemacht oder er wird unreiner. 40. Daher will Paulus dieses Reich der Vernunft nicht einmal Welt nennen, sondern er nennt es vielmehr das Wesen (schema) dieser Welt [1 Cor. 7,31. τὸ σχῆμα] St. L. XIX, 1462 ff. 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