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Die Entwicklung des jüdischen Christentums zum Islam

(aus: Adolf Schlatter, Gesunde Lehre, Reden und Aufsätze, Velbert 1929, 225 ff.)

Der breite Zusammenhang, der den Islam mit dem Judentum verbindet, ist an allen Stellen offenkundig, sowohl in der religiösen Terminologie, als im Dogma, als im Ritus. Aber nicht ein das Christentum abwehrendes, sondern ein christliches Judentum nährte den Islam, und dieser Tatbestand hat für unseren religiösen Verkehr mit dem Mohammedanismus durchgreifende Bedeutung.

Im Zusammenhang dieser Untersuchung hängt an dieser Formel „judenchristlich“ keine Aussage über die Rasse und keine solche über die völkische Organisation: Auch die Erhaltung der Judenschaft geschah nicht durch die Zähigkeit der Rasse oder durch die Festigkeit ihrer nationalen Verfassung. Die jüdische Mission hat in unübersehbarer Menge fremde Bestandteile in die Synagoge geführt, und dies gilt von der jüdisch-christlichen Mission erst recht. Die Energie der urchristlichen Mission im jüdischen Bereich wird durch das Neue Testament sichtbar (vgl. Römer 10,18) und durch das gegen die Nazarener gerichtete Gebet der Synagoge bezeugt. Dieses wendet sich nicht gegen die griechische Christenheit, die die Synagoge als ihr gänzlich fremd ignorierte, sondern gegen die Spaltung für und wider Jesus innerhalb der Judenschaft. Dass das Gebet gegen den Feind zur Pflicht aller gemacht wurde, stellt fest, dass alle vom Kampf berührt wurden. Über die Organisation der jüdischen Christenheit wissen wir nichts. Ob sie in einzelnen Gruppen zersplittert lebte, ob und wie diese zwischen einander einen Zusammenhang herstellten, lässt sich nicht sagen, da wir von der Organisation eines judenchristlichen Lehrstandes und judenchristlicher Synoden usf. nichts wissen. Dennoch hat die Formel „judenchristlich“ einen vollbestimmten Sinn, wie die Formel „jüdisch“ durch das Gemenge der Rassen ihre Bedeutung nicht verliert. Die Einheit entsteht durch die Allgewalt des Dogmas, das den Willen der einzelnen und das Verhalten der Gemeinde vollständig bestimmt.

Der christliche Einfluss zeigt sich zunächst in dem, was uns der Koran und die Tradition über Jesus und das Evangelium sagen. [Fußnote: Die Übernahme des griechischen Lehnworts indschil führt nicht von der Judenschaft weg zur Reichskirche hinüber, entspricht vielmehr dem jüdischen Sprachbestand, weil dieser kein genau entsprechendes Äquivalent zum neutestamentlichen "Evangelium" besaß.] Die Tatsache, dass Jesus Mohammed nicht unbekannt geblieben ist, hat historisches Gewicht. Wir besitzen sehr umfangreiche Äußerungen der palästinischen Rabbinen, der Lehrer von Cäsarea, von Tiberias und Galiläa, der Daroma, Zeitgenossen des Origenes, Eusebius und Mar Gaba. Was erfahren wir durch sie von Jesus und dem Evangelium? Nichts. [Fußnote: Es gibt natürlich Stellen, in denen das geübte historische Ohr die gegen das Christentum gerichtete Polemik erkennt. Aber auch diese sind selten.] Niemals ergebe sich aus ihren Äußerungen die Beobachtung, dass sie in völlig christianisierten Städten leben, in Städten, in denen der Episkopus als der mächtige Mann neben dem Vertreter des Staates steht und die Kirchen alle anderen Gebäude überragen. Hinter diesem Schweigen steht die Beschimpfung Jesu, der Fluch. Mohammed setzt dieses Schweigen nicht fort, auch nicht die Beschimpfung Jesu; bei ihm ist Jesus der Sohn der Maria, nicht der Sohn der Dirne, Apostel Gottes, nicht der Verfluchte. Er stellt ihn zwischen Mose und sich, stellt das Evangelium neben die Thora und die Tradition, die hier in die Anfänge zurückweichen wird [Fußnote: Vgl. die Aufbewahrung des Platzes für das Grab des wieder erschienen Jesu neben Mohammeds Grab.], gibt ihm auch in der Eschatologie eine Stelle und erwartet seine Wiederkunft.

Diese Erinnerungen sind aber mit den Stoffen, die in letzter Instanz auf das Alte Testament zurückgehen, völlig gleichartig. Ob von Adam, Abraham, Mose, David, Salamon oder von Jesus die Rede ist, sowohl das historische Sehfeld als die religiöse Wertung ist dieselbe. Das macht die Ableitung dieser Stoffe aus verschiedenen Quellen unwahrscheinlich. Folgt aber Mohammed in seinem Rückblick auf die alte Prophetie einer einheitlichen Quelle, dann ist es eine judenchristliche. Zur Befestigung dieses Schlusses ist der Nachweis unentbehrlich, dass die Normen, die Mohammeds religiöses Verhalten bestimmen, nicht nur jüdisch, sondern jüdisch-christlich sind.

Was er verkündet ist Gesetz. Daß es auch ein anderes Verhältnis zu Gott geben könne als das durch den Nomismus gesetzte, das trat nie vor sein Bewusstsein. [Die Mystik kommt erst später in den Islam.] Er verkündet aber ein neues Gesetz, das bisher noch nie geoffenbart worden ist, nicht als ob es jetzt erst entstünde; der Koran präexistiert genau so, wie die Thora in der Synagoge präexistiert, und der Islam ist schon Adam geoffenbart worden und wurde auch von der Thora und vom Evangelium gelehrt, analog wie schon Abraham und die Väter nach der Synagoge die Thora kannten und hielten. Dennoch wird das präexistente Buch jetzt erst den Menschen gegeben und der Islam, die Gott wohlgefällige Ergebung des Menschen an ihn, durch ein neues Gesetzt geregelt. Zur Vorstellung „neues Gesetz“ führt im Judentum kein Weg, für das die Thora feststeht. Dagegen hatte das jüdische Christentum über dem alten Gesetz noch ein neues, und hier fand sich darum auch Raum für ein neuestes nach dem neuen. Wenn Mohammed von Jesus sagt, er habe die Thora bestätigt, und zugleich ein neues Wort, eben das Evangelium gebracht, so setzt er damit die judenchristliche Tradition fort, und damit war ihm unmittelbar die Vorstellung gegeben, in die er sein eigenes Berufsbewusstsein fasst. Stellte er es dem Judentum entgegen, so hätte er sich mit der jüdischen Thora auseinandergesetzt. Davon wird aber nichts sichtbar. Obwohl die Kombination der Unbeweglichkeit des Gesetzes mit neuer Offenbarung logisch nicht zu glätten ist, beherrscht sie ihn dennoch mit einer keinen Zweifel zulassenden Sicherheit; denn die Tradition, die ihn nährte, gab sie ihm.

Der Inhalt des göttlichen Gesetzes bestätigt diesen Schluss. Es ist ein Glaubensgesetz, schafft den Glaubenden, den Muslim, der sich Gott übergibt, und setzt das Bekenntnis des Frommen fest, das er beständig spricht. Glaube, Übergabe an Gott, sind auch jüdische Worte, und die Bekenntnispflicht ist eine jüdische Satzung. So hat auch das Gegenstück zum Gläubigen, der „Verleugner“, seine alten synagogalen Namen (Kophér). Dennoch ist diese Verinnerlichung des Gesetzes, die die Glaubensforderung in die Mitte der Frömmigkeit stellt, nicht jüdisch. Immer blieb das jüdische Gesetz ein Gesetz der Werke, nicht ein das innwendige Leben, sondern ein die Gemeinde ordnendes Recht. Auch der Koran und die Überlieferung enthalten rituales Recht; es entstand aber hier kein Talmud, sondern ein göttliches Predigtbuch, wie es der Glaubende bedarf, damit er glaube. Das ist jüdisch-christlich. Denn der christliche Nomismus schuf immer das Glaubensgesetz. Sein Merkzeichen ist, dass es das Gesetz zuerst auf den inwendigen Lebensstand und die ihn bildenden Vorgänge bezieht.

Mohammeds Vorstellung vom göttlichen Werk gliedert sich nach den beiden Aeonen. Der Prophet spricht aus, was jetzt die Pflicht der Glaubenden sei, und verkündet ihnen den Ausgang der Welt und ihres eigenen Lebens. Unverkennbar gehen auch hier die geschichtlichen Beziehungen in die Synagoge zurück, zu ihrem doppelten Lehrstoff, „Wandel“ und „Verkündigung“, Halacha und Haggada, da die Verkündigung nicht nur mitteilt, wie die Gemeinde entstanden sei, sondern ihr auch das Kommende ansagt, wodurch sie ihre Vollendung finden wird. Talmud und Apokalyptik leiten das Judentum. Aber das Verhältnis der Motive zueinander ist im Koran nicht mehr das jüdische, sondern das durch das Christentum geschaffene. Für das Judentum steht die Thora obenan und die Eschatologie verblasst. Nicht Pseudobaruch oder Pseudoesra, sondern Mischna wird kanonisch. Für die Predigt des Islam ist heute noch überall die Verkündigung des Gerichts das vorangestellte Hauptthema.

Das bewirkt die Veränderung in der Stellung, die jetzt der Träger der Offenbarung erhält. Das Bekenntnis zur Sendung Mohammeds wird ein wesentlicher Teil der Religion. Mose steht nicht im Bekenntnis der Juden. Nur im Kampf mit der Kirche wurde das Judentum „mosaisch“. „Wir sind Moses Jünger“, das ist Abwehr derer, die sagen: „Das Gesetz ist durch Moses gegeben,“ und darum sind wir von ihm frei. Aber auch im Kampf mit der Christenheit wird nicht das Bekenntnis zu Mose das Kennzeichen des Juden. Die Thora ist nur im abgeleiteten Sinn die Thora des Mose. Sie ist ja präexistent, von Mose aus dem Himmel geholt, und der Begriff „Prophet“ bleibt mehrzählig. Vor Mose stehen die Väter, nach ihm die Propheten, weshalb Israels Religion nicht einzig auf Mose beruht. Im Islam haben wir dagegen den einzigen Offenbarungsmittler, dessen Name im Bekenntnis auf den Gottes folgt. Das heißt: hier entsteht ein Gegenstück zum Christus mit seiner nur einmal vorhandenen, für alle gültigen Würde, dessen Name neben dem Gottes steht.

Das wird auch in der bevorzugten Selbstbezeichnung Mohammeds sichtbar: er ist der von Gott „Gesendete“. „Apostel“ war zwar ein im jüdischen Leben alltäglich gebrauchtes Wort, wird aber vom religiösen Sprachgebrauch nicht deutlich ausgezeichnet, wenn auch Ansätze zum Sprachgebrauch des Neuen Testamentes und des Islam nicht fehlen. Gott schickt den Engel, schickt den Propheten. Zunächst steht aber neben der Terminologie Mohammeds derjenige Sprachgebrauch, der aus dem von Jesus benützten Gottesnamen herauswuchs: Der Vater ist „der, der mich gesendet hat“. Darum hat auch die Tradition Mohammeds Bild so gefärbt, dass daraus ein Gegenstück zum Christusbild der Kirche wurde, mit wunderbarer Geburt, mit Sündlosigkeit, mit Wundern, mit Himmelfahrt. Das hat sich auch dem Anfang folgerichtig deshalb ergeben, weil die Fassung des religiösen Amts, die Mohammed bei seinem Wirken leitete, aus dem Werk Jesu stammt.

Mit der Einzigkeit des Offenbarers war der Universalismus des neuen Gesetzes gegeben. Der Nomismus ist im Islam nicht national unbegrenzt, so kräftig nationale Motive an seinem Entstehen beteiligt waren, sondern die hier hervortretende Verkündigung des göttlichen Willens war von Anfang an mit dem Anspruch verbunden, dass sie ihn aller Welt zeige. Es entsteht hier Menschheitsreligion, und das göttliche Gesetz ergreift alle. Damit ist wieder der jüdische Gedanke an einer entscheidenden Stelle überschritten. Universalismus war das Judentum im Rückblick auf den Anfang in der Schöpferlehre und im Vorblick auf das Ende in der Eschatologie. Hier ist dagegen das der gegenwärtigen Gemeinde erteilte Gesetz universal gültig und für alle bestimmt. Das erscheint aber bei Mohammed nicht als ein neues Ziel, sondern als die gegebene, völlig gesicherte Folge aus dem Gottesgedanken. Der eine Gott herrscht über alle, und sein Buch spricht zu allen. So war es in der Christenheit, eben weil sie den Christus verkündigte. Damit trat die Eschatologie in die Gegenwart hinein, und die nationalen Grenzen fielen.

Wie wurde das Christentum so, dass es mit Mohammeds Selbstbewusstsein verschmolzen den Islam hervorbrachte? Es scheint mir, diese Frage habe auch missionarisches Gewicht. Mit dem Christentum, das den Islam geschaffen hat, überwinden wir ihn nicht. Es gibt keine Mohammedanermission, wenn wir ihm nichts anderes zu geben haben, als was Mohammed von der arabischen Kirche empfing. Die Frage nach der Geschichte des Christentums, die zum Islam hinüberführt, hat eine kirchenhistorische und eine dogmenhistorische Seite. Jene zeigt die Vermittlungen, die vom ersten Jahrhundert her bis ins siebente von Palästina nach Südarabien, von Damaskus, dem Hauran und Petra nach Mekka führen. Ich wende mich aber jetzt zur dogmenhistorischen These, der ich auch für unsere Arbeit im Orient Wichtigkeit zuschreibe, dass die Formation des Christentum, auf die der Islam begründet ist, nicht ein spezifisch arabisches Gebilde war, etwa beschränkt auf eine kleine Gruppe in Mekka, mit der Mohammed vor dem Beginn seiner Weissagungen verkehrte, sondern durch die Gesamtgeschichte des jüdischen Christentums entstanden ist. Zur Beleuchtung der Vorgänge benutzte ich hier, der unumgänglichen Beschränkung gehorsam, vor allem zwei Dokumente. Das eine stammt von einem palästinischen Zeitgenossen Mohammeds, aus dem Kreis derjenigen Juden, die sich besannen, ob sie nicht Mohammed als den Verheißenen anerkennen wollten, dann aber davon zurückgetreten sind. Es ist die Lehre Jakobs, des Neobaptisten, der uns erzählt, wie ein jüdischer Kreis sich in Karthago unter Kaiser Heraklius ca. 634 nach seiner Zwangstaufe das Christentum eingeprägt hat. In die Reichskirche traten diese Juden ein, aber mit ihrem jüdischen Erbe auf Grund ihrer jüdischen Voraussetzungen, so dass wir hier hören, was ein mit Mohammed zeitgenössischer jüdischer Christ als seine Religion besaß. Um den Weg rückwärts zum ersten Jahrhundert zu beleuchten, dazu dient mit lehrreicher Klarheit das Traktat eines syrischen Juden gegen die jüdische Christenheit, den Kelsus im ersten Teil seines „wahren Worts“ reichlich verwertet hat. [Fußnote: Kelsus selbst wird durch die hostorischen Angaben, die sich bei ihm finden, nach Syrien gestellt. Daher wird auch sein jüdischer Gewährsmann dorthin gehören. Nur in Syrien gibt es Raum für eine griechische Polemik gegen die jüdische Kirche. Kelsus selbst sieht auf den Judenmord Hadrians und auf die vollständige Verwüstung des Landes zurück, schreibt also nach Hadrian. Der Rabbiner, dem er folgt, kann schon vor Hadrian geschrieben haben.] Der historische Wert dieser Quelle ist freilich dadurch beschränkt, dass hier nicht ein jüdischer Christ, sondern ein jüdischer Polemiker spricht. Aber auch im Angriff des Polemikers wird sichtbar, wie sich im Zusammenhang der jüdischen Vorstellungen das Christentum dargestellt hat. [Fußnote: Aus der jüdischen Christenheit selbst existieren nur dürftige Fragmente. Am reichhaltigsten ist die Sammlung solcher Fragmente, die sich Origenes aneignete. Die Klementinen stelle ich hier zurück, da sie einen Sondertypus vertreten, Justins Tryphon, da er uns nicht unmittelbar mit dem Orient in Verkehr bringt.]

Die Tradition, die zu Mohammed kam, beschreibt Jesus als den Bringer des Evangeliums, kennt aber die Apostel nicht, weder Petrus noch Paulus. Natürlich weiß er, dass Jesus Jünger hatte; seine Prophetenreihe lautet aber nicht: Adam, Abraham, Mose, Jesus, Petrus, Paulus, sondern hört bei Jesus auf. Gehen wir von der griechischen Reichskirche aus, so ist dieser Tatbestand unerhört. Jesus ohne seine Apostel, ein Evangelium ohne Apostelbriefe, ohne Apostelgeschichte. Das ist nicht nur eine Verkürzung des historischen Sehfelds, sondern eine die ganze Religiosität ergreifende Handlung. Es fehlt der Christus, der durch seine Boten spricht, durch seine Boten die Menschheit beruft und durch ihren Dienst seine Herrschaft ausübt. Es fehlt der Weinstock, der seine Reben erzeugt und durch sie fruchtbar wird. Für die Christenheit, an die sich der Islam anschloss, fiel das ganze Gewicht auf die Frage: „für oder gegen Jesus?“ Der Apostel ist ihr gleichgültig geworden. Hören wir den Zeitgenossen zu, die in Karthago über das Christentum verhandeln und ergründen wollen, ob sie in ihrer Taufe den Gnadenerweis Gottes oder ein Unheil zu erkennen haben. Sie, könnte man erwarten, müssten wir in eifrigem Verkehr mit Paulus finden. Allein er fehlt vollständig. Das Urteil über das Christentum ergibt sich ausschließlich aus dem Urteil über Jesus nach den Evangelien. Einzig das ist die Frage, ob das, was das Evangelium von Jesus sagt, durch das Alte Testament gedeckt werde. Von Jesus handelt das Evangelium; um ihn allein geht der Kampf. Es wird auch nichts von einem Gegensatz gegen Paulus sichtbar, den die in die Kirche tretenden in sich zu überwinden hätten. Er wird weder befragt noch gehasst, sondern ist vergessen. Das war nicht erst im siebenten Jahrhundert so. Wenn sich ein jüdischer Lehrer an die Volksgenossen, die sich zu Jesus halten, wendet, könnte man wieder erwarten, dass Paulus in seinen Erörterungen sehr sichtbar hervortrete, vielleicht als Gegenstand grimmigen Hasses, vielleicht durch wilde Karikatur etwa im Stil der Pantherageschichte entstellt. Wir finden aber nichts als vollständiges Schweigen, das sich bei Kelsus auch in den selbstständigen Teilen seines Buches fortsetzt. Er hatte keine Kenntnis von Paulus. Das einzige, was von ihm sichtbar wird, ist in dem Satz enthalten, die Christen führten beständig das Wort im Mund: „ Ich bin der Welt gekreuzigt.“ Somit ist Paulus in der Kirche, gegen die Kelsus kämpft, zwar gegenwärtig; aber seine religiöse Bedeutung wurde weder seinem jüdischen Vorgänger noch ihm selber wahrnehmbar. [Fußnoten: Vgl. Justin. Die Klementinen, die sich ein Gegenapostolat gegen das Apostolat der Kirche durch die legendäre Verherrlichung des Jakobus und des Petrus konstruieren, stehen hier für sich und zeigen nicht den regierenden Typus der jüdischen Christenheit. Mit dieser Tradition steht der Koran nicht in Berührung: er kennt keine mit dem Apostolat der Kirche rivalisierende Legendenbildung, sondern der Apostel fehlt ganz.]

Damit steht ein wichtiger Faktor auf dem Weg der jüdischen Christenheit zum Islam vor uns. Sie stieß sich am Gang der Geschichte, durch die aus der Mutterkirche die griechische Kirche geworden war, und vergaß die Apostel, zuerst Paulus, hernach die Apostel, und dies wurde durch die legendäre Umformung des Petrus und Jakobus nur gefördert, nicht gehindert. [Fußnote: Vgl. schon die Umdichtung der Ostergeschichte im Hebräerevangelium des Hieronymus.] Sie war sein Ersatz für den dankbaren Anschluss an das von den Aposteln vollbrachte Werk und an das von den Aposteln gesagte Wort.

Dabei ist bedeutsam, dass die Ausscheidung des Paulus nicht auch die des Johannes herbeigeführt hat. Auch im Evangelium, von dem Mohammed hörte, ist die Einwirkung des Johannes sichtbar; denn er heißt Jesus das Wort Gottes. Kelsus bestätigt dies; obgleich er Johannes nur soweit kennt, als ihn die Evangelien sichtbar machen, schreibt er der jüdischen Christenheit das Bekenntnis zur Gottheit Jesu zu auch in der johannschen Form: Jesus sei das göttliche Wort. Das zeigt, dass nicht die Christologie des Paulus, sondern sein missionarisches Werk die Trennung von ihm bewirkt hat. Die Griechenkirche war das, wovon sich der jüdische Christ schied.

Durch die Trennung Jesu von den Aposteln wird seine Geschichte ausschließlich zu einem Teil der Geschichte Israels. Mohammed kennt Jesus nur als einen zu den Söhnen Israels gesendeten Propheten. In einer Christenheit, die den Anschluss an Jesus ohne Trennung von Israel vollzog, trat die Trennung vom Apostolat unvermeintlich ein.

Sie hat aber noch einen tieferen Grund als einzig den Konflikt mit dem nationalen Ideal und entsteht nicht nur aus der Energie, mit der die Israel gegebene Verheißung ergriffen wird. Der Christus, der durch die Apostel wirksam wird, ist in die Geschichte hineingesetzt und wird ihr Glied. Das streitet mit dem supranaturalen Machtideal, dass sich aus dem Gottesbewusstsein auf den Christus überträgt. Diese verlangt, dass der Christus allein alles sagt und allein alles tut, er bedarf keiner Gehilfen.

Da der Apostel fehlt, fehlt die Kirche. Das vom Propheten verkündete Gesetz unterwirft sich zwar alle und vereint sie im selben Bekenntnis und im selben Ritus. Aber eine Gemeinde, die ein Eigenleben hätte, einen eigenen Beruf besäße und ein Werk auf Erden auszuführen berufen wäre, entsteht nicht. Die Aufgabe der Gläubigen ist erschöpft, wenn sie das Bekenntnis, das ihnen der Prophet vorsagte, wiederholen und das Recht, das er ihnen setzte, vollstrecken. Dadurch bereiten sie sich für das kommende Gericht und empfangen dann für ihre Erfüllung des Gesetzes das selige Leben. Darum findet sich kein Ansatz zur Unterscheidung der natürlichen und der religiösen Gemeinschaft, des Staates und der Kirche. Der Islam steht vollständig auf der jüdischen Stufe: Staat und Kirche sind eins. Darum brachte er auch keine Konkurrenzbildungen zur Kirche hervor, nichts, was als Nachahmung des Episkopats gedeutet werden könnte, nichts, was an die Eucharistie erinnerte. Es bleibt unerkennbar, ob die arabischen Christen die Eucharistie hatten. [Fußnote: Mohammed hat gehört, daß Jesus einen Tisch vom Himmel herabgebracht habe. In der Sunna überwiegen aber bei der Deutung dieses Satzes konfuse Erinnerungen an das Speisungswunder.]

Wieder verdeutlicht uns Jakob diesen Stand der Dinge, dessen innerer Zusammenhang mit der regierenden Norm, mit der nomistischen Begründung unseres Anteils an Gott, unverkennbar ist. Richtet Jakob, wenn er ein Urteil über Jesus gewinnen will, seinen Blick auf die Kirche? Ist nicht sie das Werk Jesu, das, was ihn bezeugt und offenbart, die Versichtbarung seiner Gnade, das Dokument seiner Gegenwart? In völliger Abgeschiedenheit von der Kirche sucht jener Kreis in Karthago sich zur Annahme des Christentums zu bewegen. Das einzige, was die Kirche dabei zu tun hat, ist, dass sie ihnen die Evangelien verschafft, die sie nun mit dem Alten Testament vergleichen. Aus diesem schöpfen sie nun selbst den Schriftbeweis für das Christentum. [Fußnote: In diesem Schriftbeweis erscheint teilweise altes Gut, Auslegungen, die schon bei Irenäus oder Eusebius erscheinen. Aber diese Zusammenhänge bleiben völlig zugedeckt. Die Auslegungen treten in absoluter Zeitlosigkeit als ewige Wahrheiten auf, die keines Urhebers bedürfen.] Auch nicht als Anstoß wird die Kirche wirksam, obgleich sie in das Leben dieser Juden gewalttätig eingegriffen hat. Davon wird aber das Urteil über Jesus nicht beeinflusst. Vom Dogma und Mysterium der Kirche wird nun so gesprochen, dass es in stummer Verehrung übernommen wird. Zum Grund eines religiösen Willens wird es nicht, weder zum Grund des Zweifels noch der Zustimmung.

Der Mann, der Kelsus die Waffen schmiedete, war durch die Volksgemeinschaft, die die jüdischen Christen mit ihm verband, veranlasst, zu ihnen zu sprechen. Sie sind seine „Mitbürger“. Er wird damit schwerlich etwas auf sie übertragen, was sie selber ablehnten. Auch sie wussten sich nach diesem Bericht als die Mitbürger dieses Rabbinats. Über ihre eigene Gemeinde hören wir nichts, nur das sie verfolgt sind, was sie widerlegt, und das man ihre Liebe rühmt; diese sei aber nur Schein, nur sektenhafte Parteisucht, also nur verhüllter Eigennutz. So sind ihre Meinungen über Jesus der einzige Gegenstand, der zur Verhandlung kommt; das ist das, was sie von den anderen Juden trennt und miteinander vereint.

Die Schwächung der Gemeinde war nicht nur ein Kennzeichen der jüdischen Christenheit, sondern erfolgte im zweiten Jahrhundert allmählich im ganzen Gebiet der Reichskirche. Überall verwandeln sich sie Gemeinden des Anfangs in die Zuhörerscharen, die die Unterweisungen des Episkopats willig empfangen und durch die Gemeinsamkeit der religiösen Sitte verbunden sind. Schon Origenes hat die Methode, nach der Jakob arbeitet, als erfolgreich gerühmt und gegen den jüdischen Gegner gesagt, er könne sein Judentum nicht beweisen, während Origenes das Christentum beweisen könne durch das Zeugnis des Alten Testaments. Damit ist aber auf die Kirche als auf das Werk des Christus verzichtet; sein Werk endet mit seinem Tod. Die Ursachen, die die Schwächung der Gemeinde herbeiführen, fanden sich auf der griechischen Seite im Tiefstand der hellenischen Sozietät, auf der christlichen in der Höhe der apostolischen Ethik, die über die natürlichen Motive völlig hinausgriff und darum einer nomistisch gefassten Kirchenordnung weichen muss. Auf dem judenchristlichen Gebiet wirkt außerdem noch die Schwere des Kampfes in dieser Richtung. Die jüdische Christenheit stand nicht nur unter dem geistigen Druck, der das neue Gebilde einer allgewaltigen Tradition assimilierte, sondern wurde von allen Machtmitteln des Judentums getroffen und zu einer kleinen und bedrückten Schar gemacht. Mochten sie durch ihre Sondermeinungen fest unter sich verbunden sein, so wagten sie doch nicht mehr, auf sich selbst hinzuzeigen als auf das Werk des Christus, in dem sich seine Macht und Gnade offenbare.

Wo die Apostel und die Kirche fehlen, da fehlt notwendig auch der Geist. Darum erhielt Mohammed den Inspirationsbegriff nur in seiner vorchristlichen Gestalt, so dass die Inspiration den Propheten völlig passiv macht. Sie tritt durch den Engel Gabriel ein. Nicht im Propheten entsteht das heilige Buch; es wird in ihn hineingesprochen. Darum wird der abnorme Vorgang, der das Bewusstsein unterbricht, zum Merkmal der Inspiration. Die Anbietung des Geistes verschwindet folglich aus dem Evangelium. Zwar hat Mohammed wahrscheinlich gehört, dass Jesus den Parakleten verheißen habe. Die Verheißung wird aber auf einen neuen Propheten gedeutet und von Mohammed natürlich auf sich bezogen. Das gibt dem Glauben die Fassung. Er wird zur Annahme des von Gott Gesagten, und das Bekenntnis zur Wiederholung der geoffenbarten Formel. Er verliert jede individuelle Färbung, jede Beziehung zur Geschichte des Bekennenden und erstarrt in vollständiger Zeitlosigkeit. So beschränkt sich der Offenbarungsvorgang auf den einen Moment, auf die Wirksamkeit des Propheten. Dass die Gläubigen auch später der Regierung bedürfen, bleibt freilich deutlich. Daher entsteht das Kalifat, weil das Gesetz den Regenten verlangt, der es handhabt. Der Nachfolger des Propheten verwaltet aber nur das vorhandene Recht, und seine Auslegung besorgt ein Spruch der Gelehrten. Die Erhaltung des Islam geschah somit dadurch, dass ein genaues Gegenstück zum Rabbinat entstand.

Dazu gibt der von Jakob beschriebene Kreis wieder die Parallele. Sie forschen eifrig nach dem Sinn der Schrift, ob sie auf Jesus gehe; aber sie selbst sind dabei die Forschenden und Urteilenden, die Weisen. Daneben stehen Vorgänge, die ihnen die göttliche Leitung vermitteln, die nicht nur ihr Schicksal, sondern auch ihr innwendiges Leben erfasst. Diese Ereignisse bestehen in Träumen und Gesichten, in vereinzelten Erlebnissen, die das Merkmal des Göttlichen deshalb besitzen, weil sie ungewöhnlich sind. Das war das Gegenteil zur neutestamentlichen Anbietung des Geistes.

Die Vorgänge in der Reichskirche bilden dazu eine Parallele, da auch sie die Anbietung des Geistes als Bestandteil des Evangeliums nicht festhielt. Sie schloss den Geist in das Sakrament und in das Amt. Aber auch durch diese verkürzte Erwartung des Geistes wurde die Gemeinde doch immer wieder an ihn erinnert, und sie konnte ihn, da Paulus der Lehrer der Kirche blieb, nie ganz vergessen. Auf der judenchristlichen Seite dagegen, auf der das Amt und das Sakrament zurücktreten, bestand sie Offenbarung des Geistes nur noch in Inspirationen, die das seelische Leben unterbrechen.

Der eine, den Gott zu allen sendet, ist somit der Lehrer, und deshalb ist er der Herr. Denn seine Lehre verkündet den göttlichen Willen, das heilige Gesetz. Der Offenbarer Gottes ist der Sprecher seines gebietenden Wortes. Darin wird gar kein griechischer Einfluss sichtbar. Denn diese Schätzung des Wortes entsteht nicht aus der Überordnung der Erkenntnis über allen anderen Funktionen, und die Erkenntnis entsteht nicht aus der Frage nach den Ursachen und sucht nicht „Prinzipien“. Die Zusammenhänge, die zur Judenschaft hinüberführen, sind dagegen auch an dieser Stelle völlig deutlich. Wem gehört der Titel „Herr“, Rab, mit einer ihn über allen erhebenden Geltung? Dem Lehrer. Und warum dem Lehrer? Seine Lehre zeigt, was wir nach Gottes Willen zu tun haben, und das gibt ihm die Macht.

Was fehlt in diesem Christusbild? Der Sohn, dessen eigenes, inwendiges Leben in der Gemeinschaft mit Gott begründet ist. Er wirkt nach außen durch das von ihm verkündete Wort; eine ihm selbst mit Gott einigende Gemeinschaft gibt es für ihn nicht. Mohammed wies die Beschreibung Jesu als des Sohnes Gottes ab, und da er gleichzeitig die Formeln „Geist“ und „Wort“ zur Benennung der Würde Jesu verwendet, ist es wahrscheinlich, dass er auch hierin der ihn erreichenden Tradition gehorsam war. Das entspricht auch der Überlieferung der Reichskirche, die vom jüdischen Christent um sagt, dass es die Gottessohnschaft Jesu abgewiesen habe. [Fußnote: Mit der nizänischen Trinität stand Mohammed in keiner Berührung. Die Trinität, die er kennt und verwirft, ist Gott, Jesus, Maria.]

Da sich der Kreis Jakobs der Reichskirche anschloss, übernahm er das trinitarische Dogma, ohne das es keine Zugehörigkeit zur Kirche gab. Es bleibt aber für ihn ein unberührbares Geheimnis, dass chweigend angenommen wird. Der Kampf geht einzig um die Geschichte Jesu, ob sie Gottes Offenbarung sei. Wodurch ist sie es? Nicht durch das, was geschieht, nicht durch Gottes Gegenwart in Jesus, die sein Leben erzeugt und in seinem Wort und Werk erkennbar wird, sondern deshalb, weil diese Ereignisse geweissagt sind. So wird das, was die Evangelien von Jesus erzählen, zum wunderbaren Zeichen, und der Gesetzgeber erlangt dadurch, dass das Geweissagte an ihm und von ihm geschieht, die Autorität. So dient nun sogar das Kreuz dem Ziel Jesu, weil es als geweissagt zum „Zeichen“ wird. Damit war aber Jesu eigener Anteil an Gott aus der Reihe der die Religion begründenden Faktoren gestrichen; seine Gottessohnschaft wird gleichgültig.

Die Lage, die der Polemiker uns sichtbar macht, ist davon noch charakteristisch verschieden und gibt doch zugleich den Schlüssel zu dieser Wendung der religiösen Geschichte. Die jüdische Christenheit, die er bekämpft, bekennt sich zur Gottessohnschaft Jesu, und eben sie gibt der Geschichte Jesu ihre den Weltbestand umwendende Macht. Darum richtet auch der Polemiker auf diese Geschichte seine Aufmerksamkeit Er misst sie am Machtideal des gesalbten Herrschers, und dadurch zerbricht sie und wird zur Widerlegung Jesu. Die Leistungen dieser Kritik imponieren durch ihre intellektuelle Stärke; sie stehen nicht hinter Reimarus und Strauß zurück, und sie setzten sich durch Jahrhunderte fort. [Fußnote: Es ist schwerlich bedeutungslos, daß Porphyr aus der Batanaia stammte, somit seine Jugend in der Gegend verlebte, in der es damals noch jüdisch-christliche Gemeinden gab, somit auch noch der Kampf zwischen Rabbinat und ihnen im Gang war. Bei Jakob wird sichtbar, daß der Zwiespalt zwischen den Geschlechtsregistern Jesu in der Judenschaft mit Eifer erörtert wurde, auch dies ein altes Thema der jüdischen Evangelienkritik, vgl. Julius Afrikanus in Emmaus.] Damit haben wir vor uns, was die jüdische Christenheit bedrängte und ihren Blick auf Jesus verdunkelte. Seine Geschichte ist beschmutzt, zerzaust, zertreten, und wo der kritische Scharfsinn nicht ausreichte, half die gehässige Legende nach. Wird der Gemeinde Jesu Geschichte dunkel, so bleibt ihr doch sein Wort, das neue Gesetz, das ihr im Gegensatz zum alten Gesetz die Gott wohlgefällige Sitte zeigt.

Der Streit bekam beim Ende Jesu die größte Schärfe. Dass im Koran beides steht, dass Jesus getötet wurde und dass er nicht getötet wurde, zeigt, dass die Meinungen der Christen in der Nähe Mohammeds an dieser Stelle schwankten. Dass er nicht getötet sei, wird in der Sunna dadurch erklärt, dass ein anderer an seiner Stelle an das Kreuz gehängt worden sei. Das reicht nicht aus, um gnostische Tendenzen zu belegen. Der Anstoß am Kreuz äußert sich beim Gewährsmann des Kelsus in ergreifender Leidenschaftlichkeit, und die von der Verwechslungstheorie vorgeschlagene Beseitigung der Schwierigkeit hat ihre Vorbildung im Midrasch.

Mit der Geschichte Jesu verklang auch sein Wort. Die Verwendung von Gnomen Jesu ist bei Mohammed auffallend spärlich. Die von der Sunna ihm zugeschriebene Deutung des Gleichnisses von den Arbeitern, die zu verschiedener Zeit berufen werden, darf vielleicht als echt gelten: die am Morgen Berufenen sind die Juden, die am Mittag berufenen die Christen, die zur elften Stunde Berufenen und mit doppeltem Lohn Begabten sind die Muslime. Wie die Erzählungen über Jesus vom Wirbel des Midrasch ergriffen wurden, so hängte sich zersetzend an seine Worte die Allegorie.

Hatten die arabischen Schriften überhaupt noch ein geschriebenes Evangelium? Das freilich steht fest, dass Jesus das Evangelium brachte, und dass dieses ein heiliges Buch ist. Aber die Erinnerungen, die zu Mohammed gelangen, sind so wirr, dass es unwahrscheinlich ist, dass diese Christen noch ein Evangelium besaßen. Ebenso wenig wird die Thora sichtbar. Es scheint, diese Christenheit lebte ohne Schrift, nur von der Sitte, nur von der von Geschlecht zu Geschlecht zäh festgehaltenen Tradition. Weil man zwar weiß, dass Jesus ein neues Wort Gottes brachte, und dass es aufgeschrieben worden sei, selber aber dieses Buch nicht mehr besitzt, so entsteht der Raum zu einem neuen heiligen Buch, ohne dass ihm literarische Beziehungen sichtbar würden, die zu Matthäus oder zur Thora hinüberführten. [Fußnote: Die nächsten Parallelen zum Neuen Testament "Kamel durch das Nadelloch" und "was kein Auge sah, kein Ohr hörte und nicht in eines Menschen Herz kam", sind Formeln, die auch unabhängig vom Neuen Testament im jüdischen Kreis erscheinen.]

So erklärt sich auch der dürftige Inhalt des Worts, das hier im Namen Gottes verkündet wird. Nirgends wird ein Fortschritt über die jüdische Thora hinaus erreicht, die Stück um Stück als Vorbild dient. Die Neuerung besteht nur in der Umstellung ihrer Satzungen. Der siebente Tag bleibt, nur an einem anderen Tag. Die Gebetsstunde mit der genau geregelten Proskynese und mit der vorgeschriebenen Richtung des Gesichtes bleibt; aber die Gebetsformel ist eine andere, und die Richtung des Gesichts wird verändert. Die Gottesdienstordnung, Lesung der Schrift, Predigt und Gebet, bleibt, jetzt aber mit dem neuen Buch. Der Gräberkult, die Fastenzeit bleiben, und auch das Weinverbot, das in seiner Ausdehnung auf die ganze Gemeinde eine Neuerung war, hat im Verbot des Weines für die Priester während ihrer Dienstzeit eine Vorbildung. Dieses Verfahren hat aber keine weit zurückreichende Vorgeschichte. Es gilt auch Jakob, dem Neobaptisten, als selbstverständlich. Jesus hat die Sabbatfeier verboten und dafür den Sonntag eingesetzt, die Beschneidung abgeschafft, dafür aber die Taufe geboten. Das Alter dieses Gedankenganges zeigt die „Lehre der zwölf Apostel“ mit ihrer Verfügung, dass die drei Gebetszeiten bleiben, aber nicht mit dem jüdischen Gebet, sondern mit dem Unser Vater, und dass die beiden Stationstage bleiben, jedoch an anderen Tagen, wie die Woche blieb, jedoch mit einem neuen heiligen Tag. Die Gemeinde legte darauf Gewicht, dass sich ihre Sitte von der jüdischen unterscheide, damit ihr Abstand vom Judentum deutlich sei, und erreichte dies trotz der Fortsetzung der jüdischen Ordnungen dadurch, dass sie an ihnen eine Veränderung vornahm.

Neben der Lehre Jesu, die der Christenheit ihre besondere Sitte gab, stand die Hoffnung auf seine Wiederkunft. Darin hat sie freilich einen verdünnten Zusammenhang mit ihrem Anfang bewahrt und sichtbar gemacht, dass ihr Jesus als der Christus galt. Jesu Gesetz und Eschatologie, das Dokument, das uns diesen religiösen Typus zuerst zeigt, ist schon „die Lehre der Apostel“.

Die Vorgänge, die sich unserer Wahrnehmung zeigten, verdeutlichen, was hier dem Gottesgedanken die Füllung gab. Er wohnte mit Kraft in dieser Schar; sonst hätte sie sich nicht in ihrem schweren Kampf durch die Jahrhunderte hindurch erhalten. Mag die Unbeweglichkeit des Orients, der Überkommenes nicht mehr zu verlieren vermag, mitwirken - auch das Samaritertum, immer eine schwächliche Religion, hat sich bis zur Gegenwart gehalten und gnostische Reste vegetierten durch die Jahrhunderte hinab - der Schüler gibt dem Lehrer Zeugnis, und Mohammed hatte ein lebendiges Gottesbewusstsein. Auf der Macht, mit der es ihn ergriff, beruht seine gewaltige Wirkung. Dabei wird auch sein persönliches Erlebnis wirksam; er sagt nicht bloß Gelerntes, sondern von ihm selbst Empfundenes, lebendig Angeeignetes, und wir können nicht genau scheiden, was er bekam und was er erwarb. Aber auch wenn wir dies alles sorgsam abwägen, so bleibt doch unbestreitbar, dass der judenchristlichen Gruppe religiöse Kraft eigen war. Der verächtliche Ton, mit dem in unserer theologischen Überlieferung vom Judenchristentum, vom „Ebionitismus“ gesprochen wird, ehrt sie nicht.

Das entscheidende Merkmal im Gottesbild ist Gottes Macht. Auch seine Gerechtigkeit und seine Gnade sind der Ausfluss seiner unbegrenzten Macht. Das entfernt das göttliche Wirken von der Geschichte und gibt der Fassung des Worts, die in ihm das Gesetz vernimmt, den sie gebieterisch fordernden Grund. Aus dieser tiefsten Stelle ist der Anschluss an die ältere Religionsgeschichte wieder völlig klar. Der jüdische Kritiker des Judenchristentums zerbricht das Evangelium durch die Berufung auf Gottes Macht. An ihr gemessen wird Jesu Geschichte verächtlich als ein Misserfolg, mit den paar armseligen Jüngern, die er zu gewinnen vermochte, und mit seinem Kreuz. Dem Neobaptisten wurde dagegen Jesu Geschichte deshalb glaubhaft, weil er sie als geweissagt erkennt. Die Verkündigung der Weissagung und ihre Erfüllung ist aber der Erweis der göttlichen Macht. Nach seinem Bericht haben die Juden von Tiberias Mohammed deshalb abgelehnt, weil er mit dem Schwert arbeitete. Das ergibt aber keine Entfernung von dem das Gottesbewusstsein beherrschenden Gedanken. Denn damit wurde nur jene Entscheidung festgehalten, mit der sich der Pharisäismus von den Hasmonäern getrennt hat. Nachdem diese im Bereich des heiligen Landes die gewaltsame Bekehrung der Bevölkerung betrieben hatten, schied sich der Pharisäismus von dieser Praxis seines Supranaturalismus wegen. Er vertrat den Satz, dass Gott nicht das menschliche Schwert brauche, und dass der Christus, von der Macht Gottes getragen, die Überwindung der Welt bewirken werde. Diese Trennung entstand nur an der Weise, wie sich die göttliche Macht offenbaren soll.

Weil der alte Gottesgedanke weiterlebte, war auch die Not, die den jüdischen Gottesgedanken bedrängt, die Spaltung zwischen dem Recht und der Gnade, nicht zu überwinden. Das sie einigende Band findet sich nur in der schrankenlosen Macht. Ob das Recht vollzogen wird oder die Barmherzigkeit vergebend waltet, steht bei dem, dessen Wille der letzte Grund für alles Geschehen ist. Das ergibt die Schwankung in der Ethik, den Riss durch die Verpflichtung im Namen der vergebenden Barmherzigkeit, den Riss durch die Barmherzigkeit im Namen des Gottes Macht offenbarenden Gerichts.

Die Entfernung des christlichen vom jüdischen Gottesgedanken an dieser Stelle ist von Jesus selbst bewirkt worden. Sie trat typisch in der Nacht vor dem Karfreitag ans Licht, als der Hohepriester Jesus deshalb einen Gotteslästerer hieß, weil er sich in Banden den Sohn Gottes nannte.

Wir suchten uns zu verdeutlichen, wie die Christenheit war, aus der der Islam entstand. Wie muss die Christenheit sein, die ihm überlegen ist und ihm zu helfen vermag? Sie muss Paulus kennen. Mit einem Christentum nach der Formel: „Nicht Paulus, sondern Jesus, nicht der Römerbrief, sondern die Bergpredigt“, helfen wir dem Islam nicht. Nomismus wird nicht durch Nomismus überwunden Der Gott der Macht wird nur vom Gott der Gnade überstrahlt, und die uns korrumpierende Gerechtigkeit nur durch die Gerechtigkeit des Glaubens geheilt. Kennt die Christenheit Paulus, dann ist sie der Gabe Jesu teilhaft, erlöst von der Willenlosigkeit der bloßen Abhängigkeit, fruchtbar, zum Dienst fähig als die Rebe, die des Weinstocks Leben offenbart. Dann weiß sie, was Geist ist und was „im Geist wandeln“ heißt. So ist sie auch über den Gegensatz zwischen dem historischen und dem ewigen Christus emporgehoben, bei dem der historische der Vergangenheit und Vergessenheit verfällt und der ewige als unfassliches Geheimnis die Beziehung zu uns verliert und, wie die Sunna von ihm sagt, beflügelt um den Thron Gottes fliegt. Als im Herrn lebend vermag sie dann zu zeigen, dass es für uns eine Geschichte gibt, die in Gott ihren Grund besitzt.

Die Lage ist ernst. Der katholische Teil der Christenheit unterlag im siebenten Jahrhundert dem Islam und ist auch heute zum Kampf schlecht gerüstet. Die Arbeit liegt bei uns, bei den Kirchen der deutschen Reformation, bei der freien Kirche der Glaubensgerechtigkeit.