Hülfe in Bibelnot Kapitel 20: Der Weg zur Bibel Wer Jesus kennenlernen will, der muß die Bibel lesen. Wie macht man das? Nimm und lies. Die Bibel ist der Besitz aller, allen als kostbares Eigentum übergeben, und der Weg zu ihr ist frei für jeden, der sie hören und mit ihr verkehren will. Sie verlangt nichts von uns, keine Vorbereitung, keine besondere Veranlagung, keine Wissenschaft, die wir uns zuerst auf anderen Wegen erwerben müßten. Denn die Bibel ist dasjenige Wort, das für alle gesagt ist und von jedem gehört sein will, weil jeder es zum Leben braucht. Ihre menschheitliche Geltung und unbeschränkte Verbreitung kommt der Bibel deshalb zu, weil sie das Wort Gottes zu uns trägt. Gott ist unser aller Schöpfer; jeder von uns ist das Werk seiner Hand, und jeder von uns ist nicht nur durch das natürliche Band an ihn gebunden, sondern ist ihm verpflichtet; denn jeder steht unter Gottes Gesetz und Regiment. Ebenso tief und hoch und weit und groß wie Gottes Schöpfermacht ist aber auch seine Gnade, das heißt derjenige Wille Gottes, der uns in unserem eigenen persönlichen Leben mit den Gaben der göttlichen Güte beschenkt. Wir alle dürfen ihn kennen, dürfen seinen Willen so vernehmen, daß wir ihm gehorchen, dürfen von dem frei werden, was uns von Gott trennt und verdirbt, dürfen für ihn leben und seine herrliche Größe verkünden in Wort und Tat. Auch dies ist nicht nur das Ziel für eine besondere Gruppe von Menschen, etwa für die Müßigen, die nicht durch Arbeit um die Lebensmittel ringen müssen, oder für die Gebildeten, die ihre geistigen Fähigkeiten an den natürlichen Erkenntnisgebieten entwickelt haben, oder für eigenartig Veranlagte, die in sich ohne Mühe eine andächtige, gesammelte Stimmung zu erwecken vermögen. Solche Gedanken vergehen uns völlig, sowie wir die Bibel öffnen, da sie uns zu Jesus führt. Er aber tritt in die Welt hinein, ist zur Menschheit gesandt, lebt und stirbt für alle und geht darum an das Kreuz, damit er für alle sichtbar sei, jedes Auge ihn finde und jeder erkenne, wie es mit ihm und seinem Verhältnis zu Gott stehe. Die von Jesus uns gebrachte Gnade ist für uns alle bestimmt. Also nimm und lies. Ist es aber nicht ein offenkundiger Tatbestand, daß es eine höchst schwierige Sache ist, die Bibel zu lesen? Sie wurde in allen Zeiten der Kirche ununterbrochen gelesen, jedenfalls von allen, die in die kirchlichen Ämter berufen waren, und doch steht sie heute noch hoch über dem, was sich die Christenheit in ihrer Erkenntnis und ihrem Leben aus ihr angeeignet hat. Ist es nicht zur allgemeinen Rede geworden, daß keiner in der Bibel dasselbe finde wie die anderen, weil jeder nur das in ihr lese, was er selbst schon meine? Wissen nicht viele unter uns von vergeblichen Versuchen zu berichten, den Zugang zur Bibel zu finden, weil sie ihnen nichts sagte, was für sie verständlich und brauchbar war? Das ist freilich sonnenklar, wir unternehmen etwas Großes, wenn wir die Bibel öffnen. Ein Spielzeug ist sie nicht, und wer von ihr nur unterhalten sein will, der kann sie nicht lesen. Sie verlangt von uns, damit wir erwerben, was sie uns gibt, redliche Arbeit, anhaltenden Fleiß und tapfere Anstrengung, die auch dann nicht feig zurückweicht, wenn aus unserem Verkehr mit der Schrift ein Kampf entsteht, der uns im Innersten erschüttert. Wir versuchen, wenn wir die Bibel öffnen, zu lesen; können wir das? Das Lesen ist diejenige Art des Hörens, durch die wir das Wort eines anderen dann in uns aufnehmen, wenn es nicht als gesprochenes, sondern als geschriebenes Wort zu uns kommt. Hören, das scheint freilich ein einfacher Vorgang zu sein, der uns leicht gelingen müsse; allein wie schwer wird uns das Hören! Es gibt viele, die es, seit sie der Kindheit entwuchsen, völlig verlernten und nicht mehr zustande bringen. Sie sind einzig mit sich beschäftigt, völlig mit dem angefüllt, was sie in sich selber tragen, und lassen darum das Wort der anderen niemals wirklich zu sich herein. Wir können nicht hören, wenn wir sofort selbst zu reden beginnen. Um zu hören, müssen wir uns von dem befreien, was uns beherrscht, und mit tapferer Entsagung unsere Gedanken und Wünsche wegschieben. Das fällt uns immer schwer und vollends dann, wenn uns Gottes Wort gesagt wird, das Wort dessen, der völlig anders ist und denkt und wirkt als wir. Mancher öffnet die Bibel dann, wenn ihn Unruhe quält. Die Gedanken flattern stürmisch hin und her, und Wunsch ringt mit Wunsch. Ein Riß geht durch sein Inneres und erzeugt heiße Empfindungen, die nach Hilfe suchen. Kann er nun lesen? Wird sein Ohr offen sein für einen anderen, ihm fremden Laut? Ist es nicht völlig mit den Tönen angefüllt, die im eigenen Inneren erklingen? Sollen wir in solcher Lage unsere Bibel verschlossen lassen? Nein! öffne sie, aber wisse: nun fällt es dir schwer, zu lesen; nun sei gegen dich selber auf der Hut. Haben es die leichter, die in satter Behaglichkeit mit sich selber zufrieden sind? Sie haben ihre befestigten Überzeugungen und sind ihres Weges gewiß, vielleicht deshalb, weil sie schon oft die leistungsfähige Tüchtigkeit ihrer Denkkraft erprobt haben. Sollen sie sich nicht auf ihr Urteil verlassen, nicht in ihren Gedanken den Maßstab finden, mit dem sie alles messen, was sie berührt? Nun ist aber ihre Fähigkeit zu lesen in schwerster Gefahr. Sollen deshalb unsere Starken, unsere Vernünftigen, Gebildeten und Wissenden die Bibel beiseite legen? Nein; sie müssen aber wissen: zum Reden bereit und zum Urteil rasch entschlossen, gelangen sie zum Hören nur dann, wenn sie mit ernster Anstrengung sich selber überwinden. Ist für die Wissenden der Weg zur Bibel schmal, so ist er es nicht weniger für die, in denen ein starker Wille lebt. Denn sie haben nur für das, was ihrem Interesse dient, den hellen Blick und die wache Aufmerksamkeit. Schenkt ihnen ihr Beruf ein eifriges Streben, dann sind die natürlichen Interessen das, was alle ihre Kräfte spannt. Aber über diese Anliegen spricht die Bibel nicht mit uns. Darum bleibt sie für die ans Handeln gewohnten Männer und Frauen oft ein kaltes, ja törichtes Wort. Aber dieselbe Not macht unseren Verkehr mit der Schrift auch dann schwierig, wenn uns ein starker religiöser Wille bewegt, das Ringen um die Gewißheit in den letzten Fragen, das theologische Verlangen, das den Blick auf Gott zu einem System von Erkenntnissen ausgestalten möchte, der wehrhafte Eifer, der für die eigenen Überzeugungen oder die unserer Kirche kämpft. Auch dann erleben wir oft, daß jeder selbstische Wille, auch der, der sich im hellen Glanz sicherer Begründung und heiliger Berechtigung vor uns stellt, unser Ohr verschließt und den Weg zur Bibel uns versperrt. Es beginnt in uns Menschen eine wildbewegte Geschichte, wenn wir nach der Bibel greifen. Wer sich verwundert, daß in unserem Verkehr mit ihr viel Törichtes, Verkehrtes und Schädliches entsteht, der kennt den Menschen nicht und weiß nicht, was zwischen Gott und dem Menschen vor sich geht. Wie erreichen wir es, daß unser Verkehr mit der Bibel nicht vergeblich und für uns schädlich sei? „Ihr müßt ihr glauben“, sagten die, die zum Gebrauch der Bibel einluden, „dann bringt euch euer Umgang mit ihr das Heil.“ Hier ist eine sorgsame Überlegung nötig, damit nicht eine helle, schriftmäßige Wahrheit durch dunkle Vorstellungen gehemmt werde. Was sagen wir denen, die dieser Ermahnung erwidern: „Ich kann nicht alles glauben, was in der Bibel steht; Gott ist mir nur ein dunkles Wort und Jesus eine in finsterer Vergangenheit versunkene Gestalt; Wundergeschichten glaube ich nicht, und vieles von dem, was die Bibel über den Menschen sagt, mutet mich verschroben und unpraktisch an!“? Sollen sie die Bibel nicht lesen? Ihnen ist vielmehr zu sagen: gerade ihr sollt sie lesen, und dies steht nicht in eurem Belieben, sondern ist für euch heilige Pflicht. Es ist ein krummes Verfahren, wenn ich das verwerfe, was ich nicht kenne. Will ich die Bibel ablehnen und vielleicht sogar mit leidenschaftlichem Eifer bekämpfen, gut! Ich muß den Mut meiner Überzeugung haben, und das Recht steht mir zu, sie zu verteidigen. Erst aber muß ich hören, was der sagt, den ich verdamme. Bekämpfen und verdammen, ehe dem Widersacher das offene Ohr gewährt worden ist, ist Schande und Schuld. Und wenn in meiner Unfähigkeit zum Glauben die Ahnung lebt, daß ich glauben sollte, und sich die Sehnsucht mit ihr verbindet, daß ich glauben möchte, wie kommt ein solches Ahnen zur Klarheit und ein solcher Wunsch zur Erfüllung? Niemals so, daß ich die Bibel meide und dem göttlichen Wort ausweiche, sondern einzig so, daß ich, so gut ich kann, aber mit gesammeltem Ernst den Versuch mache, ob ich das Wort der Schrift vernehmen kann. Der Glaube steht nicht als die von uns geforderte Bedingung vor unserem Verkehr mit der Schrift. Wir werden nicht gläubig, bevor wir das göttliche Wort empfangen, sondern dadurch, daß wir es empfangen. Dazu ist uns die Schrift gegeben, damit wir gläubig werden, und sie verschafft uns dies dadurch, daß sie uns Jesus zeigt und uns in ihm vor Gottes Gnade stellt. Das ist ein offenkundiger Tatbestand, daß die Bibel dasjenige Buch ist, das uns zum Glauben beruft und ihn uns gewährt. Das ist das Merkzeichen ihrer Herrlichkeit, durch das sie uns sichtbar macht, daß sie von Gott kommt und uns zu Gott führt. Denn ihr Anspruch, den sie an uns richtet, daß sie uns zum Glauben beruft, haftet untrennbar daran, daß sie über Gott mit uns spricht. Gott ist aber nicht nur ein Gegenstand unseres Wissens, nicht ein interessantes, vielleicht das interessanteste, tiefste, größte Objekt für unsere Studien. Wer sich so zu Gott stellt, hat ihn gegen ein Götzenbild vertauscht. Niemals kann unser Anteil an Gott nur in unseren Gedanken bestehen, mit denen wir ihn und sein Wirken zu beschreiben und zu begreifen versuchen. Gott geht nicht nur unseren Verstand oder unser Bewußtsein an. Auf mich sieht Gott, und nach mir greift Gott mit Einschluß alles dessen, was ich bin, nach mir mit allen meinen Kräften. Er spricht „zu meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Seele und meinem ganzen Vermögen“. Wenn ich aus dem, was sein Wort uns zeigt, nicht nur ein Wissen mache und es nicht nur in mein Gedächtnis lege zu gelegentlicher Erinnerung, wenn mich vielmehr sein Wort erfaßt, in mich eingeht und mein Eigentum wird, das in allem, was ich denke und will, wirksam wird, dann habe ich seinem Wort gegeben, was ihm gebührt, und dieser Eingang des Worts in unser Ich, mit dem wir es bejahen, fassen und bewahren, ist derjenige Vorgang, den die Schrift Glauben nennt. Darum entsteht der Glaube nicht vor dem Hören des Worts, sondern er ist die Weise, wie das Hören des Wortes sein Ziel erreicht. Der Anspruch der Bibel an unseren Glauben entsteht daraus, daß sie uns Gottes Werk und Willen zeigt. Darum ist nicht die Kenntnis von Dingen, auch nicht die Aneignung von Lehren oder die Würdigung von Tatsachen, auf die wir unser Handeln gründen, der wesentliche Vorgang, der unser Verhalten zum Glauben macht. Sein entscheidendes Merkmal ist, daß wir in der Schrift Gott hören. Zuerst freilich hören wir durch sie eine große Schar von Menschen, denn Gott spricht so mit uns, daß er sein Wort Menschen gibt, und macht uns seinen Willen durch das wahrnehmbar, was er aus den Menschen macht. Ob wir nun in der Schrift nur die Menschen hören, sicherlich interessante Menschen, geniale Denker und erhabene Charaktere, Stifter von Religion, aber doch nur Menschen, oder ob wir Gott in der Schrift hören, der aus Menschen seine Diener macht, die sein Wort sagen und seinen Willen tun, das ist der entscheidende Vorgang, durch den unser Verhältnis zur Schrift entweder zum Unglauben oder zum Glauben wird. An Menschen können wir uns nicht mit einem Glauben anschließen, der uns ganz unter ihren Einfluß stellt. Die Unterschiede, die unsere Begabung verschieden macht, sind nie so groß, daß wir nicht im Verkehr miteinander gleiches Recht hätten. Auf Menschen dürfen wir uns nicht stützen, an sie uns nicht hingeben. So verlören wir uns selbst und zerbrächen unsere Ehre. Anders wird dagegen unser Verhältnis zur Schrift, wenn sie uns vor Gott stellt. Denn er hat unzweifelhaft ein unbestreitbares, heiliges Recht an uns, und es ist unsere selige Pflicht, uns für ihn zu öffnen, auf ihn zu hören, zu empfangen, was er uns gibt, und mit entschlossenem Willen das zu sein, was er aus uns macht. Um aber von der Verpflichtung zum Glauben richtig zu sprechen, müssen wir ein offenes Ohr für die Bibel haben. — „Du mußt glauben“, das ist die Sprache des Gesetzes, ein forderndes Wort. Ein solches Gebot hat Grund in der Schrift; denn auch sie ist Gesetz, Bezeugung des gebietenden göttlichen Willens, und auch deshalb, weil sie Gesetz ist, ist sie unser kostbarer Schatz und das uns frohmachende Licht. Wie sollten wir nicht danken, wenn uns Gottes für uns gültiger Wille vernehmlich wird? Dies gilt vom Gesetz der Schrift auch dann, wenn es mich zum Glauben verpflichtet. Denn es ist die Versichtbarung der herrlichen Gnade Gottes, daß ich ihm mit ungebrochenem Vertrauen glauben soll. Dennoch wird die Bibel nicht nur verkürzt, sondern gefährlich entstellt, wenn wir aus ihr nur ein Gesetzbuch machen. Denn das göttliche Gebot ist weder ihr erstes noch ihr letztes Wort. Dem Gesetz voran geht Gottes schaffendes Wort, durch das er uns mit seinen Gaben beschenkt. Daraus entsteht für uns erst die Möglichkeit, daß wir seine Gaben mißbrauchen. Erst müssen wir das Gute empfangen haben; dann erst können wir aus dem Guten Böses machen. Das Gesetz ist aber auch nicht das letzte Wort der Bibel, sondern auf das Gesetz, das Schuld und Tod auf uns legt, folgt das neue göttliche Wort, das uns mit Gott versöhnt, folgt die Vergebung, das Auferstehen aus Schuld und Tod, der Christus, in dem wir für Gott geheiligt sind. Die Schrift gibt uns also nicht nur das Gebot: „Du mußt glauben!“, sondern sie zeigt uns auch den Glaubensgrund, und nur in dem Maß, als uns der Glaubensgrund sichtbar wird, wird aus unserer Verschlossenheit für die Schrift Unglaube. Die Christenheit hat ihren Verkehr mit der Schrift oft dadurch unfruchtbar gemacht, daß sie sie nur als Gesetzbuch behandelt hat, dem man eine angstvolle Verehrung erwies. Das ergab jenen Gebrauch der Bibel, bei dem sie zwar mit pünktlicher Regelmäßigkeit und ehrfürchtiger Scheu gelesen wurde, aber ohne Bemühung, sie zu verstehen. Wir brauchen kein religiöses Verhalten zu schelten, auch dann nicht, wenn es nicht mehr in sich hat als die scheue Furcht vor dem Heiligen. Das muß aber deutlich bleiben, daß ein solcher Gebrauch der Schrift nicht aus Glauben entsteht und das geöffnete Ohr für das Zeugnis der Schrift von der göttlichen Gnade noch nicht empfangen hat. Darum ist es in keiner Weise verwunderlich, daß sich mit einer solchen Verehrung der Schrift eine Menge von Gedanken und Taten verbinden konnte, die mit der Bibel völlig unvereinbar blieben. So oft z. B. an der Bibel Zank entstand, war dies ein deutliches Zeichen, daß sie nur als Gesetzbuch verwendet wurde; das heißt aber, daß sie zwar gelesen wurde, aber unverstanden blieb. Das nächste Ziel, zu dem unser Hören und Lesen gelangen muß, ist das Verstehen; und damit ist der erste Schritt getan, der uns zum Glauben führt. Was heißt das: „verstehen“? Das, was uns der Redende sagt, und das, was wir in uns selber finden, wächst zusammen. Es findet eine Einigung statt zwischen dem neuen Gedanken und dem, was schon vorher unser Besitz gewesen ist. Es wird uns sichtbar, daß das, was uns gegeben wird, mit dem übereinstimmt, was schon in uns als Gewißheit befestigt war, und dadurch erhält der neue Gedanke auch seinerseits Festigkeit. Darum bleibt uns vieles in der Bibel unverständlich, weil es in unserem eigenen Sehfeld nichts Ähnliches gibt, das wir mit dem, wovon die Schrift spricht, verbinden könnten. Die Unterschiede, die dadurch zwischen uns entstehen, heben aber die Gemeinsamkeit zwischen uns nicht auf. Keinem bleibt alles in der Schrift dunkel; denn sie stellt die Menschen, die sie uns zeigt, in helles Licht, und das Menschliche ist uns allen vertraut und bleibt uns auch dann verständlich, wenn es eine uns fremde Gestalt trägt und mit einer anderen Sprache zu uns spricht. Ebenso gewiß ist es, daß für jeden vieles in der Bibel dunkel bleibt. Keiner kann sie ganz verstehen, schon deshalb nicht, weil uns die vollständige Erkenntnis von keiner Stelle erreichbar ist, auch nicht bei denjenigen Vorgängen, die an uns selbst geschehen. Niemals erfassen wir das, was geschieht, nach allen seinen Bedingungen und in seinem ganzen Verlauf. Die entscheidende Frage ist aber nicht die, ob wir die Heimat kennen, in der Israel und die erste Christenheit gelebt haben, und uns ihre Gewohnheiten und Erlebnisse zu verdeutlichen vermögen, sondern ob wir imstande sind, das eine große Hauptwort der Bibel zu verstehen, das uns Gott bezeugt. Das setzt voraus, daß in uns selbst etwas vorhanden sei, was mit dem Zeugnis der Bibel von Gott zusammenklingt, daß sich auch uns die Natur so zeige, daß das den Schöpfer verkündende Wort für uns Sinn und Inhalt bekommt, daß Gottes Gesetz auch in uns wirksam sei und das Gute vom Bösen scheide, daß Gottes Gnade, die uns unser Ziel darin zeigt, daß wir für Gott leben, mit dem zusammenstimme, was sich in uns selber regt und unsere tiefste Not und unser höchstes Verlangen ausmacht. Die Bibel hat aber dafür in reichster Erfahrung den Beweis geführt, daß sie imstande ist, die Erinnerung an Gott in uns zu erwecken und Gottes Gesetz so zu zeigen, daß unser Gewissen erwacht, und uns die gnädige Gabe Gottes so zu verleihen, daß sie zur Kraft unseres Lebens wird. Gelegenheit zur Arbeit ist das frohmachende Geschenk, das uns mit jeder göttlichen Gabe zuteil wird. Auch das Verständnis der Schrift erfordert Arbeit und wird uns nicht mühelos zuteil. Den Übergang aus der Zerstreutheit in die Sammlung, aus der Gebundenheit an die eigenen Interessen und Stimmungen zur aufmerksamen Aufgeschlossenheit für das biblische Wort bereitet uns ein Entschluß, ein tapferer Wille, der unsere Unlust bezwingt. Dabei ist die Hilfe, die uns die Gewöhnung leistet, nicht geringzuschätzen. Es hat großen Wert, daß wir mit fester Regel Stunden des Tages oder der Woche für unseren Verkehr mit der Schrift freihalten. Da alles in unserem Leben zu einer starken Einheit verknüpft ist, wird auch das, was wir im Verkehr mit den Menschen im Anteil an unserem Volk und im Zusammenleben mit unserer Kirche erarbeiten, für unseren Verkehr mit der Schrift fruchtbar. Aus der Arbeit entsteht Erwerb, zunehmende Vertrautheit mit der Schrift, immer reichere Aneignung dessen, was sie uns gibt, ihr wachsendes Verständnis, der voranschreitende Gehorsam, die reifende Liebe. Wächst die Liebe, so wächst auch unser Vermögen, die Schrift zu verstehen. Das erfahren wir auch im Verkehr mit den Menschen; was macht uns fähig, auf sie zu hören? Das tut die Liebe; sie öffnet unser Ohr für die anderen. Es gilt auch von der Bibel: wer sie liebhat, versteht sie; denn weil er sie liebhat, hört er ihr zu. Da, wo wir zur Arbeit berufen sind, hat auch die Bitte ihren Platz; denn wir sollen unser Werk so tun, daß dadurch Gottes Wille geschieht. Wir geben der Rede Gottes, die zu uns spricht, dann Gehör, wenn sie unsere Stummheit vor Gott bricht und uns zur Rede mit Gott erweckt. Darum bekommt die Vertiefung in die Schrift ihren richtigen Anfang und Schluß durch unser Gebet, und dieses steht auch dann unter der Verheißung: „Bittet, so werdet ihr empfangen“, wenn unsere Bitte das Verständnis des göttlichen Wortes begehrt. Arbeit schafft immer Gemeinsamkeit. Der Ertrag der anderen wird uns selbst zum Arbeitsmittel, wie auch wieder unsere Arbeit den anderen zugute kommt. Wenn wir die Lücken und Schranken unserer eigenen Erkenntnis drückend empfinden, bringt es uns Hilfe, daß wir nicht vereinsamt leben und nicht einzig auf unser Vermögen angewiesen sind. Die Bibel ist der gemeinsame Besitz der Kirche, und die Arbeit, die uns zu ihrem Verständnis hilft, wird von der Christenheit gemeinsam getan. Darum reicht uns die Kirche nicht nur die biblischen Texte, sondern auch in reicher Mannigfaltigkeit allerlei Auslegung dar. Diese hat aber nie mehr als dienende Bedeutung und wird zum Hindernis, wenn sie sich zwischen uns und die Bibel stellt und diese verdrängt. Den wichtigsten Anteil an der auslegenden Arbeit der Kirche verschafft uns der sonntägliche Gottesdienst. Das Wort, das ihn füllt, ist in der evangelischen Christenheit überall auf ein Schriftwort aufgebaut und hat sein Ziel darin, daß das Schriftwort uns leuchte und mit unserem eigenen Leben die Verbindung gewinne. Darum empfangen wir durch den Anteil am Gottesdienst der Gemeinde einen wachsenden Schatz von Schriftkenntnis, der uns bei unserem eigenen Verkehr mit unserer Bibel wirksam unterstützt. Diesen Gewinn ernten wir freilich auch hier nur dann, wenn die Auslegung uns nicht bei sich festhält, sondern über sich emporweist und uns zum Schriftwort führt. Jeder Schritt zu Gott führt uns auch zu den Menschen hin. Gottes Werk ist das, was uns vereinigt. Sein Wort zieht uns aus unserer eigensüchtigen Vereinsamung heraus und bringt uns in die Gemeinschaft hinein. Da die Bibel ein Hauptstück unseres gemeinsamen Besitzes ist, ist es die unentbehrliche Bedingung für unsere Gemeinschaft, daß jeder in der Bibel heimisch sei. Sie ist uns schon für unseren Anteil an unserem Volkstum und seiner Geschichte unentbehrlich, da wir vor vielen Vorgängen in unsere Geschichte ohne Verständnis und ratlos stehen, wenn wir die Bibel nicht kennen. Noch viel mehr gibt sie uns für unsere Mitgliedschaft in der Kirche die unentbehrliche Ausrüstung. Ihr Ziel ist freilich höher und ihre Gabe reicher als alles, was wir Menschen einander geben. Gottes Wort spricht zu uns von Gott und beruft uns zu Gott und zeigt uns darum Christus, den Schöpfer und den Herrn der Kirche. Er führt aber uns alle auf demselben Weg zum selben Ziel. Darum wird jeder, der seine Bibel besitzt, auch die Kirche finden. Wer wirklich Glied der Kirche sein will, der öffne seine Bibel. Wir werden ihre Glieder nicht dadurch, daß wir Wahlrechte ausüben oder Kirchensteuern zahlen, sondern dadurch, daß wir die Bibel besitzen, und zwar so, daß sie in unseren Herzen lebt. Quelle: Glaubensstimme.de |