X. Kern und Schale des Christentums Der Apostel sagt 2. Kor. 4,7: Ἔχομεν δὲ τὸν θησαυρὸν τοῦτον ἐν ὀστρακίνοις σκεύεσιν, "wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen". In anderm Sinn als dem, welchen der Zusammenhang der Stelle fordert, können wir diese Worte auf das ganze Christentum beziehen und an ihm einen unvergänglichen Schatz von den vergänglichen Gefäßen, die ihn einschließen, einen unverlierbaren Kern echter philosophischer Wahrheit von einer sehr unphilosophischen Schale unterscheiden. Die fundamentale Bedeutung dieser Unterscheidung wird sich aus dem ganzen weitern Verlauf unserer Darstellung ergeben; es wird sich dabei zeigen, wie die Aneignung des Kernes mitsamt seiner Schale den Grundcharakter der Philosophie des Mittelalters, die Befreiung des Kernes von der ihn einschließenden Schale die Hauptaufgabe der neuern Philosphie gebildet hat; erstere hat nur zu oft über der Schale den Kern vernachlässigt, letztere nur zu oft mit der Schale auch den Kern weggeworfen und verloren. 1. Der Kern des Christentums Vier große Grundwahrheiten sind es, welche die Philosophie dem Christentum verdankt, und welche sie nie aufgeben kann, will sie nicht das Beste verlieren, was sie überhaupt besitzt. Erste Wahrheit: Der Determinismus. Daß der Wille des Menschen nicht frei, sondern durch die jedesmaligen Motive mit Notwendigkeit bestimmt ist, daß, mit andern Worten, dem die ganze Natur beherrschenden Kausalitätsgesetz auch das Wollen und Handeln des Menschen unterliegt, ist eine Grundwahrheit, deren Spuren sich zwar auch in dem indischen, griechischen und althebräischen Denken nachweisen lassen, welche aber erst von Jesus und Paulus mit voller Deutlichkeit ausgesprochen und zum Grundstein ihrer ganzen Weltanschauung gemacht worden ist. Wie der Baum, so seine Früchte, wie der Mensch, so seine Taten. Dieses von Jesus gebrauchte Bild läßt keinen Zweifel darüber, daß er die Unfreiheit des Willens mit aller Deutlichkeit erkannt hat. Dieselbe Erkenntnis finden wir beim Apostel Paulus, nur daß sie sich bei ihm mit dem aus dem Alten Testament vererbten Theismus verbindet und dadurch zur Prädestination als ihrer Konsequenz führt. Wie der Mensch geschaffen ist, so ist er beschaffen, und wie er beschaffen ist, so muß er handeln. Frei sein kann nur ein solches Wesen, welches sich selbst erschaffen, welches die Beschaffenheit, nach der es mit Notwendigkeit handelt, aus sich selbst heraus geboren hat. Zweite Wahrheit: Der kategorische Imperativ. Jesus und Paulus lassen sich durch die von beiden klar erkannte Unfreiheit des Willens nicht davon abhalten, unermüdlich vom Menschen zu fordern, daß er das Gute vollbringe und das Böse meide. Diese Imperative, von denen Jesu Worte und Pauli Schriften voll sind, müssen als kategorische im Kantischen Sinne anerkannt werden. Zwar ist oft genug im Neuen Testament vom himmlischen Lohn, von der Aussicht auf einen seligen Endzustand die Rede; aber es ist etwas ganz anderes, ob dieser himmlische Lohn als Grund für das sittliche Wohlverhalten, oder ob er nur als eine Folge desselben erscheint. Letzteres ist auch bei Kant der Fall, wenn er in der Dialektik der praktischen Vernunft Unsterblichkeit und jenseitige Vergeltung als Postulate aufstellt, ohne daß darum jener Imperativ aufhört, ein kategorischer zu sein, welcher er formuliert in den Worten: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Diese Worte besagen nicht, daß wir die allgemeine Glückseligkeit befördern sollen, weil unsere eigene darin mit einbegriffen ist, sondern ihr wahrer und tieferer, wenn auch nicht überall von Kant streng festgehaltener Sinn ist: Handle nicht individuell, sondern überindividuell, handle so, wie der handeln würde, den du dir als den allgemeinen Gesetzgeber des Weltalls vorstellst. So aufgefaßt trifft der Kantische Imperativ mit dem Jesu zusammen: "darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist." Schärfer noch aber als bei Kant in dem Kapitel von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft tritt der wahre Inhalt dieses kategorischen Imperativs hervor in den Worten Jesu: "Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir" (Matth. 16,24), und in den Worten Pauli: "Welche aber Christo angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden" (Gal. 5,24). Unter Fleisch ist hier wie überall bei Paulus der Egoismus zu verstehen, welcher die Wurzel des ganzen natürlichen Menschen bildet, und aus welchem alle Handlungen desselben nach dem Kausalitätsgesetz mit Notwendigkeit hervorgehen, daher es Röm 7,18 heißt: "Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleisch, wohnet nichts Gutes." |