Betrachtung Bail 001 - hartmut-geisler.de

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Erste Betrachtung
Von der Notwendigkeit der Betrachtung

I.
O meine Seele! Bedenke, daß bei sehr Vielen die Unwissenheit in göttlichen Dingen und bei Anderen der Mangel an Aufmerksamkeit auf dieselben eine fruchtbare Quelle von Elend, geistiger Trägheit und von so vielen Sünden ist, die ihr Herz überfüllen. Der heilige Geist sagt es durch den Mund des Weisen: Ja töricht sind alle Menschen, in welchen nicht Erkenntnis Gottes sich findet (Weish 13,1); töricht durch die Torheit ihrer Gedanken, töricht durch die Torheit ihrer Reden, töricht besonders durch die Torheit ihrer Werke. Denn Alles ist Torheit, nur Gott lieben ist Weisheit. Aber um Gott und die göttlichen Dinge zu lieben, muß man sie kennen. Der Wille an und für sich ist blind und wandelt im Finsteren, und der Verstand ist die Leuchte, die ihm vorangeht und sein Ziel zeigt. Wenn aber der Verstand selbst finster, wenn er nicht durch die Erkenntnis Gottes erleuchtet ist, wird er auch den Willen nicht zu den göttlichen Dingen leiten und dieser wird ohne Liebe zu Gott, von geistigen Gütern leer und gleichsam überfüllt sein von den Übeln, die in einer Seele sich finden, welche der Liebe Gottes beraubt ist. Verödet ist das ganze Land, weil Keiner ist, der sich es zu Herzen nähme (Jerem 12,1), spricht der Prophet. Jenen, die in dunkler und finsterer Nacht gehen genügt es nicht, daß ihnen der Weg gezeigt, daß ihnen am Eingang des Weges geleuchtet würde; das Licht muß ihnen immer vorleuchten, damit sie nicht auf Irrwege und in die Abgründe geraten. Soll unser Wille den rechten Pfad der Tugend wandeln und nicht in den Abgrund der Sünde stürzen, so muß der Verstand immer ihm leuchten, und da Licht vor ihm hertragen, d.h. er muß mit dem Gedanken an die göttlichen Dinge sich beschäftigen, sie überlegen und Tag und Nacht betrachten.

Nichts ist gewisser als diese Wahrheit; und ach! Warum denn bleibe ich so lange in meiner Blindheit und Unwissenheit? Warum schlummere ich ein in meiner Trägheit, und richte meine Blicke nicht nach dem Himmel und hefte meine Gedanken nicht an himmlische und göttliche Dinge? Soll mein Verstand nur Einsicht besitzen, um die Dinge dieser Erde zu erkennen; soll ich denn nur Gedanken für die weltlichen Geschäfte haben? O mein Gott! Ich sehe die Quelle meines Unglückes ein, ich erkenne meine Fehler vor dir, verzeihe mir, o mein Gott, und zeige mir das Heilmittel zu meiner vollständigen Genesung.

II.
Das Heilmittel gegen diese Unwissenheit und gegen diesen Mangel an Aufmerksamkeit in Bezug auf göttliche Dinge ist die eifrige Betrachtung. Dieselbe erleuchtet den Verstand, zerstreut die Unwissenheit, entflammt den Willen mit heiligen Begierden und lenkt seine Aufmerksamkeit auf göttliche Dinge. Da lernt der Mensch die Eigenschaften Gottes, das Geheimnis der heiligsten Dreifaltigkeit, das Leben der Engel und die Werke der Schöpfung kennen. Da lernt er das Ziel kennen, für das er geschaffen ist, die Richtschnur seiner Handlungen, die Gebote, die Gnade und ihre Wirkungen, die göttlichen und die Kardinaltugenden. Da wird ihm das Geheimnis der Menschwerdung gezeigt, das wunderbare Leben Jesu und Mariä, die innere Kraft der heiligen Sakramente und zum Schluß aller dieser Unterrichte die allgemeine Auferstehung und das letzte Gericht über die Gerechten und Ungerechten. Es gibt in der Welt keine Wissenschaft mehr, die so erhaben ist und die so viele erhabene Dinge lehrt: ihre Auctorität ist die Gottes, sowie er selbst ihr Hauptgegenstand ist, auf den sie Alles bezieht. Die vollkommene Theologie ist nichts Anderes, als die Beschauung Gottes im Himmel, so zwar, daß die Betrachtung hienieden der Anfang der Glückseligkeit ist, sowie die vollendete Glückseligkeit eine vollständige und vollendete Betrachtung ist. Da nun Gott als unser beseligendes Ziel durchaus unserer Liebe und Sehnsucht würdig ist, so vervollkommnet diese Wissenschaft zugleich den Verstand und den Willen. Sie begnügt sich aber nicht mit unfruchtbaren Forschungen, sondern bringt sie in Verbindung mit Übung von Tugenden und der heiligen Liebe, die sie in ihren Jüngern erzeugt. Denn ihr Hauptziel ist, uns tugendhaft zu machen. Und wenn der Sünder nicht ganz verhärtet ist, entzündet sie ihn zur Liebe und Andacht, weil sie bei der Vorstellung der Vollkommenheiten Gottes und der Tugenden Jesu Christi uns die Liebe einflößt, wenn wir ihrer zündenden Kraft nicht mit unserer Hartherzigkeit widerstehen. Wenn man also Liebe zu den göttlichen Dingen hat, beschäftigt man sich gern mit ihnen. Denn der Mensch denkt von Natur aus gern an das, was er liebt. Siehe darum heilt die Theologie als forschende Wissenschaft in den göttlichen Dingen unsere Unwissenheit und als betrachtende Wissenschaft den Mangel unserer Aufmerksamkeit.

O himmlische und göttliche Wissenschaft, o Theologie, Mutter und Pflegerin jeder heiligen Betrachtung! O kräftiges Heilmittel gegen unser Elend und unsere Lauheit! Wie wenig lernen dich die Menschen! O Wissenschaft des Heils, wie kann eine Seele, die nach ihrem Heile verlangt, dich verlassen? Ach alle Wissenschaften sind ohne dich eitel und unnütz. Du bist kostbarer als Gold und die reichsten Diamanten, unserer Begierden würdiger, als die Schätze der Welt. Denn welche Beschäftigung ist für den Adel des menschlichen Geistes würdiger, als die Gottheit zu betrachten? O mein Gott! Dich zu erkennen ist vollkommene Gerechtigkeit (Weis 15,3), das ist das ewige Leben, daß sie dich erkennen den wahren Gott (Joh 17,3). Nimm mich auf nach deinem Ausspruche, daß ich lebe (Ps 119, 116). Gib mir einen tüchtigen Geist, und ich werde in dir aufatmen, ich werde seufzen nach dir durch die Empfindungen dieser wunderbaren Weisheit.

III.
Zum Studium der göttlichen Dinge und um in Betrachtung der Theologie Fortschritte zu machen, ist vorzüglich Reinheit der Seele notwendig. Der Weise sagt: denn in eine böswillige Seele gehet die Weisheit nicht ein und nimmt nicht Wohnung in einem Leibe, welcher verfallen ist der Sünde (Weis 1,4). Nur reine Herzen können die göttliche Reinheit betrachten. Einsichtsvoller ward ich als Greise, weil deine Gebote ich halte (Ps 119,100), sagt der König David. In der Tat wird von zwei Personen, die an Schärfe und Kraft des Geistes einander gleich sind, diejenige mehr Nutzen von der Wissenschaft der Theologie haben, die ein reineres Leben führt. Darum will der heil. Bonaventura, der dem heil. Thomas als sein bestes Buch das Kruzifix zeigte und mehr durch andächtiges Gebet als durch Studium gelernt hat, daß diese Reinheit eine vollständige sei und sagt, daß die Seele in ihrem Verstande und in ihren Begierden rein sein soll. Der Verstand muß gereinigt sein durch den Glauben und frei von jedem sinnlichen Bilde; denn diese hindert ihn, auf reine Art das zu betrachten, was geistig und himmlisch ist. Die Begierden müssen rein sein durch die Gerechtigkeit und Unschuld. Die Reinheit des Verstandes bewirkt, daß die Seele in Betrachtung tiefer in die göttlichen Geheimnisse eindringt und daß sie ohne Zerstreuung gründliche dabei zu Werke geht, und die Reinheit der Begierden macht sie empfänglicher für die Eindrücke und die heiligen Empfindungen, welche die Betrachtung eines ganz göttlichen Gegenstandes hervorbringen kann. So unterstützen sich wunderbar diese beiden Reinheiten, und sind geeignet in derselben Seele die Wissenschaft und die Andacht hervorzurufen. Dieses bewirkt die Betrachtung der Theologie. Ich will mich prüfen über diesen Punkt und sehen, ob ich diese doppelte Reinheit besitze.

Ach mein Gott, ich werde vor dir ganz beschämt. Wie sollte ich es wagen, mich dem erhabenen Heiligtume deiner Geheimnisse zu nahen? Meine Lippen sind zu unrein, um von deiner Heiligkeit zu sprechen; mein Herz ist zu sehr beschmutzt, um dich darin aufzunehmen. Aber du mein Gott bist die Quelle, in welchem unsere Unreinheit verzehrt wird. Du mein Gott, du Quelle der Reinheit, reinige meine Seele von ihrer Ungerechtigkeit, läutere meinen Geist, erhebe meine Begierden zu dir, damit ich durch heilige Gewalt die Wunder deiner Geheimnisse betrachte und damit in meiner Betrachtung das Feuer deiner heiligen Liebe sich entzünde.

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