Wer die Aufklärung für überwunden hält (und das tun viele heute ... ), sollte kurz einen Blick zurückwerfen auf die historische Aufklärung und überlegen, ob nicht einiges aus ihrem Programm, leicht revidiert, auch heute noch weiter vertreten werden kann:
1) Vernunft: Glaube daran, dass man mit Vernunft und Selberdenken mehr erreicht als durch Autoritätsgläubigkeit.
2) Politischer Aktivismus: Anprangerung von politischer Trägheit und Feigheit als Merkmale des unaufgeklärten Menschen (Kant: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Selbstverschuldet, weil dieser Fehler am Mangel ... der Entschließung und des Mutes liegt. ... Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein großer Teil der Menschen ... unmündig bleibt").
3) Freiheit: Beseitigung von Abhängigkeiten aller Art.
4) Gleichheit vor dem Gesetz und in politischen Angelegenheiten.
5) Brüderlichkeit: Verzicht auf Gewaltanwendung und Feindseligkeiten.
6) Toleranz: vor allem religiöse Toleranz des Staates (Pufendorf, Locke);
Emanzipation der Juden und Schutz der Minderheiten.
7) Wissenschaft: Glaube an die naturalistische Erklärbarkeit der Welt und an die Beseitigung von Problemen mit Hilfe der Wissenschaften; Berufung auf die Erfahrung statt auf Autoritäten.
8) Erziehbarkeit: Glaube an die gute Natur des Menschen (Überwindung des christlich-jüdischen Erbsündegedankens).
9) Gesellschaftsreform: Fortschritt der Menschheit im Sinn einer zunehmenden Humanisierung.
10) Staatsreform: Säkularisierung des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens;
Gewaltenteilung (Locke; Montesquieu) beziehungsweise Machtkontrolle.
11) Gesetzesreform: <angeborene> Menschenrechte von 1776, 1789;
Naturrecht als Befreiung von göttlicher, absolutistischer oder traditioneller Bevormundung (Hobbes, Pufendorf).
12) Strafrechtsreform: Strafsystem nach Verhältnismäßigkeit (Montesquieu, Voltaire);
Schutz des Verbrechers vor unverhältnismäßiger Verfolgung (<nulla poena sina lege> - keine Strafe ohne zuvor erlassenes Gesetz);
Abschaffung der Hexenprozesse und der Folter (Thomasius, Friedrich d. Gr.); Abschaffung der Todesstrafe (Beccaria).
... Ein Ende der Aufklärung im Sinne einer endgültigen Erledigung der oben genannten Punkte ist wohl kaum in Sicht.
Hans-Joachim Niemann, Lexikon des Kritischen Rationalismus, S. 28 f.