Hartmut Geisler
Wir fallen niemals tiefer als in Gottes gütige Hände ... |
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Der Brief an die Römer - Ein Kommentar
Aus „Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift“, Römerbrief, übersetzt von Karl Müller (1863 1935), Neukirchen
übernommen mit freundlicher (stillschweigender) Genehmigung
aus den hervorragenden Seiten von Andreas Janssen
Glaubensstimme.de
Johannes Calvin
Man könnte den Nutzen des Römerbriefes für die christliche Erkenntnis ausführlich rühmen. Aber wir wollen darauf verzichten. Denn unsere Rede würde an die Hoheit dieses Briefes bei weitem nicht heranreichen und würde darum nur verdunkelnd wirken. Viel besser empfiehlt der Brief sich selbst beim ersten Blick auf seinen Inhalt. Dieser Inhalt nämlich, den wir sofort darlegen wollen, zeigt neben vielen andern Vorzügen vornehmlich die wunderbare Eigenschaft, dass, wer ihn verstanden hat, eben damit den Schlüssel zu allen verborgenen Schatzkammern der Heiligen Schrift empfängt.
Der ganze Brief ist so wohlüberlegt entworfen, dass schon der Eingang wie ein kleines Kunstwerk erscheint. Das werden wir alsbald an manchen Einzelheiten beobachten. Hier sei nur an den Hauptpunkt erinnert, dass bereits der Eingang ungesucht zum Thema des ganzen Briefes hinleitet. Paulus beginnt mit einer Betonung seiner apostolischen Würde (1, 1-15) und wendet sich von diesem Ausgangspunkte wie von selbst zu einem Lobpreis des Evangeliums (1, 16). Vom Evangelium aber kann man nicht reden, ohne des Glaubens zu gedenken. Und damit hat der Apostel Schritt für Schritt seinen eigentlichen Gegenstand erreicht, bei welchem er bis zum Schlusse des 5. Kapitels verweilt: wir werden gerecht gesprochen durch den Glauben. Dies also bezeichnen wir als Hauptthema dieser Kapitel: die Gerechtigkeit des Menschen beruht allein auf Gottes Erbarmen in Christus, welches im Evangelium angeboten und durch den Glauben ergriffen wird. Weil aber die Menschen auf ihren Fehlern einschlafen, sich dabei wohl fühlen und im Selbstbetrug einer eingebildeten Gerechtigkeit einhergehen, so dass sie die Gerechtigkeit des Glaubens nicht begehren, ehe man sie nicht alles Selbstvertrauens beraubt hat; - weil sie andererseits durch die Süßigkeit des Lasters berauscht und in tiefe Sicherheit versenkt erscheinen, so dass sie nicht leicht der Gerechtigkeit nachjagen, wenn sie nicht von dem Schrecken des göttlichen Gerichts getroffen werden: so greift der Apostel die Doppelaufgabe an, die Menschen von ihrer Sünde zu überzeugen und ihre falsche Gemütsruhe zu erschüttern (1, 18 ff.).
Zuerst spricht er im Angesichte der Schöpfung jeglicher Undankbarkeit der Menschen das Urteil (1, 19-32): an dieser Erhabenheit der Werke erkennen sie den Werkmeister nicht; und wenn sie ihn erkennen müssen, so huldigen sie seiner Majestät nicht mit gebührender Ehrfurcht, sondern entweihen und schänden sie mit ihrem eitlen Wesen. So werden sie alle des denkbar größten Verbrechens schuldig, der Gottlosigkeit. Um den allgemeinen Abfall von Gott umso greller zu beleuchten, führt der Apostel eine Reihe von schmachvollen und verabscheuenswerten Lastern vor, denen wir die Menschen allenthalben unterworfen sehen. Hierin liegt ein deutlicher Hinweis für die Abirrung von Gott: denn alle diese Dinge sind Zeichen des göttlichen Zornes, die man bei andern Leuten als bei Gottlosen vergeblich suchen würde. Weil man aber den Juden und auch manchen Heiden, die mit einer Decke äußerlicher Heiligkeit ihr inneres Verderben verhüllten, solche groben Laster nicht aufbürden durfte, und dieselben deshalb der allgemeinen Verdammnis entnommen schienen, so wendet sich der Apostel gegen jene scheinbare Heiligkeit. Und da er jene dürftigen Heiligen vor Menschen nicht zu entlarven vermochte, so zieht er sie vor das Gericht Gottes, vor dessen Augen auch die verborgenen Lüste offen liegen (2, 1-8).
Darauf teilt Paulus die Menschen in ihre Gruppen und stellt Juden und Heiden gesondert vor Gottes Richterstuhl (2, 9 ff.). Den Heiden nimmt er den Anlass, sich mit Unwissenheit zu entschuldigen: denn ihnen diente das Gewissen zum Gesetz und strafte sie hinlänglich (2, 12-16). Die Juden greift er an dem Punkte an, welchen sie als ihr festestes Bollwerk betrachteten: bei dem geschriebenen Gesetz. Wenn man ihnen hieran die Übertretungen zeigte, so konnten sie ja ihre Sündhaftigkeit nicht mehr leugnen. Denn Gottes Wort selbst hatte ihnen das Urteil gesprochen (2, 17-29). Zugleich begegnet Paulus einem nahe liegenden Einwand: dass man nämlich, wenn man die Juden nicht von allen andern unterscheide (3, 1 ff.), den Bund Gottes herabsetze, welcher für sie ein Kennzeichen dafür war, dass sie Gott geheiligt hatte. In dieser Hinsicht wird ausgeführt, dass die Vorzüge des Bundes denen nicht gelten, welche in selbstverschuldeter Untreue abfielen. Freilich bleibt Gottes Verheißung bestehen, und der Bund an sich behält seinen Wert: derselbe ruht aber auf Gottes Erbarmen, nicht auf dem Verdienst der Menschen (3, 1-10). Bezüglich ihrer persönlichen Eigenschaften stehen also die Juden den Heiden gleich. Dass sie alle Sünder sind, wird auf Grund der Autorität der Schrift nachdrücklich behauptet (3, 10-18). Dabei fallen auch einige Bemerkungen über den rechten Gebrauch des Gesetzes (3, 19 f.). Nachdem nunmehr der Menschheit alles Vertrauen auf eigne Tüchtigkeit und aller Ruhm eigner Gerechtigkeit genommen, nachdem ihr die Unerbittlichkeit des göttlichen Gerichts enthüllt, kehrt die Rede zum Hauptthema zurück: dass wir gerecht gesprochen werden durch den Glauben (3, 21-31). Wir hören, worin dieser Glaube besteht, und wie er uns Christi Gerechtigkeit erwirbt. Daraufhin schließt das 3. Kapitel mit jenem gewaltigen Ausruf, welcher alle Ansprüche menschlichen Hochmuts niederschlägt, damit niemand wage, sich wider Gottes Gnade zu überheben (3, 27 f.) Und damit die Juden solche überschwängliche Gnade nicht für die engen Grenzen ihres Volkes allein gegeben wähnten, so spricht der Apostel dieselbe im Vorbeigehen auch den Heiden zu (3, 29 f.).
Das 4. Kapitel knüpft nun die Beweisführung an ein besonderes durchsichtiges, nicht leicht zu verdrehendes Beispiel an: Abraham, der Vater der Gläubigen, wird diesen als Muster und Vorbild vorgestellt (4, 1-5). Wenn er die Rechtfertigung allein durch den Glauben erlangt, dann dürfen wir in seine Fußstapfen treten. Hier wird auch der Gegensatz deutlich: dass die Gerechtigkeit der Werke schwindet, wo man der Gerechtigkeit des Glaubens Raum gibt. Dies bestätigt ferner ein Spruch Davids, welcher die Seligkeit des Menschen allein auf Gottes Erbarmen gründet und damit leugnet, dass die Werke selig machen können (4, 6-8). Darauf verhandelt der Apostel genauer, was er zuvor nur gestreift, dass den Juden kein Vorzug vor den Heiden gebührt, sondern beider Seligkeit auf demselben Grunde ruht, da ja nach Aussage der Schrift Abraham als Unbeschnittener gerechtfertigt ward. Dabei laufen einige gelegentliche Aussagen über die Beschneidung unter (4, 9-12). Dann wird hinzugefügt, dass sich die Verheißung des Heils allein auf Gottes Güte stützt (4, 13-22). Wollte man sie auf das Gesetz gründen, so würde sie dem Gewissen, welches sie doch fest ergreifen muss, keine Ruhe bringen; die Verheißung würde dabei niemals ihr Ziel erreichen. Wer Gottes Gnadenzusage sich aneignen will, muss den Blick von sich selbst weg allein auf Gottes Wahrheit wenden. Er muss Abrahams Nachfolger werden, welcher nicht auf sich selbst sah, sondern auf Gottes Macht. Der Schluss des Kapitels (4, 23-25) bringt uns dieses Vorbild noch dadurch näher, dass die Übereinstimmung der besonderen Lage Abrahams mit den Erfahrungen aller Gläubigen aufgezeigt wird.
Nachdem wir so vorläufig von der Frucht der Gerechtigkeit kosten durften, ergeht sich das 5. Kapitel in lauter weiteren Betrachtungen, welche den Ertrag der Glaubensgerechtigkeit noch deutlicher enthüllen. Wenn Gottes Liebe schon gegen Sünder und Verlorene sich so überschwänglich bewies, dass sie den eingeborenen Sohn für sie dahingab -, wie viel Größeres dürfen wir nun von ihr erwarten, nachdem wir erlöst und mit Gott versöhnt sind (5, 1-11)! Dann werden einander gegenübergestellt (5, 12-21) Sünde und geschenkte Gerechtigkeit, Christus und Adam, Tod und Leben, Gesetz und Gnade. Dies alles versichert uns dessen, dass Gottes unermessliche Güte unsere Sünde mit allen ihren ungeheuren Folgen austilgt. Das 6. Kapitel geht nunmehr zu der Heiligung über, die uns in Christi Gemeinschaft zuteil wird. Das Fleisch neigt ja dazu, sobald es oberflächlich mit der Gnade in Berührung gekommen, mit seinen Fehlern und bösen Lüsten sanft zu fahren, als ob die Arbeit schon ein Ende haben dürfte. Paulus behauptet dagegen, dass man die in Christus geschenkte Gerechtigkeit nicht festhalten könne, wenn man sich nicht auch der Heiligung unterwirft. Er beweist dies durch die Taufe, die uns in Christi Gemeinschaft versetzt: in der Taufe werden wir mit Christus begraben, damit wir, uns selbst abgestorben, durch sein Leben zu neuem Leben erweckt werden. Daraus folgt, dass ohne Erneuerung niemand mit Christi Gerechtigkeit sich decken kann (6, 1-11). Daraus leitet denn der Apostel Mahnungen zur Reinheit und Heiligkeit des Lebens ab (6, 12 ff.): dass wir aus dem Reich der Sünde in das Reich der Gerechtigkeit versetzt sind, muss notwendig bei uns sichtbar werden; die leichtfertige Trägheit des Fleisches, welche bei Christus einen Freibrief für die Sünde sucht, muss überwunden sein. Dabei wird kurz erinnert, dass das Gesetz abgeschafft und also der Neue Bund angebrochen sei, welcher uns mit der Vergebung der Sünden auch den Heiligen Geist bringen sollte.
Im 7. Kapitel beginnt nun die eigentliche Ausführung über den rechten Gebrauch des Gesetzes, worüber wir bisher (3, 20) nur vorläufige Andeutungen empfingen. Wir hören, dass wir vom Gesetz frei sind, weil ja das Gesetz an sich nur zur Verdammnis führen konnte (7, 1-6). Solche Gedanken kann man freilich für eine Lästerung des Gesetzes halten (7, 7 ff.): darum nimmt der Apostel dasselbe nachdrücklichst in Schutz. Durch unsere Schuld sei zur Ursache des Todes geworden, was uns zum Leben gegeben ward. Dabei beobachten wir zugleich, wie durch das Gesetz die Sünde gesteigert wird. Diese Beobachtung gibt dann Anlass, den Kampf zwischen Geist und Fleisch zu schildern, den die Kinder Gottes in sich empfinden, solange sie das Gefängnis dieses sterblichen Leibes umgibt. Sie tragen die Reste der bösen Lust noch in sich, die ihnen fort und fort die völlige Befolgung des Gesetzes wehren.
Das 8. Kapitel ist voll von Trostgründen, welche die erschreckten Gewissen der Gläubigen aufrichten sollen, wenn sie des soeben geschilderten Ungehorsams oder vielmehr noch unvollendeten Gehorsams gedenken. Damit aber die Gottlosen sich nicht einen falschen Trost aneignen möchten, erklärt der Apostel zunächst, dass solche Wohltat nur den Wiedergeborenen gelte, in welchen Gottes Geist sich lebendig beweist (8, 1-14). Zweierlei wird demgemäß eingeschärft: alle, welche dem Herrn Christus durch seinen Geist einverleibt sind, stehen außerhalb jeder Gefahr der Verdammnis, wie groß auch noch immer die Last ihrer Sünde sei; alle aber, die im Fleische verharren, fern von der Heiligung des Geistes, können sich solcher Güter nimmer getrösten. Daraufhin entfaltet der Apostel die ganze Größe unserer Heilsgewissheit (8, 15 ff.): das Zeugnis des Geistes Gottes verscheucht alle Zweifel und jede Furcht. Dazu wird im Voraus gezeigt, dass kein gegenwärtiges Elend, welches dies sterbliche Leben uns auflegt, den sicheren Besitz des ewigen Lebens anfechten und stören könne. Ja, solche Übungen fördern uns im Erwerb der Seligkeit, im Vergleich mit deren Herrlichkeit alles gegenwärtige Elend wie ein Nichts erscheint. Dies bestätigt Christi Beispiel. Er ist der Erstgeborene und der Anführer des Volkes Gottes: darum ist er auch das Urbild, nach welchem wir alle müssen gestaltet werden (8, 29). So krönt der Apostel seine Worte mit jenem herrlichen Lobgesang der Heilsgewissheit, welcher der Macht und der Machenschaften des Satans fröhlich spottet (8, 31 ff.).
Nun wurden aber viele dadurch in Zweifel gestürzt, dass sie die Juden als die ersten Hüter und Erben des Bundes Christus den Rücken kehren sahen. Sie schlossen daraus: entweder müsse der Bund mit Abrahams Nachkommen rückgängig geworden sein, weil dieselben seine Erfüllung verachteten -, oder Christus sei nicht der verheißene Erlöser, weil er gerade das Volk Israel tatsächlich nicht zu erlösen vermochte. So wendet sich der Apostel mit Beginn des 9. Kapitels zur Erörterung dieser Frage. Im Eingang bezeugt er seine Liebe gegen seine Volksgenossen, um dem Verdacht zu begegnen, als sei seine Rede vom Hass eingegeben. Rühmend erkennt er die göttlichen Gaben an, mit welchen Israel geschmückt war (9, 1-5). Erst nach dieser gewinnenden Vorbereitung geht er dazu über, den Anstoß zu beheben, der aus Israels Blindheit sich ergab. Er unterscheidet eine doppelte Art von Abrahams Kindern (9, 6-13): nicht alle Nachkommen nach dem Fleisch gehören der Nachkommenschaft an, welche die Bundesgnade wirklich erben soll. Umgekehrt werden auch solche, die ursprünglich draußen stehen, der Zahl der Kinder durch den Glauben einverleibt. Als Beispiel dafür dienen Jakob und Esau. Dasselbe führt uns freilich auf Gottes Erwählung zurück, von welcher überhaupt die ganze Frage abhängt. Diese Erwählung gründet allein in Gottes Erbarmen, und man wird vergeblich ihren Grund in menschlicher Würdigkeit suchen (9, 14-16). Umgekehrt kann für die Verwerfung, die ja freilich gerecht ist und bleibt, ein höherer Grund als Gottes Wille nicht angegeben werden (9, 17-24). Das Ende des Kapitels zeigt (9, 25 ff.), dass sowohl die Berufung der Heiden wie Israels Verwerfung durch die Weissagungen der Propheten bezeugt sei.
Im 10. Kapitel beginnt der Apostel von neuem mit einer Bezeugung seiner Liebe zu den Juden, und er erklärt, dass sie ihr Verderben durch eitles Vertrauen auf die Werke selbst verschuldet hätten (10, 1-3). Gegen diesen Vorwurf konnten sie sich allerdings durch einen Hinweis auf die Forderungen des Gesetzes rechtfertigen. Aber der Apostel antwortet im Voraus, dass auch das Gesetz uns zur Gerechtigkeit des Glaubens hinleite (10, 4-13). Diese Gerechtigkeit bietet Gott in seiner Güte unterschiedslos allen Völkern an; aber nur diejenigen ergreifen sie, welche der Herr durch seine besondere Gnade erleuchtet. Dass aber eine größere Schar aus den Heiden als aus den Juden dieses Gut empfangen würde, hätten schon Mose und Jesaja geweissagt. Der eine rede deutlich von der Berufung der Heiden, der andere von Israels Verstockung (10, 14-21).
Dabei harrte aber noch immer die eine Frage der Beantwortung: ob nicht kraft des Bundes Gottes doch ein Unterschied zwischen Abrahams Samen und den übrigen Völkern bestünde (11, 1). Zur Lösung dieser Schwierigkeit erinnert der Apostel zuerst daran, dass wir das Werk des Herrn nicht nach dem Augenschein begrenzen dürfen. Denn uns ist es verborgen, ob nicht doch Erwählte vorhanden sind, wo wir nicht vermuten. So hat sich einst Elias getäuscht, als er allen Glauben unter Israel geschwunden wähnte, und es waren doch noch siebentausend übrig (11, 2-4). Zweitens soll uns der Blick auf die Menge der Ungläubigen nicht irremachen, welche das Evangelium hassen (11, 5). Endlich sollen wir wissen, dass Gottes Bund auch für die fleischlichen Nachkommen Abrahams feststehe, allerdings nur bei denen, welche Gottes freie Gnade sich auserwählt (11, 6-12). Dann wendet sich die Rede zu den Heiden (11, 13-24): diese sollen sich nicht über Israel ob seiner Verwerfung erheben und sollen nicht auf die eigne Annahme stolz sein, denn sie sind nur durch Gottes Herablassung erhöht worden, und dies müsste ihnen vielmehr zur Demütigung dienen. Ja, Gottes Gnade sei gar nicht von Abrahams Samen gewichen (11, 25-36): dadurch, dass die Heiden gläubig wurden, sollte Israel nur zur Nacheiferung gereizt werden. Auf diese Weise will Gott sein gesamtes Israel sammeln.
Die drei folgenden Kapitel sind mannigfach verschiedenen, ermahnenden Inhalts. Das 12. gibt allgemeine Vorschriften für das christliche Leben. Das 13. beschäftigt sich zum großen Teil mit der Betonung des Rechts der Obrigkeit. Wir schließen daraus, dass einige unruhige Geister sich die christliche Freiheit nur mit dem Umsturz des staatlichen Lebens verbunden vorstellen konnten. Weil nun feststeht, dass für die Gemeinde Christi kein anderes, als das Gebot der Liebe gilt, so zeigt Paulus, dass dieses Gebot auch den bürgerlichen Gehorsam in sich begreift (13, 1-10). Dann fügt er einige bisher noch nicht berührte Lebensregeln hinzu (13, 11-14). Im nächsten Kapitel gibt er eine Ermahnung, welche damals besonders zeitgemäß war. Eine Gruppe von Christen hing noch mit abergläubischem Eifer an den Zeremonien des mosaischen Gesetzes und nahm den schwersten Anstoß an ihrer Übertretung. Eine andere Gruppe pochte auf die Abschaffung des Gesetzes, trug ihre Verachtung der Zeremonien zur Schau und eiferte wider den Aberglauben. Auf beiden Seiten sündigte man durch Maßlosigkeit. Die Abergläubischen richteten die andern als Verächter des Gesetzes Gottes: diese wiederum machten sich in unziemlicher Weise über die Dummheit der Gegner lustig. So tut der Apostel, was beiden Parteien nötig war: er leitet zur Mäßigung an, warnt die einen vor Hochmut und Selbstgefälligkeit, die andern vor gar zu engherziger Peinlichkeit. Zugleich spricht er als beste Regel für die christliche Freiheit aus, dass sie sich in den Schranken der Liebe und eines erbaulichen Wandels halte (14, 15-19). Und die Schwachen empfangen den trefflichen Rat, sich nichts wider ihr eigenes Gewissen zu erlauben (14, 20 ff.).
Der Anfang des 15. Kapitels wiederholt noch einmal die Hauptregel, das Ergebnis der ganzen Aussprache: die Starken sollen ihre Kraft gebrauchen, um die Schwachen zu festigen. Da aber der Streit über die mosaischen Zeremonien Juden und Heiden beständig von neuem entzweite, so räumt der Apostel jeden Anlass zu Hochmut und Eifersucht aus dem Wege und lehrt beide Teile, ihr Heil auf Gottes Erbarmen allein zu gründen und, auf diesem Grund stehend, von ihrer Höhe herabzusteigen: so sehen sie sich durch die Hoffnung eines gemeinsamen Erbes verbunden und müssen einander in Liebe umfassen. Um eben dieser Lehre ein besonderes Gewicht zu geben, schickt sich Paulus an, die Würde seines Apostelamtes zu rühmen (15, 14 ff.). Er nimmt dabei die Gelegenheit wahr, die Kühnheit zu erklären und zu entschuldigen, die ihn so freimütig seinen Lesern gegenüber als Lehrer auftreten ließ. Sodann macht er ihnen einige Hoffnung auf seinen Besuch, den sie, wie der Eingang des Briefes zeigt, längst erbeten und erwartet hatten. Er gibt auch den Grund für die bisherige Verzögerung an: die Gemeinden von Mazedonien und Achaja hatten ihm die von ihnen gesammelte Kollekte für die armen Gläubigen in Jerusalem anvertraut, um sie an ihren Bestimmungsort zu bringen. Das letzte Kapitel ist fast mit lauter Grüßen ausgefüllt. Nur einige nicht unwichtige Weisungen sind eingestreut, und den Schluss macht ein herrliches Gebet.
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Johannes Calvin
1 Paulus, ein Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert, zu predigen das Evangelium Gottes, 2 welches er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, 3 von seinem Sohn, der geboren ist von dem Samen Davids nach dem Fleisch 4 und kräftig erwiesen als ein Sohn Gottes nach dem Geist, der da heiligt, seit der Zeit, da er auferstanden ist von den Toten, Jesus Christus, unser Herr, 5 durch welchen wir haben empfangen Gnade und Apostelamt, unter allen Heiden den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter seinem Namen, 6 unter welchen ihr auch seid, die da berufen sind von Jesu Christo, - 7 euch allen, die ihr zu Rom seid, den Liebsten Gottes und berufenen Heiligen: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!
V. 1. Paulus. Über den Namen Paulus würde ich am liebsten schweigen; denn die Sache ist unbedeutend, und ich kann nur wiederholen, was längst andere Ausleger vorgetragen haben. Doch da sich mit leichter Mühe auf der einen Seite die nötige Auskunft geben lässt, ohne dass wir auf der andern Seite zu umständlich werden müssten, so soll kurz diese Frage erledigt werden. Nach einer Ansicht soll der Apostel sich den Namen Paulus als ein Siegeszeichen beigelegt haben, als er den Prokonsul Sergius Paulus zu Christus bekehrte (Apg. 13, 12). Indessen zeigt der Bericht des Lukas selbst, dass der Name Paulus schon vor jener Bekehrung geläufig war (Apg. 13, 9). Ebenso wenig glaublich erscheint, dass der Apostel jenen Namen empfing, als er an Christus gläubig wurde. Diese Vermutung greifen viele wohl nur deshalb auf, weil sie erwünschte Gelegenheit zu geistreichen Bemerkungen über den stolzen Verfolger Saul bietet, der in einen geringen Jünger Christi verwandelt ward: denn „Paulus“ heißt „der Geringe“. Annehmbar erscheint dagegen die Ansicht, dass der Apostel überhaupt zwei Namen getragen habe. Es ist ganz wahrscheinlich, dass die jüdischen Eltern ihrem Sohne den Namen Saul beilegten, als ein Zeichen der Religion und der Abstammung, dass dann aber der Name Paulus hinzugefügt wurde, der durch seinen Klang an das römische Bürgerrecht (Apg. 22, 28) erinnerte. Es sollte weder die hohe Ehre dieses Bürgerrechts verloren gehen, noch sollte um desselben willen die israelitische Herkunft vergessen werden. Des Namens Paulus bedient sich aber der Apostel in seinen Briefen wohl deshalb, weil er bei den Gemeinden, an die er schrieb, bekannter und geläufiger war, weil er überhaupt im römischen Reiche einen angeseheneren Klang besaß, und umgekehrt bei seinen Stammensgenossen weniger gebraucht wurde. Denn Paulus musste darauf halten, einerseits nicht unnützen Verdacht und Hass zu erregen, der sich bei Römern und Provinzbewohnern nur zu leicht an den jüdischen Namen hängte, und andererseits die Wut seiner Stammesgenossen nicht ohne Not zu entfesseln.
Ein Knecht Jesu Christi usw. Diese Titel sollen das Gewicht der apostolischen Lehre verstärken, und zwar in doppelter Weise: Paulus ist erstens zum Apostelamt überhaupt berufen, und zweitens kann er darauf hinweisen, dass sein Amt sich auch auf die römische Gemeinde erstreckt. Paulus nennt sich also einen Diener Christi und berufen zum apostolischen Amte: er will damit sagen, dass er hier nicht willkürlich eingebrochen ist. Weiter bezeichnet er sich als ausgesondert: er will damit bezeugen, dass er nicht als eine beliebige Persönlichkeit aus der Volksmasse auftritt, sondern als ein ausgezeichneter Apostel des Herrn. In diesem Sinne hatte er auch den Gedankenfortschritt von dem umfassenderen Begriff „Knecht Jesu Christi“ zu der engeren Bezeichnung „Apostel“ vollzogen; denn zu den Knechten Jesu Christi zählt jeder, der ein Lehramt verwaltet: aber die Ehre des apostolischen Dienstes ragt darüber noch weit empor. Als Knecht des Herrn stellt Paulus sich mit allen Predigern auf gleiche Stufe. Mit dem Aposteltitel aber erhebt er sich über sie alle: weil aber eine geraubte Autorität nicht gelten würde, so behauptet Paulus, dass er von Gott in sein Amt gesetzt sei. Des Weiteren folgt eine genauere Beschreibung des Amtes eines Apostels: derselbe ist dazu berufen, zu predigen das Evangelium. Die hier gemeinte Berufung darf man nun nicht auf die Erwählung zum ewigen Leben beziehen. Es handelt sich vielmehr um das apostolische Amt: um dem Verdachte zu wehren, als habe er in persönlicher Ehrsucht seine Stellung sich angemaßt, weist der Apostel ganz einfach darauf hin, dass er durch Gott geworden sei, was er ist. Daraus können wir lernen, dass nicht jeder, der die Berufung zum ewigen Heil besitzt, damit auch schon für ein Lehramt befähigt ist. Vielmehr sollen gerade Leute, die sich für besonders geeignet halten, Sorge tragen, dass sie nicht ohne Berufung sich eindrängen. Weiter wollen wir den Finger auch darauf legen, dass eines Apostels Aufgabe die Predigt des Evangeliums ist. Dass Paulus sich als Knecht Jesu Christi bezeichnet, bezieht sich auf seine Amtsstellung und bedeutet dasselbe wie „Diener“.
V. 2. Welches er zuvor verheißen hat usw. Weil eine Lehre, die im Verdachte willkürlicher Neuerung steht, kein Ansehen gewinnen kann, so stützt der Apostel die Glaubwürdigkeit des Evangeliums durch sein Alter. Es ist, als ob er sagen wollte: Christus ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen oder hat irgendeine unerhörte Lehrweise aufgebracht; vielmehr war er von Anbeginn der Welt samt seinem Evangelium verheißen, und die Erwartungen richteten sich von jeher auf ihn. Weil aber das hohe Altertum von Fabeln umgeben zu sein pflegt, werden Zeugen hinzugefügt, und zwar unanfechtbare, nämlich Gottes Propheten. Und drittens heißt es, dass deren Zeugnisse ordentlich aufgezeichnet wurden, nämlich in der Heiligen Schrift. Aus dieser Stelle lässt sich schließen, wie es um das Evangelium steht: sie lehrt, dass dasselbe durch die Propheten uns nicht gegeben, sondern nur zuvor verheißen ward. Haben aber die Propheten das Evangelium verheißen, so folgt, dass es uns deutlich geoffenbart und geschenkt wurde erst durch das Fleisch des Herrn. Es geht also irre, wer Verheißungen und Evangelium ineinander wirrt. Denn das Evangelium ist, eigentlich geredet, die herrliche Predigt von dem geoffenbarten Christus, an welchem die Erfüllung aller Verheißung hängt.
V. 3. Von seinem Sohn usw. Köstlicher Spruch, der uns lehrt, dass das ganze Evangelium in Christus begriffen ist! Wer also von Christus auch nur um eines Fußes Breite zurücktritt, der weicht vom Evangelium. Christus ist des Vaters lebendiges und ausgedrücktes Bild: darum wird er allein uns vorgestellt, an welchen unser Glaube sich halten und in welchem er bestehen soll. Wir haben hierin also eine Beschreibung des Evangeliums, die uns sagt, was in demselben als Summa begriffen wird.
Der geboren ist usw. Zwei Stücke müssen wir an Christus suchen, um das Heil in ihm zu finden: Gottheit und Menschheit. Die Gottheit begreift in sich Macht, Gerechtigkeit, Leben; und das alles kommt durch die Menschheit zu uns. Darum setzt der Apostel diese beiden Stücke ausdrücklich, wenn er die Summe des Evangeliums erzählt: Christus ist im Fleische erschienen, und in demselben hat er sich als Sohn Gottes erwiesen. Ganz ebenso redet auch Johannes (1, 14): erst sagt er, dass das Wort Fleisch geworden; dann fügt er bei: in diesem Fleische sei die Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater erschienen. Dass nun der Apostel das Geschlecht und die Herkunft Christi von seinem Stammvater David genauer anmerkt, ist nicht überflüssig: diese Worte erinnern uns ja an die Verheißung, damit wir nicht zweifeln, Christus sei der längst verheißene Erlöser. Die dem David gewordene Weissagung war so bekannt, dass der Messias unter den Juden kurzweg Davids Sohn hieß. Dass also Christus von David abstammt, zielt auf die Gewissheit unseres Glaubens. Paulus fügt hinzu: nach dem Fleisch. So verstehen wir, dass Christus noch Höheres besitzt als das Fleisch. Dasselbe hat er nicht von David empfangen, sondern vom Himmel gebracht: es ist die Herrlichkeit seines göttlichen Wesens. Mit diesen Worten behauptet Paulus nun nicht nur die wirkliche Fleischesnatur Christi, sondern er macht auch einen klaren Unterschied zwischen Christi menschlicher und göttlicher Natur.
V. 4. Und kräftig erwiesen als ein Sohn Gottes usw. Statt „erwiesen“ kann man vielleicht noch besser sagen: „eingesetzt“. Es ist, als wolle der Apostel sagen: die Auferstehung wirkt wie ein göttlicher Beschluss, dass dieser Mensch fortan als Gottes Sohn erkannt und geehrt werden solle. So heißt es Ps. 2, 7: „Heute habe ich dich gezeuget“. Denn jene Zeugung besteht darin, dass Gottes Sohn nun aller Welt bekannt wird. Christus ist als Sohn Gottes eingesetzt, als seine Auferstehung von den Toten seine wahrhaft himmlische, d. h. seine Geisteskraft, öffentlich kundtat. Und diese Kraft wird in der Welt begriffen, wenn derselbe Geist sie den Herzen versiegelt. Mit diesem Verständnis stimmt gut auch das Wort zusammen, welches wir bisher noch übergangen haben: Christus ward kräftig erwiesen als ein Sohn Gottes. Gottes eigne Kraft strahlte in ihm wider und bewies unzweifelhaft sein göttliches Wesen. Sie erschien aber in seiner Auferstehung. So rühmt derselbe Paulus an einer andern Stelle (2. Kor. 13, 4), wo er ausspricht, dass die Schwachheit des Fleisches im Tode Christi offenbar geworden, die Kraft des Geistes aber in seiner Auferstehung. Uns aber wird solche Herrlichkeit nicht anders bekannt, als wenn derselbe Geist sie unsern Herzen versiegelt. Dass aber Paulus mit der wunderbaren Geisteswirkung, welche der Herr durch seine Auferstehung bewies, auch das Zeugnis zusammenfasst, welches jeder Gläubige in seinem Herzen empfindet, dafür steht sein ausdrücklicher Hinweis auf die Heiligung ein. Der Geist, der da heiligt (d. h. der uns zu Gottes heiliger Offenbarung hinführt) bestätigt und befestigt jenen Beweis seiner Kraft, den er einst in Jesu Auferstehung gab. Die Schrift pflegt auch sonst die genauere Benennung des Heiligen Geistes dem grade gegebenen Zusammenhange anzupassen. So nennt der Herr den Heiligen Geist den Geist der Wahrheit, wenn er davon spricht, dass derselbe die Jünger in alle Wahrheit leiten soll (Joh. 14, 17; 16, 13). Dass in Christi Auferstehung seine göttliche Macht erschienen, lässt sich deshalb sagen, weil der Herr durch seine eigne Kraft von den Toten erstand, wie er selbst bezeugt hat (Joh. 2, 19; 10, 18): „Brechet diesen Tempel, und am dritten Tage will ich ihn aufrichten.“ „Niemand nimmt mein Leben von mir … Ich habe Macht, es wieder zu nehmen.“ Denn aus dem Tode, dem er um der Schwachheit des Fleisches willen gewichen war, hat ihn nicht fremde Hilfe gerissen, sondern die Wirkungskraft seines vom Himmel stammenden Geistes.
V. 5. Durch welchen wir haben empfangen usw. Nachdem der Apostel die Beschreibung des Evangeliums beendet (die er einschieben musste, um die Bedeutung seines Amtes zu erklären), lenkt er zu seiner eigenen Berufung zurück, von welcher die Römer zu überzeugen ihm hoch anlag. Er nennt gesondert Gnade und Apostelamt. Diese nachdrückliche Zerteilung der Worte besagt doch nichts anderes als: „das aus Gnaden geschenkte Apostelamt“. Paulus deutet damit an, dass er die Aufnahme in diesen Kreis nicht der eigenen Würdigkeit, sondern ganz der göttlichen Gnade verdanke. Erscheint auch das Apostelamt wegen seiner Kämpfe, Mühen, Verfolgungen und Verachtung in der Welt nicht begehrenswert: vor Gott und seinen Heiligen ist seine Würde übergroß geachtet. Mit Recht gilt es demgemäß als eine Gnade, ein Apostel sein zu dürfen. Unter seinem Namen. Wörtlich: für seinen Namen. Dies deuten viele nach 2. Kor. 5, 20: die Apostel sind Boten für Christus, an Christi Statt; sie predigen das Evangelium in oder unter seinem Namen. Besser werden wir bei dem Namen Christi daran denken, dass Christus den Menschen bekannt gemacht werden soll. Wird doch das Evangelium gepredigt, damit wir glauben an den Namen des Sohnes Gottes (1. Joh. 3, 23). Und Paulus selbst heißt ein dazu auserwähltes Rüstzeug, dass er den Namen Christi zu den Heiden trage (Apg. 9, 15). „Für den Namen“ heißt also: zur Ausbreitung des Namens.
Den Gehorsam des Glaubens aufzurichten. Das ist: wir haben Befehl empfangen, das Evangelium zu allen Heiden zu bringen, und sie sollen demselben durch den Glauben gehorchen. Indem der Apostel den Zweck seines Berufes beschreibt, erinnert er die Römer zugleich an ihre Pflicht. Es ist, als ob er spräche: mir steht es zu, das mir befohlene Amt auszurichten, d. h. das Wort zu verkündigen; an euch ist es, dem Worte in allem Gehorsam zu lauschen, wenn anders ihr nicht den Beruf, welchen Gott mir gegeben, vereiteln wollt. Daraus schließen wir, dass der Herrschaft Gottes freventlich widersteht und deren ganze Ordnung verkehrt, wer die Predigt des Evangeliums unehrerbietig und verächtlich von sich stößt, deren Zweck doch ist, uns im Gehorsam dem Herrn zu unterwerfen. Hier lässt sich auch das Wesen des Glaubens erkennen: derselbe heißt Gehorsam, weil wir dem Gott, welcher uns durch das Evangelium zu sich ruft, durch den Glauben die rechte folgsame Antwort geben. Umgekehrt ist das Hauptstück aller Auflehnung gegen Gott der Unglaube. Hier ist also nicht wie Apg. 6, 7 bloß vom Gehorsam gegen den Glauben, sondern ganz eigentlich von dem Gehorsam gegen das Evangelium die Rede, welcher im Glauben besteht.
Unter allen Heiden …, unter welchen ihr auch seid. Es reichte nicht hin, von der Berufung des Paulus zum Apostelamt zu sprechen: sein Dienst bezog sich auch auf bestimmte Jünger. Darum fügt er hinzu, dass sein Amt sich auf alle Heiden erstrecke. Und alsbald nennt er sich noch deutlicher den Apostel der Römer, indem er sagt, dass auch sie zur Zahl der Heiden gehören, zu deren Prediger er bestellt ward. Allen Aposteln ist der Auftrag gemein, das Evangelium in der ganzen Welt zu predigen. Dadurch unterscheiden sie sich von den Hirten und Bischöfen (d. h. Pastoren und Ältesten), die an bestimmte Gemeinden gebunden sind. Dem Paulus aber war neben dem allgemeinen Bereich des apostolischen Amtes durch besondere Weisung Recht und Pflicht der Heidenmission übertragen.
V. 6. Berufene Jesu Christi. Diese Benennung fügt einen näheren Grund für den Anspruch des Apostels hinzu: Gott hatte bereits den gläubigen Römern ein Zeichen durch ihre Berufung gegeben, dass er ihnen Gemeinschaft am Evangelium schenken wolle. Sollte diese Berufung Bestand behalten, so durften sie den Dienst des Paulus nicht abweisen, welcher doch durch die gleiche Erwählung Gottes zum Dienste bestellt war. Ich verstehe also dieses Satzglied „Berufene Jesu Christi“ als eine genauere Erklärung: unter den Heiden seid auch ihr, als Berufene, und zwar Jesu Christi. Der Apostel will sagen: durch ihre Berufung sind sie Glieder Christi geworden. Denn in Christus wurden vom himmlischen Vater zu Kindern erwählt, die das ewige Leben erben sollen: aber die so Erwählten werden auch dem Schutze und der Treue Christi als ihres Hirten anbefohlen.
V. 7. Euch allen, die ihr zu Rom seid usw. Hier steht in schöner Ordnung verzeichnet, was an uns des Rühmens wert ist. Zuerst: Gott hat uns durch seine Güte und Liebe zu Gnaden angenommen. Zweitens: Er hat uns berufen. Endlich: Er hat uns zur Heiligkeit angenommen. Dies letzte findet statt, wenn wir unserer Berufung uns nicht entziehen. In dem allen wird uns eine überaus inhaltreiche Lehre dargeboten, die ich nur kurz anrühren und im Übrigen dem Nachdenken jedes Lesers überlassen will. An uns findet Paulus nichts Lobenswertes, worauf er das Heil gründen könnte. Er leitet es vielmehr aus dem Quell der freien Vaterliebe Gottes allein ab. Darin steht der Anfang, dass Gott uns liebt. Was aber wäre dieser Liebe Grund, als allein Gottes Güte? Von ihr hängt auch die Berufung ab, mit welcher Gott die Annahme zur Kindschaft bei denjenigen, die er sich zuvor frei erwählt hat, zur gegebenen Zeit versiegelt. Übrigens schließen wir auch aus dieser Wahrheit, dass niemand sich zur Zahl der wahrhaft Gläubigen rechnen darf, wenn er nicht gewisslich vertraut, dass Gott ihm, dem elenden Sünder, ohne Verdienst gnädig sei, und wenn er nicht, durch Gottes Güte erweckt, sich der Heiligkeit entgegenstreckt. Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinigkeit, sondern zur Heiligung (1. Thess. 4, 7).
Da der griechische Text an die zweite Person zu denken erlaubt, so sehe ich keinen Grund, jetzt in die dritte Person überzuspringen und etwa zu übersetzen: allen, die zu Rom sind. Gnade sei mit euch und Friede. Nichts Besseres lässt sich wünschen, als dass wir eine gnädigen Gott haben: darauf deutet die „Gnade“. In zweiter Linie scheint wünschenswert, dass uns von ihm Segen und Gelingen in allen Dingen zufließe: dies bedeutet der „Friede“. Denn, wie glücklich auch alles stehen mag: wenn Gott sich wider uns kehrt, so wird auch der Segen in Fluch verwandelt. So ist das einzige Fundament unseres Glücks Gottes Wohlwollen: dieses allein schafft, dass wir wahre und bleibende Freude genießen, und dass auch durch widriges Geschickt unser Heil gefördert wird. Daraus aber, dass der Friede vom Herrn erbeten wird, merken wir, dass alles Gute, das wir erfahren, dem Wohltun Gottes als rechte Frucht entsprießt. Auch das dürfen wir nicht übergehen, dass die Bitte um diese Güter sich zugleich an den Herrn Jesus richtet. Solche Ehre gebührt ihm, welcher nicht bloß das göttliche Erbarmen uns eröffnet und austeilt, sondern welcher in allen Dingen an der Regierung des Vaters teil halt. Recht eigentlich will der Apostel zu verstehen geben, dass alle Wohltaten Gottes uns durch Christus zufließen. Bei dem Worte „Friede“ denken manche lieber an die Ruhe des Gewissens. Ich leugne nicht, dass dieser Sinn zuweilen in dem Worte liegen kann. Da aber der Apostel hier ohne Zweifel uns die Fülle aller Güter vorstellen will, so erscheint die oben vorgetragene, von Bucer entlehnte Auffassung weit passender. Der Apostel will den Frommen die Fülle des Segens wünschen: so wendet er sich an Gottes Gnade als an die letzte Quelle; diese aber spendet uns nicht bloß ewiges Heil, sie ist die Ursache aller Güter auch in diesem Leben.
8 Aufs erste danke ich meinem Gott durch Jesum Christum euer aller halben, dass man von eurem Glauben in aller Welt sagt. 9 Denn Gott ist mein Zeuge, welchem ich diene in meinem Geist am Evangelium von seinem Sohn, dass ich ohne Unterlass euer gedenke 10 und allezeit in meinem Gebet flehe, ob sich´ s einmal zutragen wollte, dass ich zu euch käme durch Gottes Willen. 11 Denn mich verlangt, euch zu sehen, auf dass ich euch mitteile etwas geistlicher Gabe, euch zu stärken; 12 das ist, dass ich samt euch Ermunterung empfinge durch euren und meinen Glauben, den wir untereinander haben.
V. 8. Aufs erste. Hier beginnt eine überaus zweckmäßige Einleitung, in welcher Paulus mit Gründen, die aus der beiderseitigen Stellung abgeleitet sind, die Bereitschaft seiner Leser, ihn anzuhören, trefflich stärkt. Was die Stellung der Leser angeht, so ist solcher Grund die allgemein bekannte Tatsache ihres Glaubens, welche der Apostel erwähnt. Er gibt damit zu verstehen, dass diese öffentliche Anerkennung von Seiten der christlichen Gemeinden ihnen eine Pflicht auferlegt: sie können den Apostel des Herrn nicht verwerfen, ohne die allgemeine gute Meinung Lügen zu strafen; und dies wäre doch unmenschlich und eigentlich treulos. Dieses Zeugnis, mit welchem der Apostel anheben musste, stärkt also einerseits seine eigene Gewissheit, dass er williges Gehör finden werde, und erleichtert ihm, das Werk der Lehre und des Unterrichts jetzt anzugreifen; andererseits band es die Römer, die Autorität des Apostels nicht zu verachten. Was seine eigene Stellung betrifft, so muss die Bezeugung seiner tief gewurzelten Liebe die Leser zur Folgsamkeit bewegen. Nichts aber öffnet einem Berater williger die Herzen, als wenn er das Vertrauen gewinnt, dass er in reiner Absicht rate und täte. Von Einzelheiten scheint in erster Linie bemerkenswert, dass Paulus den Glauben der Leser lobt, aber mit einer Wendung, welche den Ursprung desselben auf Gott zurückführt. Wir lernen daraus, dass der Glaube ein Geschenk Gottes ist. Denn wenn danken heißt, Wohltaten anerkennen, so gestehen wir zu, unsern Glauben von Gott empfangen zu haben, wenn wir an Gott den Dank dafür erstatten. Wenn wir aber sehen, dass der Apostel seine Anerkennung überall mit Dank gegen Gott anhebt, so sollen wir erkennen, dass alles Gute, was wir haben, uns von Gott geschenkt ward. Auch wir mögen wohl eine solche Redeweise annehmen: wir werden dadurch eifriger werden, Gott als den Geber aller guten Gaben zu erkennen, und wir werden andere mit uns zu gleichem Sinne erwecken. Soll man diese Regel bei den geringsten Danksagungen beobachten, so am allermeisten, wenn es sich um den Glauben handelt, der eine einzigartige, nicht allen gleichermaßen zuteil werdende Gnadengabe Gottes ist. Weiter haben wir hier ein Beispiel dafür, wie wir unsern Dank durch Christus anbringen sollen (vgl. auch die apostolische Vorschrift Hebr. 13, 15): ganz ebenso durch Christus, wie wir ja auch durch seinen Namen Barmherzigkeit vom Vater erbitten und empfangen. Endlich nennt Paulus den Herrn seinen Gott. Das herrliche Vorrecht, so zu reden, besitzen allein die Gläubigen. Darunter verbirgt sich ja die Wechselbeziehung, welche die Verheißung ausdrückt (Jes. 30, 22): Ich will ihr Gott sein, sie sollen mein Volk sein. Indessen möchte ich hier diese Redeweise noch genauer aus dem besonderen Amt des Paulus erklären: sie weist auf den persönlichen Gehorsam hin, welchen er seinen Gott leistet, wenn er das Evangelium predigt. So nennt Hiskia den Herrn des Jesaja Gott, um diesem das Zeugnis eines wahren und treuen Propheten zu geben (Jes. 37, 4). So heißt Gott in besonderem Sinne Daniels Gott (Dan. 6, 21), weil Daniel ihm ohne Unterlass diente.
In aller Welt. Für sein Urteil über den Glauben der Römer wog dem Paulus die Aussage rechtsinniger Menschen soviel wie die der ganzen Welt. Denn über diesen Glauben, welchen sie verabscheuten, konnten die Ungläubigen natürlich kein verlässiges und gültiges Zeugnis geben. Sagt man von dem Glauben der Römer in aller Welt, so denken wir an die frohe Rede aller Gläubigen. Dass die Existenz einer Handvoll verachteter Menschen den Ungläubigen selbst in Rom entging, verschlägt nichts: bei deren Urteil, welches auch in der Tat nichts bedeutete, hielt Paulus sich nicht auf.
V. 9. Denn Gott ist mein Zeuge. Paulus beweist seine Liebe mit ihren Früchten. Hätte er die Römer nicht innigst geliebt, so würde er ihr Heil nicht so eifrig dem Herrn befohlen haben, so hätte er noch weniger einen so brennenden Eifer an die Förderung desselben gewendet. Jene Fürsorge und dieser Eifer sind sichere Zeichen der Liebe. Auf einem andern Stamme wachsen solche Früchte nicht. Um nun seiner Predigt Eingang zu schaffen, will Paulus die Leser besonders kräftig von seiner lauteren Zuverlässigkeit überzeugen: darum gebraucht er eine eidliche Versicherung, das sicherste Mittel, einer dem Zweifel ausgesetzten Behauptung die erwünschte Kraft und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Denn, wenn schwören heißt: Gott zum Zeugen für die Wahrheit unserer Rede aufrufen, so wird man ganz vergeblich bestreiten, dass der Apostel hier geschworen habe. Dennoch hat er Christi Vorschrift (Matth. 5, 33-37) nicht übertreten. Wir entnehmen daraus nur, dass Christus nicht wie der wiedertäuferische Aberglaube wähnt den Eid ganz abschaffen, sondern lediglich zur rechten Erfüllung des Gesetzes zurücklenken wollte. Das Gesetz aber erlaubt den Eid und verbietet nur Meineid und überflüssiges Schwören. Wollen wir also richtig schwören, so müssen wir die nüchterne Wahrhaftigkeit und gläubige Gewissenhaftigkeit zum Vorbilde nehmen, welche die Apostel in diesem Stück zeigen. Zum Verständnis der Formel sei bemerkt, dass, wenn wir Gott zum Zeugen anrufen, er auch im Falle der Unwahrheit als Rächer dastehen wird. Dies hat Paulus auch einmal in die Form gekleidet (2. Kor. 1, 23): „Ich rufe Gott zum Zeugen an auf meine Seele.“
Welchem ich diene in meinem Geist. Weltmenschen, welche Gottes spotten, pflegen seinen Namen in frevler Sicherheit zu missbrauchen. Demgegenüber sichert Paulus die eigene Glaubwürdigkeit durch eine Erinnerung an seinen frommen Sinn. Denn wo man Furcht und Ehrerbietung gegen Gott kennt, hütet man sich vor falschem Schwur. Weiter aber redet Paulus von einem Dienst im Geiste, zum Unterschiede von äußerlichem Schein. Es gibt ja viele Leute, die sich als Verehrer Gottes ausgeben und auch dem Schein nach solche sind. Deshalb bezeugt aber Paulus, dass er Gott von Herzen (in seinem Geiste) dient. Möglich, dass er auch an die Zeremonien des Alten Bundes denkt, mit denen die Juden Gott allein dienen zu können meinten. Er will da also sagen: diese Gebräuche übe ich nicht, aber ich bin doch ein Verehrer Gottes. So spricht er es auch Phil. 3, 3 aus: „Wir sind die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen und rühmen uns von Christus Jesus und verlassen uns nicht auf Fleisch.“ Er rühmt sich also, Gott in aufrichtiger, innerlicher Frömmigkeit zu dienen, die ja wahre Religion und Gottesverehrung ist. Des Weiteren beweist er durch ein Zeichen, dass er dem Herrn in Wahrheit dient: dies Zeichen ist seine Arbeit. Denn einen deutlicheren Beweis für jemandes Aufopferung zu Gottes Ehre kann es nicht geben, als die Selbstverleugnung, welche alle Lasten der Schande, der Dürftigkeit, des Todes und der Verhasstheit ohne Zögern auf sich nimmt, um Gottes Reich auszubreiten. Damit unterscheidet sich der Apostel von den Heuchlern, welche ganz etwas anderes wollen, als dem Herrn dienen: die meisten treibt der Ehrgeiz oder ähnliche Untugend; deshalb sind sie weit entfernt, treulich und von Herzen ihr Amt zu führen. Hier schöpfen wir eine heilsame Lehre, die den Dienern am Worte starken Mut einflößen kann, wenn sie hören, dass ihre Predigt des Evangeliums dem Herrn einen erwünschten und wertvollen Dienst leistet. Was mag aber wider sie sein, wenn sie doch wissen, dass Gott ihre Arbeit billigt und als einen wahren Gottesdienst annimmt? „Evangelium vom Sohne Gottes“ heißt es hier, weil Christus durch dasselbe verherrlicht wird: denn Christi Aufgabe war es, seine und eben dadurch des Vaters Herrlichkeit zu offenbaren.
Dass ich ohne Unterlass usw. Einen noch größeren Beweis für die Inbrunst seiner Liebe liefert des Apostels anhaltendes Gebet. Denn das war etwas Großes, dass er in keinem einzigen Gebet vergaß, ihrer zu gedenken. Natürlich spricht er nicht von jeder flüchtigen Anrufung Gottes, sondern nur von solchen Gebeten, bei welchen die Frommen, wenn sie sich zu ihnen die Zeit nehmen, alle andern Gedanken beiseite lassen, und zu welchen sie sich völlig zu sammeln pflegen. Denn leicht mochte dem Apostel irgendein plötzlicher Gebetsseufzer aufsteigen, ohne dass er dabei an die Römer dachte: aber so oft er ausdrücklich und absichtlich zu Gott betete, vergaß er neben andern auch sie nicht. Er spricht also von solchen Gebeten insonderheit, zu welchen die Heiligen in bestimmter Ordnung sich anschicken, wie wir ja auch wissen, dass der Herr selbst dafür die Einsamkeit gesucht. Dabei finden wir eine leise Andeutung, wie häufig und regelmäßig der Apostel so gebetet hat; denn er sagt, dass er solchem Gebet ohne Unterlass obliege.
V. 10. Und flehe, ob sich´ s einmal usw. Niemand glaubt an die Lebhaftigkeit unseres Eifers für irgendein Ding, wenn wir nicht bereit sind, dieselbe mit der Tat zu beweisen. Darum rühmt der Apostel seine Besorgnis um das Heil der Leser nicht bloß mit Worten, sondern fügt vor Gottes Angesicht als einen neuen Beweis seiner Liebe hinzu, dass sein Gebet sich darauf richtet, ihnen nützlich sein zu können. Zur Verdeutlichung des Gedankenfortschritts mögen wir ein „auch“ einschieben: „und ich flehe auch“ usw. Wenn er aber den Ausdruck wählt: dass ich zu euch käme durch Gottes Willen so erbittet er damit von Gott nicht etwa bloß Glück für die Reise, sondern ob seine Reise ein Glück sei, das ermisst er daran, ob sie mit Gottes Willen geschehen könne. Nach dieser Regel müssen sich alle unsere Gebetswünsche richten.
V. 11. Denn mich verlangt, euch zu sehen. Paulus konnte auch aus der Ferne den Glauben der römischen Christen durch seine Lehre stärken; aber weil die persönliche Gegenwart stets passenderen Rat finden lehrt, darum wünscht er nahe zu sein. Den Zweck seiner Absicht drückt er aber so aus, dass man sieht, er wolle nicht um seines, sondern um ihres Vorteils willen die Mühe auf sich nehmen. Unter geistlicher Gabe versteht er Vorzüge der Lehre, der Ermahnung oder der Weissagung, welche er sich bewusst war, von Gottes Gnade empfangen zu haben. Auf den rechten Gebrauch solchen Besitzes deutet das Wort „mitteilen“. Denn dazu hat recht eigentlich ein jeglicher seine Gaben empfangen, damit er sie den andern Gliedern mitteile (Röm. 12, 3; 1. Kor. 12, 11).
Euch zu stärken. Damit wird wieder etwas gemildert, was der Apostel soeben von der Mitteilung sagte. Es soll der Schein getilgt werden, als hielte Paulus die Leser für bedürftig, wieder in den ersten Anfangsgründen unterwiesen zu werden, als ob sie Christus noch nicht richtig kennen gelernt hätten. Er bietet ihnen also seine Hilfe an, um sie trotz aller bisherigen Fortschritte weiterzuführen. Denn der Stärkung bedürfen wir alle, bis wir das Maß des vollkommenen Alters Christi erreicht haben werden (Eph. 4, 13). Aber der Apostel unterbietet auch noch diese Bescheidenheit:
V. 12. Er verbessert gewissermaßen den bisher gebrauchten Ausdruck: nicht ein solcher Lehrer will er sein, der es verschmähte, auch wiederum von ihnen zu lernen. Er will sagen: so möchte ich nach dem Maß der mir verliehenen Gnade euch stärken, dass euer Beispiel meinem Glauben neue Frische bringt und wir vereinigt vorwärts streben. Siehe, wie tief lässt sich der wahrhaft fromme Sinn herab! Er weigert sich nicht. selbst von schwachen Anfängern Stärkung anzunehmen. Und doch redet hier nicht etwa eine erheuchelte Demut: denn so gering ist niemand in der Gemeinde Christi, dass er uns gar keinen Segen mitteilen könnte. Aber unser böser Stolz hindert uns, herüber und hinüber solche Frucht zu empfangen. Unser Hochmut und der Rausch unserer Selbstüberhebung lässt uns andere verachten, als ob wir sie nicht brauchten und uns selbst genug sein könnten. Mit Bucer übersetze ich lieber „Ermunterung“ als Trost. Denn das erstere passt besser in den Zusammenhang.
13 Ich will euch aber nicht verhalten, liebe Brüder, dass ich mir oft habe vorgesetzt, zu euch zu kommen (bin aber verhindert bisher), dass ich auch unter euch Frucht schaffte gleichwie unter andern Heiden. 14 Ich bin ein Schuldner der Griechen und der Ungriechen, der Weisen und der Unweisen. 15 Darum, soviel an mir ist, bin ich geneigt, auch euch zu Rom das Evangelium zu predigen.
V. 13. Ich will euch aber nicht verhalten. Der bisher bezeugte Eifer, die Römer persönlich besuchen zu wollen, müsste unglaubwürdig erscheinen, wenn Paulus nicht jede dafür gebotene Gelegenheit ergriffen hätte. Darum spricht er jetzt davon, dass es nicht an Versuchen, sondern nur an der Gelegenheit gefehlt habe. Die Ausführung des längst gehegten Planes wurde immer wieder verhindert. Wir lernen daraus, dass Gott oft die Pläne der Seinen stört, um sie zu demütigen und durch solche Demütigung zu gewöhnen, dass sie mit seiner Vorsehung rechnen und sich ganz von derselben abhängig machen. Und doch werden die Frommen nicht eigentlich von ihren Vorsätzen abgebracht: denn sie hegten keine Vorsätze ohne Gottes Willen. Mit solcher Sicherheit Zukunftspläne zu entwerfen, als stünde die Ausführung ganz bei uns, das ist die Art anmaßlichen Unglaubens, welche Jak. 4, 13 kräftig tadelt. Wenn Paulus sagt, er sei verhindert worden, so will dies nur so verstanden sein, dass Gott ihm wichtigere Geschäfte zuschob, die er ohne Schädigung der Kirche nicht liegen lassen durfte. Es ist ein Unterschied zwischen den Verhinderungen der Frommen und der Ungläubigen. Diese sehen sich erst dann gehindert, wenn Gott sie mit gewaltsamem Griffe der Bewegung beraubt. Jene betrachten schon als genügenden Hinderungsgrund, dass die Pflicht oder die Rücksicht auf die Erbauung des Nächsten ihnen etwas zu tun verbietet. Dass ich auch unter euch Frucht schaffte. Gemeint ist selbstverständlich die Frucht, welche einzusammeln der Herr seine Apostel gesandt hat. Joh. 15, 16: „Ich habe euch erwählet, dass ihr hingehet und Frucht bringet, und eure Frucht bleibe.“ Solche Frucht sammelten sie freilich nicht für sich, sondern für den Herrn: und doch redet Paulus davon wie von seinem Eigentum. Denn nichts ist den Frommen mehr eigen, als Gottes Ehre zu verbreiten: daran hängt ihre ganze Seligkeit. Dass er aber unter andern Heiden Frucht geschafft habe, erwähnt der Apostel, um den römischen Christen Mut zu machen: dessen fruchtbares Wirken unter soviel Heiden verspürt ward, der wird zu ihnen nicht leer kommen.
V. 14. Der Griechen und der Ungriechen, der Weisen und der Unweisen. Das erste Glied findet seine Erklärung durch das zweite. Wenn es die Pflicht und Schuldigkeit des Apostels erheischt, so darf man es ihm nicht als Anmaßung auslegen, dass er meint, selbst die hoch gebildeten, klugen und erfahrenen Römer noch etwas lehren zu können. Gottes Wohlgefallen war es, ihn auch den Weisen zum Lehrer zu setzen. Zwei Wahrheiten gilt es hier zu erwägen: den Weisen bietet Gottes Ordnung das Evangelium an; damit will der Herr alle Weisheit der Welt sich unterwerfen und will allen Scharfsinn, jegliche Wissenschaft und hohe Kunst unter die Einfachheit dieser Lehre erniedrigen. So rücken die Weisen auf eine Stufe mit den Unweisen und müssen so demütig werden, dass sie als Mitjünger unter dem einigen Meister Christus gelten lassen, die sie zuvor nicht einmal als eigene Jünger aufgenommen hätten. Andererseits dürfen von dieser Jüngerschaft die Unweisen nicht ausgeschlossen, ja die dürfen auch nicht im Entferntesten durch einen hohen Schein davon abgeschreckt werden. Denn Paulus war ihr Schuldner, und zwar ein vertrauenswürdiger; denn er zahlte, was er schuldig war. Hier werden sie finden, was sie fassen können. Hier empfangen auch alle Lehrer die beachtenswerte Regel, dass es gilt, sich auch den Unweisen und Törichten herablassend und freundlich anzupassen. Bei solchem Verfahren werden sie die Unreife mit größerem Gleichmut ertragen und unzählige Anstöße über sich ergehen lassen, welchen sie sonst unterliegen würden. Doch sollen sie wissen: die Schuldigkeit gegen die Toren erstreckt sich nicht so weit, dass um einer gar zu großen Nachgiebigkeit willen die Torheit bleiben dürfte, was sie ist.
V. 15. Darum, soviel an mir ist usw. Damit schließt der Apostel die Aussprache über seine Sehnsucht nach Rom. Es ist seine Pflicht, auch dort das Evangelium zu predigen und dem Herrn Frucht zu schaffen. Diesem Beruf zu folgen ist sein Wunsch, soweit es Gott erlaubt. 16 Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden vornehmlich und auch die Griechen. 17 Sintemal darin offenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie denn geschrieben steht: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben.“ 16 Ich schäme mich … nicht. Dies Wort kommt dem Spott der Ungläubigen zuvor und schiebt ihn achtlos zur Seite. Zugleich erhebt es die Würde des Evangeliums, damit niemand dasselbe den Römern verächtlich mache. Dabei kann man zwischen den Zeilen lesen, dass Paulus sich selbst vor der Welt verachtet sieht, wenn er sagt: ich schäme mich nicht. So bereitet der Apostel seine Leser vor, die Schmach des Kreuzes Christi zu tragen: sie mögen das Evangelium deshalb nicht geringer schätzen, weil sie es vom Hohn und Spott der Gottlosen überschüttet sehen. Vielmehr wird uns der hohe Wert des Evangeliums für die Frommen enthüllt. Fordert die Kraft Gottes unsere ganze Ehrerbietung, so sollen wir wissen: sie leuchtet im Evangelium. Ist Güte begehrens- und liebenswert -: das Evangelium ist dieser Güte Werkzeug. Denn es will uns selig machen. So erscheint es verehrungswürdig und liebenswert zugleich. Wir wollen dabei wohl beachten, welch unvergleichliche Würde Paulus der Predigt des Wortes zuschreibt, wenn er bezeugt, dass Gott eben in sie die Kraft gelegt habe, selig zu machen. Da ist nicht von irgendeiner geheimen Offenbarung die Rede, sondern von der mündlichen Predigt. Wie verachtet man also mutwillig Gottes Kraft, wie stößt man Gottes erlösende Hand von sich, wenn man sich dem Hören der Predigt entzieht! Weil aber Gottes Kraft nicht überall erfolgreich wirkt, sondern nur dort, wo der Geist als ein innerlich unterweisender Lehrer die Herzen erleuchtet, darum fügt der Apostel hinzu: alle, die daran glauben. Zur Seligkeit wird zwar das Evangelium jedermann angeboten, aber es beweist nicht überall seine Kraft. Dass es aber für die Gottlosen ein Geruch des Todes wird, das ist nicht die Folge seiner Natur, sondern ihres bösen Willens. Es offenbart nur eine Seligkeit und schneidet jede andere Hoffnung ab: wer dieser einzigen Seligkeit sich entzieht, empfängt im Evangelium gewissermaßen die Offenbarung seiner Verlorenheit. Weil also das Evangelium ohne Unterschied alle Menschen zur Seligkeit einlädt, so heißt es im eigentlichen Sinne eine selig machende Botschaft. Denn Christus ist darin, dessen eigentliches Amt es ist, selig zu machen, was verloren ist. Wer sich aber von ihm nicht selig machen lassen will, wird ihn als Richter kennen lernen. Übrigens bildet in der Heiligen Schrift die Seligkeit häufig den Gegensatz zum Verlorengehen. Daraus lässt sich abnehmen, um was es sich handelt. Weil das Evangelium uns frei macht von der Qual und dem Fluch des ewigen Todes, darum besteht die Seligkeit, welche es bringt, im ewigen Leben. Die Juden vornehmlich und auch die Griechen. Der Name Griechen umfasst hier alle Heiden, wie aus der Zweiteilung hervorgeht, welche doch die ganze Menschheit umspannen soll. Dabei bleibt den Juden ihr Vorzug, weil ihnen zunächst die Verheißung und Berufung galt. Aber die Heiden werden alsbald im zweiten Grade hinzugefügt.
V. 17. Sintemal darin offenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Dieser Satz erläutert und begründet die vorige Aussage, dass das Evangelium eine Kraft sei, selig zu machen. Wer Seligkeit, d. h. Leben, in der Gemeinschaft Gottes sucht, muss vor allen Dingen Gerechtigkeit suchen: Gerechtigkeit macht uns Gott angenehm, und nur wenn wir einen gnädigen Gott haben, können wir das Leben besitzen, welches im Genuss der göttlichen Güte besteht. Gottes Liebe ruht nur auf Gerechten, Ungerechtigkeit ist ihm verhasst. Es wird uns also eingeschärft, dass sich Seligkeit nur aus dem Evangelium schöpfen lässt: denn nirgends sonst hat Gott seine Gerechtigkeit geoffenbart, welche allein vom Verlorengehen erlöst. Diese Gerechtigkeit ist das Fundament der Seligkeit, und weil sie im Evangelium eröffnet ward, darum heißt das Evangelium eine Kraft, selig zu machen. Es gilt aber, genauer zu erwägen, welch seltenen und kostbaren Schatz uns der Herr im Evangelium schenkt: die Mitteilung seiner Gerechtigkeit. Unter „Gerechtigkeit Gottes“ verstehe ich diejenige, die vor Gott gilt, die in seinem Gerichte die Probe besteht. So heißt „Gerechtigkeit der Menschen“ eine solche, die nur vor Menschenurteil als Gerechtigkeit erscheint, die aber vielleicht in Wahrheit eitler Dunst ist. Ohne Zweifel schweben diesem Worte des Paulus viele Weissagungen vor, mit welchen der Geist Gottes auf die herrliche Gerechtigkeit Gottes in Christi künftigem Königreiche vorausdeutete. Andere übersetzen: „die Gerechtigkeit, die uns von Gott geschenkt wird.“ Nun kann ja dies zweifellos einen brauchbaren Sinn haben: weil Gott uns durch das Evangelium Gerechtigkeit schenkt, darum macht er uns selig. Immerhin scheint unsere Übersetzung besser zu passen. Aber ich will darüber nicht lange streiten. Viel wesentlicher erscheint, dass viele diese Gerechtigkeit nicht bloß in der Vergebung der Sünden bestehen lassen, sondern zum Teil auch in der Gnadengabe eines innerlich erneuerten Lebens. Ich aber verstehe die Sache so, dass uns Gott lediglich deshalb zum Leben annimmt, weil er uns in freier Gnade mit sich aussöhnt. Doch davon werden wir gegebenen Orts ausführlich handeln (zu 3, 21; 4, 6). An die Stelle des früheren Ausdrucks „alle, die daran glauben“ tritt jetzt der andere: „aus Glauben.“ Denn das Evangelium bietet die Gerechtigkeit aus, und der Glaube eignet sie sich zu. Und der Apostel fügt hinzu: in Glauben. Denn soviel unser Glaube wächst und in solcher Erkenntnis fortschreitet, um soviel wächst zugleich in uns die Erfahrung von der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und der Besitz dieser Gerechtigkeit schlägt sozusagen tiefere Wurzeln. Im Anfange unserer Erfahrung vom Evangelium zeigt sich uns zwar Gottes freundliches Angesicht zugekehrt, aber nur wie aus der Ferne: je mehr aber die Frömmigkeit ausreift, um soviel nähern wir uns gewissermaßen dem Herrn und schauen seine Gnade deutlicher und vertrauter.
Wie geschrieben steht. Jene Glaubensgerechtigkeit beweist der Apostel mit einem Spruch des Propheten Habakuk. In einer Stelle, welche das Gericht über die Stolzen weissagt, fügt derselbe hinzu: der Gerechten Leben stehe im Glauben. Nun leben wir aber vor Gott nicht ohne Gerechtigkeit: daraus folgt, dass gerade auch unsere Gerechtigkeit im Glauben beruhen muss. Die Zukunftsform des Zeitwortes erinnert dabei, dass das Leben des Gerechten in Ewigkeit währen wird. Es bleibt nicht allein in der Gegenwart, sondern in alle Zukunft. Auch die Gottlosen schmeicheln sich mit einem Trugbilde vom Leben; aber wenn sie sagen: es ist Friede, es hat keine Gefahr, wird sie das Verderben schnell überfallen (1. Thess. 5, 3). Sie haben also nur ein Schattenbild, das einen Augenblick währet: der Glaube dagegen allein ist es, der dem Leben ewige Dauer verleiht. Das kommt daher, dass er uns zu Gott führt und unser Leben in ihn hineinzieht. Denn der Apostel würde diesen Spruch nur höchst unpassender weise anführen, wenn die Meinung des Propheten nicht wäre, dass wir dann erst einen festen Stand gewinnen, wenn unser Glaube sich auf Gott stützt. Und sicherlich hängt er nur deswegen das Leben der Frommen an den Glauben, weil derselbe dem Stolz der Welt den Abschied gibt und allein unter Gottes Schutz seine Zuflucht sucht. Allerdings behandelt der Prophet diese Wahrheit nicht ausdrücklich, erwähnt also auch die frei geschenkte Gerechtigkeit nicht: aber aus dem Wesen des Glaubens lässt sich ersehen, dass der Prophetenspruch ganz wohl mit dem vorliegenden Gegenstande zusammenstimmt. Dieser Gedankengang ergibt auch, wie innerlich notwendig Glaube und Evangelium aneinander gekettet werden. Weil es nämlich heißt: der Gerechte wird kraft seines Glaubens leben -, so folgt daraus, dass man jenes Leben durch das Evangelium empfängt. Damit haben wir das Hauptthema des ersten Teiles des Briefes erreicht: wir werden gerecht gesprochen allein durch Gottes Erbarmen vermittelst des Glaubens. Dies sagen des Apostels Worte zwar noch nicht ausdrücklich. Aber der Zusammenhang wird alsbald ergeben, dass die auf den Glauben gegründete Gerechtigkeit sich ganz auf Gottes Erbarmen stützt.
18 Denn Gottes Zorn vom Himmel wird offenbart über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit aufhalten. 19 Denn was man von Gott weiß, ist in ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart, 20 damit dass Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man des wahrnimmt, an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt; also dass sie keine Entschuldigung haben, 21 dieweil sie wussten, dass ein Gott ist, und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott noch ihm gedankt, sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. 22 und haben verwandelt die Herrlichkeit es unvergänglichen Gottes in ein Bild gleich dem vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere.
V. 18. Gottes Zorn wird offenbart. Durch einen Gegensatz beweist der Apostel, dass man Gerechtigkeit nur durch das Evangelium bekommen kann: denn außerhalb derselben erscheinen alle Menschen der Verdammnis unterworfen. Also kann man allein durch das Evangelium selig werden. Zunächst folgt nun der Beweis für diese behauptete Verdammnis: der Bau der Welt und die herrliche Ordnung ihrer Teile hätte dem Menschen einen Anstoß zur Verherrlichung Gottes geben müssen -, aber niemand gedenkt ernstlich dieser Pflicht. So wird jedermann des Gottesraubes und gottlos-schändlicher Undankbarkeit schuldig. Einige Ausleger haben die Anschauung, als ob Paulus mit diesem Satz zum Thema kommen und also den eigentlichen Inhalt seiner Darstellung mit der Buße beginnen lasse. Ich glaube dagegen, dass er sich hier in den erforderlichen Kampf einlassen will: das, worum es geht, hat er bereits oben (1, 16.17) ausgesprochen. Er hat doch die Absicht, zu zeigen, wo das Heil zu finden sei. Oben hat er dargelegt, dass wir es einzig und allein im Evangelium erlangen können. Nun ist aber das Fleisch keineswegs bereit, sich so weit zu demütigen, dass es Gottes Gnade allein den Lobpreis für das Heil zollt. So erklärt denn Paulus alle Welt des ewigen Todes für schuldig. Daraus folgt denn: wir sind in uns selber allesamt verloren, und das Leben müssen wir also anderswoher erlangen. Im Übrigen wird eine genauere Erwägung einzelner Worte viel zum Verständnis des ganzen Gedankens beitragen. Zwischen gottlosem Wesen und Ungerechtigkeit unterscheiden manche in der Weise, dass sie das erstere als Frevel im Verhalten zu Gott, die zweite als Unbilligkeit im Verkehr mit den Menschen deuten. Da aber der Apostel schon im nächsten Satzgliede die Ungerechtigkeit mit der Verkehrung der Religion in Verbindung bringt, so beziehen wir beide Worte auf die gleiche Sache. „Alles gottlose Wesen“ ist dabei soviel wie: das gottlose Wesen aller Menschen, welche somit ausnahmslos schuldig gesprochen werden. Die eine Undankbarkeit gegen Gott wird aber mit doppeltem Worte bezeichnet, weil diese Sünde sich nach zwei Richtungen erstreckt. Gottloses Wesen ist der Raub göttlicher Ehre. Eine Ungerechtigkeit wird dieser Frevel aber unter dem Gesichtspunkte, dass er die Gott gehörige Ehre auf sich selber überträgt. Mit Zorn Gottes bezeichnet die Schrift nach menschlicher Sprechweise Gottes Strafe, weil wir uns den Strafenden mit erzürntem Angesicht vorzustellen pflegen. In Wirklichkeit soll Gott solche Erregung nicht zugeschrieben werden; das Wort ist nur aus der Empfindung des gestraften Sünders heraus geredet. Wenn es heißt, Gottes Zorn werde vom Himmel her offenbart, so macht uns dies sehr eindrücklich, dass wir rings um uns keine Errettung finden werden: so lang und weit der Himmel sich wölbt, ergießt sich Gottes Zorn über den ganzen Erdkreis. Die Wahrheit Gottes ist die wahre Gotteserkenntnis. Dieselbe aufhalten heißt: sie unterdrücken und verdunkeln, womit die Menschen gleichsam des Diebstahls bezichtigt werden. In Ungerechtigkeit ist soviel als: ungerechterweise.
V. 19. Denn was man von Gott weiß. Damit will der Apostel bezeichnen, was von Gott zu wissen nötig und nützlich ist. Er versteht darunter alles, was zur Verherrlichung der göttlichen Ehre dient, oder anders ausgedrückt, was uns dazu bewegen muss, Gott die Ehre zu geben. Diese eigentümliche Wendung gibt zu verstehen, dass unser Verstand nicht zu fassen vermag, was Gott an sich ist; damit ist eine feste Grenze gezogen, welcher sich auch Gott in seiner Offenbarung anpasst. Wahnsinn ist es, Gott an sich erkennen zu wollen; davon ruft uns der Heilige Geist, der Lehrer vollkommener Weisheit, zu demjenigen zurück, „was man von Gott weiß“. Wieso die Menschen das aber wissen, wird alsbald ausgeführt. Es ist offenbar in ihnen, was auch übersetzt werden kann: unter ihnen. Da aber der Apostel von einer so eindrücklichen Offenbarung redet, der man nicht entgehen kann, so ziehen wir die erstere Übersetzung vor: Jedermann spürt, dass Gottes Offenbarung ihm ins Herz geprägt ward. Gott hat es ihnen offenbart, will sagen: der Mensch ist geschaffen, um den Weltbau zu betrachten; er hat Augen empfangen, damit der Anblick dieses herrlichen Bildes ihn zum Schöpfer selbst führe.
V. 20. Gottes unsichtbares Wesen. An sich ist Gott unsichtbar; aber weil seine Majestät aus allen Werken und Geschöpfen leuchtet, mussten ihn die Menschen darin erkennen: denn das Geschöpf trägt das klare Gepräge seines Schöpfers. In diesem Sinne nennt der Apostel (Hebr. 11, 3) die Welt einen Spiegel oder eine Erscheinung unsichtbarer Dinge. Was man aber von Gott erkennen kann, wird nicht im Einzelnen aufgezählt, sondern wir erfahren nur, dass es gilt, zu Gottes Kraft und Gottheit zu gelangen. Der Schöpfer aller Dinge kann nur von Ewigkeit seinen Ursprung von sich selbst haben. Wo man dies verstanden, fasst man das göttliche Wesen: und dieses wiederum kann nicht ohne die einzelnen darin begriffenen göttlichen Eigenschaften gedacht werden. Also dass sie keine Entschuldigung haben. Hieraus lässt sich leicht abnehmen, wie viel den Menschen die allgemeine Offenbarung vermittelst der Schöpfung nützt. Dieselbe nimmt uns lediglich jede Entschuldigung in Gottes Gericht und unterwirft uns gerechter Verdammnis. Wir wollen folgenden Unterschied setzen: diese allgemeine Offenbarung der Herrlichkeit Gottes in seinen Geschöpfen ist in Hinsicht ihres eigenen Lichtes völlig klar, in Hinsicht unserer Blindheit aber ungenügend. Aber so blind sind wir nicht, dass wir Unwissenheit vorschützen dürften und dass wir nicht unseres verkehrten Wesens überführt werden könnten. Wir haben einen Eindruck von der Gottheit empfangen und müssen daraus folgern, dass wir ihr, wie sie auch sein mag, zu dienen haben. Aber hier geht plötzlich unser Verständnis zu Ende, noch bevor wir begriffen haben, wer und wie Gott ist. Darum erkennt der Apostel (Hebr. 11, 3) dem Glauben so viel Licht zu, dass er aus der Schöpfung der Welt wirklich etwas zu ersehen vermag. Mit Recht: denn nur unsere Blindheit ist schuld, dass wir das Ziel nicht erreichen. Wir sehen insoweit, dass wir keine Entschuldigung mehr haben. Diese doppelseitige Wahrheit bringt Paulus Apg. 14, 17 zu schönem Ausdruck: Gott hat in den vergangenen Zeiten die Heiden ihre eigenen Wege in Unwissenheit wandeln lassen; und doch hat er sich nicht unbezeugt gelassen, sondern hat vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben. Es ist also ein großer Unterschied zwischen dieser Gotteserkenntnis, welche nur soweit reicht, uns alle Entschuldigung zu nehmen -, und der Erkenntnis zum Heil, von welcher Christus Joh. 17, 3 redet, deren wir uns nach Jer. 9, 24 rühmen sollen.
V. 21. Dieweil sie wussten, dass ein Gott ist. Damit spricht der Apostel noch einmal deutlich aus, dass Gott aller Menschen Verständnis seine Erkenntnis nahe gebracht, d. h. er hat sich derartig in den Werken kundgetan, dass die Menschen unausweichlich erkennen müssen, was sie selbst nicht zu wissen begehrten: es ist ein Gott. Denn die Welt kann weder durch Zufall noch aus sich selbst geworden sein. Dabei müssen wir aber stetig festhalten, was auch sofort wieder klar wird, dass diese Erkenntnis auf halbem Wege stehen bleibt. Und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott. Man kann Gott nicht denken ohne seine Ewigkeit, Allmacht, Weisheit, Güte, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Seine Ewigkeit folgt daraus, dass er der Schöpfer aller Dinge ist. Seine Macht erkennt man daher, dass er alle Dinge in seiner Hand trägt und ihnen Bestand gibt. Seine Weisheit leuchtet aus der Ordnung der Gesetze. Seine Güte muss man erkennen, weil kein anderer Grund die Schöpfung und Erhaltung der Welt erklärt. Die Gerechtigkeit waltet in der Weltregierung, straft die Schuldigen und hilft den Unschuldigen. Die Barmherzigkeit trägt mit vieler Geduld der Menschen Verkehrtheiten. Gottes Wahrheit offenbart sich darin, dass er unveränderlich derselbe bleibt. Wer also Gott in seine Erkenntnis aufgenommen, muss seine Ewigkeit, Weisheit, Güte und Gerechtigkeit anbetend preisen. Wenn die Menschen diese Eigenschaften Gottes nicht anerkennen, sondern stattdessen an irgendein Phantasiegebilde sich hängen, so hören sie mit Recht den Vorwurf, dass sie Gott seiner Herrlichkeit berauben. Dabei heißt es mit vollem Rechte: sie haben nicht gedankt. Denn sie standen alle tief in der Schuld für Gottes Wohltaten. Schon die bloße Tatsache, dass Gott sich uns geoffenbart, verpflichtet uns zum Dank.
Sie sind in ihrem Dichten eitel geworden. D. h. sie haben der göttlichen Wahrheit den Rücken gekehrt und sind ihren eigenen törichten Gedanken gefolgt. So konnte ihr in Finsternis verirrter, anmaßender Unverstand die Wahrheit nicht mehr fassen: er sank immer tiefer in Irrtum und Lüge. Das ist die Folge jener Ungerechtigkeit, welche die Samenkörner der rechten Erkenntnis in ihrer Verderbtheit vernichtete, ehe sie nur aufsprießen konnten. V. 22. Da sie sich für weise hielten usw. Gottes Majestät in unser schwaches Begriffsvermögen zu spannen und sich Gedanken über Gott nach eigenem Sinne zu bilden, hat zu allen Zeiten bei Gelehrten und Ungelehrten als Weisheit gegolten. Der Apostel erklärt es für Anmaßung: denn die Menschen, welche in ihrer Niedrigkeit Gott die Ehre geben sollten, begannen sich selbst für weise zu halten und Gott in die eigene Niedrigkeit herabzuziehen. Den Grundsatz nämlich hält Paulus fest, dass niemand ohne eigene Schuld der wahren Anbetung Gottes fern steht. Stolze Überhebung hat Gott mit Narrheit gestraft.
V. 23. Und haben verwandelt usw. Nachdem die Menschen sich eine Anschauung von Gott gebildet, die ihrem fleischlichen Sinne entsprach, entfernten sie sich immer mehr von der Möglichkeit wahrer Gotteserkenntnis. Sie erdachten einen selbst gemachten und neuen Gott, ja sie setzten an Gottes Stelle ein Schattenbild. Das will der Apostel sagen, wenn er ausspricht: sie haben Gottes Herrlichkeit verwandelt. So ist´ s, wie wenn ein fremdes Kind untergeschoben wird. Dabei dient nicht zur Entschuldigung, dass sie trotz allem Gott im Himmel suchen und das Holz nicht für Gott selbst, sondern nur für sein Abbild halten. Denn gerade dies ist eine Beleidigung Gottes, dass man von seiner Majestät so grobe Gedanken hegt und sie mit solchem Abbilde zusammen zu bringen wagt. Von dieser frechen Torheit kann kein Stand unter den Heiden freigesprochen werden: nicht die Priester, noch die Gesetzgeber und Philosophen. Unter den letzteren hat selbst der sonst so besonnene Plato die Frage nach Gottes Gestalt aufgeworfen. Dass sie alle in ihrer Verblendung Gott irgendwie figürlich darstellen wollten, ist das deutlichste Merkmal ihrer groben und unsinnigen Phantasien über Gott. Zuerst haben sie Gottes Herrlichkeit in den Staub gezogen, indem sie dieselbe dem vergänglichen Menschen gleichmachten. Dies Wort „vergänglich“ setzt nicht nur der Menschen Sterblichkeit gegen Gottes Unsterblichkeit, sondern überhaupt Gottes unbefleckten Glanz gegen der Menschen niedriges Elend. Dann haben die Heiden diesen Frevel noch überboten und sind bis zu den Tieren und sogar zu deren hässlichsten Arten herabgestiegen. Noch unverhüllter kann sich die stumpfe Torheit nicht zeigen.
24 Darum hat sie auch Gott dahingegeben in ihrer Herzen Gelüste, in Unreinigkeit, zu schänden ihre eigenen Leiber an sich selbst, 25 sie, die Gottes Wahrheit haben verwandelt in die Lüge und haben geehrt und gedient dem Geschöpfe mehr denn dem Schöpfer, der das gelobt ist in Ewigkeit. Amen. 26 Darum hat sie Gott auch dahingegeben in schändliche Lüste: denn ihre Weiber haben verwandelt den natürlichen Brauch in den unnatürlichen; 27 desgleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Brauch des Weibes und sind aneinander erhitzt in ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihres Irrtums (wie es denn sein sollte) an sich selbst empfangen. 28 Und gleichwie sie nicht geachtet haben, dass sie Gott erkenneten, hat sie Gott auch dahingegeben in verkehrten Sinn, zu tun, was nicht taugt, 29 voll alles Ungerechten, Hurerei, Schalkheit, Geizes, Bosheit, voll Neides, Mordes, Haders, List, giftig, Ohrenbläser, 30 Verleumder, Gottesverächter, Frevler, hoffärtig, ruhmredig, Schädliche, den Eltern ungehorsam, 31 Unvernünftige, Treulose, Lieblose, unversöhnlich, unbarmherzig. 32 Sie wissen Gottes Gerechtigkeit, dass, die solches tun, des Todes würdig sind, und tun es nicht allein, sondern haben auch Gefallen an denen, die es tun.
V. 24. Die Gottlosigkeit ist ein verborgenes Übel, und es lässt sich als solches leicht verheimlichen. Darum schreitet der Apostel zu einem handgreiflichen Beweise, um jede Ausflucht abzuschneiden. Aus der verborgenen Gottlosigkeit sind Früchte erwachsen, welche nur als offenbare Gerichte des göttlichen Zornes verstanden werden können. Gottes Zorn aber verfährt immer gerecht: also muss verdammenswerte Schuld vorausgegangen sein. Der Apostel beleuchtet also der Menschen Abfall und Untreue durch ihre Früchte: die Abkehr von Gottes Güte hat vielgestaltiges Verderben und tiefe Verkommenheit als ein Gericht Gottes nach sich gezogen. Dabei entsprachen die Laster der Menschen innerlich notwendig ihrer zuvor behaupteten Gottlosigkeit -, ein deutliches Zeichen der gerechten Strafe. Nichts pflegt dem Menschen mehr anzuliegen als seine Ehre: der Inbegriff seiner Blindheit besteht aber darin, dass er diese Ehre wegwirft. So empfängt er die gerechte Strafe für die der Ehre Gottes angetane Schmach. Dieser eine Gedanke beherrscht in immer neuen Wendungen das Kapitel bis zum Ende: denn die Sache erfordert große Deutlichkeit. Über die Art und Weise, wie Gott den Menschen in das Laster hineinstößt, bedarf es hier keiner langen Erörterung. Soviel ist gewiss, dass Gott diesen Fall nicht bloß zulässt und duldet, sondern als gerechter Richter derartig anordnet, dass die Menschen teils von ihrer eigenen Lust teils vom Satan in diesen Strom des Verderbens hineingerissen werden. Deshalb schreibt der Apostel nach der geläufigen Denkweise der Schrift: Gott hat sie dahingegeben. Aus diesem Worte darf man nicht die Ansicht herauspressen, dass wir lediglich durch Gottes Zulassung in Sünde fallen. Denn gewiss hat uns Gott dem Satan als dem Vollstrecker seines Zornes, gewissermaßen wie dem Henker, übergeben: aber derselbe treibt sein Werk nicht bloß, weil Gott ihn gewähren lässt, sondern weil er es als Richter verordnet hat. Darum wird Gott doch nicht grausam, oder wir unschuldig. Denn Paulus sagt deutlich, dass niemand in des Satans Gewalt gerät, der er nicht wert wäre. Nur die Wahrheit müssen wir behaupten, dass der Ursprung der Sünde nicht in Gott liegt: ihre Wurzeln stecken ganz und gar im Sünder selbst. Denn es steht unerschütterlich fest (Hos. 13, 9): „Israel, du bringest dich in Unglück; bei mir steht allein dein Heil.“ Die Verbindung, welche der Apostel zwischen den Gelüsten des menschlichen Herzens und der Unreinigkeit herstellt, zeigt, was alles ein sich selbst überlassenes Herz gebären mag. Die Worte „an sich selbst“ weisen sehr nachdrücklich darauf hin, welche tiefen und unauslöschlichen Brandmale die Frevler ihrem eigenen Leibe zufügen.
V. 25. Die Gottes Wahrheit haben verwandelt usw. Der bereits (V. 23) angegebene Grund wird hier unserm Nachdenken noch einmal mit veränderten Worten eingeprägt. Wer Gottes Wahrheit in Lüge verwandelt, schmälert seine Ehre. Und es ist nur gerecht, dass denjenigen allerlei Schande anhängt, welche Gottes Ehre zu rauben und ihm Schmach zuzufügen sich erkühnt haben. Und haben geehret usw. Gemeint ist die Sünde des eigentlichen Götzendienstes. Die religiöse Ehre, welche man der Kreatur gibt, ist dem Herrn freventlich geraubt. Dass man in den Bildern Gott selbst anbeten will, ist keine Entschuldigung: denn Gott will solchen Dienst nicht. Eine Ehre erweist man damit nicht dem wahren Gott, sondern einem Träume des Fleisches. Den Zusatz der da gelobt ist usw. verstehe ich als einen absichtlichen Hieb gegen den Götzendienst, in dem Sinne: Gott allein gebührt Ehre und Anbetung, davon soll man ihm nicht das Geringste nehmen.
V. 26. Darum hat sie Gott auch dahingegeben. Wie nach einem Zwischensatze kehrt die Rede zu dem Hauptgedanken von der Rache Gottes zurück: als erstes Beispiel derselben verzeichnet sie die unnatürliche Fleischeslust, ein deutliches Zeichen, dass die verderbte Menschheit auf, ja unter die Stufe der Tiere durch Verkehrung der Natur herabsank. Dann folgt die lange Reihe der Laster, welche teils allezeit herrschten, teils hier und dort besonders sich breitmachten. Dabei trägt es nichts aus, dass freilich nicht jeder einzelne Mensch mit diesem ganzen Haufen von Lastern behaftet erscheint. Es genügt für die Feststellung des allgemeinen schmachvollen Zustandes, dass jeder ohne Ausnahme sich gezwungen sieht, irgendein Brandmal zuzugestehen.
Schändliche Lüste sind solche, die auch nach menschlichem Urteil als Schande gelten. Diese entsprechen aber der Schändung Gottes.
V. 27. Der Lohn ihres Irrtums. Wer vor dem hellen Lichte Gottes mutwillig die Augen verschließt, wer Gottes allein wahrhaft erleuchtende Herrlichkeit nicht sehen, und, soviel an ihm ist, auslöschen will, der verdient blind zu werden am lichten Tage, damit er sich selbst vergesse und nicht mehr wisse, was recht ist.
V. 28. Und gleich wie sie nicht geachtet haben usw. Beachte das feine Wortspiel, dessen Gleichklang Sünde und Strafe innerlich miteinander verbindet: gleichwie sie verworfen haben, in der Erkenntnis Gottes zu verharren, die doch allein unsere Sinne zu rechter Einsicht leitet, so hat Gott ihnen einen verworfenen Sinn gegeben, der verlernt hat, das Böse zu verwerfen. Die haben die Erkenntnis Gottes verworfen, weil sie derselben nicht mit gebührendem Eifer nachgingen und ihre Gedanken absichtlich von Gott abwendeten. Zu tun, was nicht taugt. Weil der Apostel bisher nur jenes scheußliche, zwar weit, aber doch nicht allgemein verbreitete Laster beispielsweise genannt hatte, so beginnt er nun, schwere Fehler aufzuzählen, von denen niemand frei gefunden wird. Was nicht taugt -, dies zielt auf jegliche Unvernunft und Pflichtwidrigkeit. Das alles sind Zeichen eines verkehrten Sinnes, dass die Menschen ohne Bedenken solchen Fehlern sich hingeben, welche schon der gemeine Menschenverstand verwirft.
V. 29. In der Aufzählung der Laster würde man vergeblich versuchen, eines aus dem andern abzuleiten. Paulus schreibt, ohne einen Zusammenhang zu berücksichtigen, wie ihm die Dinge in den Sinn kommen. Wir erklären kurz einzelne Stücke. Ungerecht handelt, wer Rechtsansprüche verletzt und nicht jedem das Seine gibt. Die alsbald genannte Bosheit ist dagegen jene Verkehrtheit des Sinnes, die dazu neigt, dem Nächsten Schaden zu tun. Unter dem Hader wird Paulus Streitereien, zänkischen und unruhigen Sinn verstehen.
V. 30. Ohrenbläser und Verleumder unterscheiden sich folgendermaßen: die ersteren stören die Freundschaft zwischen guten Menschen durch heimliche Einflüsterungen, säen Hass uns Zwiespalt und verletzen dadurch Unschuldige. Die tief gewurzelte Bosheit der Verleumder schont keinen guten Ruf. Sie fallen in wahrem Wohlbehagen an der Lästerung über jeden her, er mag es verdienen oder nicht. Gottesverächter, nicht Gottverhasste, obgleich das griechische Wort an sich auch dieses bedeuten könnte: aber es wäre nicht abzusehen, weshalb Paulus die Reihe der Laster durch Angabe einer Strafe unterbrechen sollte. Gemeint sind Leute, welche sich von Gott abwenden, weil seine Gerechtigkeit ihren Verkehrtheiten im Wege steht. Frevler sind schwere Verbrecher, welche Räubereien, Diebstähle, Brandstiftungen, Giftmorde usw. begehen. Hoffärtig sind Menschen, welche hoch über alle andern herfahren, jedermann von oben herab behandeln und sich mit niemand auf gleiche Stufe stellen wollen. Ruhmredig ist, wer ein eitles, vermessenes Selbstvertrauen zur Schau trägt.
V. 31. Treulose Menschen kennen keine Pflichten gegen die Gemeinschaft: sie zerreißen dieselbe freventlich und zeigen sich unzuverlässig und wankelmütig. Lieblosen Menschen fehlt der Sinn für die menschliche Hingabe und Hilfsbereitschaft, welchen schon die Natur uns lehren kann. Aus der Tatsache, dass hier die Unbarmherzigkeit unter den Zeichen der menschlichen Verderbtheit genannt wird, zieht Augustin gegenüber den selbstgenugsamen stoischen Philosophen den Schluss, dass die Barmherzigkeit eine eigenartige Tugend der Christen sei.
V. 32. Sie wissen Gottes Gerechtigkeit usw. Hiermit beschreibt der Apostel einen Grad des Verderbens, welcher die lasterhaften Taten an sich noch überbietet. Nichts haben die Menschen an der zügellosesten Frechheit im Sündigen fehlen lassen: sie haben den Unterschied von Gut und Böse ausgeglichen, und Dinge finden ihren Beifall, von denen sie recht gut wissen, dass Gott sie verurteilt und dass sie ihm missfallen. Diese Schamlosigkeit, welche sich im Laster spiegelt, welche bei sich selbst Fehler für Tugenden erklärt und bei andern das Böse durch Rat und Beifall mehrt, bezeichnet die höchste Stufe der Verworfenheit. So beschreibt die Schrift die hoffnungslose Schlechtigkeit (Spr. 2, 14; Jer. 11, 15): „Wenn sie übel tun, sind sie guter Dinge darüber.“ Solange ein Mensch sich noch schämen kann, mag ihm wohl geholfen werden. Wo aber die gewohnheitsmäßige Sünde eine so hochgradige Schamlosigkeit erzeugt hat, dass Laster als lobenswerte Tugenden gelten, da ist alle Hoffnung auf Umkehr geschwunden.
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Johannes Calvin
1 Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der da richtet. Denn worin du einen andern richtest, verdammst du dich selbst; sintemal du eben dasselbe tust, was du richtest. 2 Denn wir wissen, dass Gottes Urteil ist recht über die, solches tun.
V. 1. Diese Strafpredigt richtet sich gegen die Heuchler, welche dem menschlichen Auge einen Schein äußerlicher Heiligkeit vorspiegeln und welche zuletzt auch vor Gott so sicher werden, als hätten sie allen seine Ansprüchen Genüge geleistet. Zu diesem scheinheiligen Geschlechte, welches durch den zuvor aufgestellten „Lasterkatalog“ sich nicht getroffen fand, wendet sich Paulus nun, nachdem die gröberen Laster hinreichend abgehandelt: denn keiner sollte sich der Gerechtigkeit vor Gott noch rühmen dürfen. Die sehr durchsichtige Beweisführung nimmt solchen Heuchlern alle Entschuldigung, weil auch sie Gottes gerechtes Gericht kennen und trotzdem das Gesetz übertreten. Paulus gibt zu verstehen: wenn du auch die Laster der andern nicht billigst, ja dich geflissentlich als Feind und Richter des Lasters aufspielst, so hast du doch keine Entschuldigung, weil du bei ehrlicher Betrachtung dich selbst von solchen Fehlern nicht frei finden wirst. Denn worin du einen andern richtest usw. Damit steigert sich die Rede: du bist doppelt verdammlich, weil du deine eigenen Fehler bei andern aufsuchst und unter Anklage stellst. Es ist ja eine bekannte Wahrheit, dass, wer von Andern Rechenschaft über ihr Leben fordert, sich selbst in besonderem Maße zur Reinheit, Zucht und jeglicher Tugendübung verpflichtet. Lässt er sich aber die Fehler zu schulden kommen, die er andern vorhält, so verdient er keine Gnade. Sintemal du eben dasselbe tust. Mit diesem Tun muss nicht gerade die äußerliche Handlung gemeint sein: es deutet vielmehr auf die innere Gesinnung. Denn die Sünde wurzelt recht eigentlich im Herzen. Darum fällt unser Urteil auf uns selbst zurück. Der Tadel, den wir aussprechen, kann ja nicht auf die Person des Diebes, des Ehebrechers, des Verleumders usw. beschränkt werden. Er trifft die Sünde als solche -, und deren Keime stecken auch in uns.
V. 2. Denn wir wissen, dass Gottes Urteil usw. Paulus will den Heuchlern den Selbstbetrug austreiben: es hilft ihnen gar nichts, dass die Welt sie lobt, oder dass sie sich selbst freisprechen. Denn eine viel strengere Prüfung wartet ihrer im Himmel. Wenn Paulus uns der inneren Befleckung bezichtigt, die doch Menschen nicht sehen, also auch nicht beweiskräftig feststellen können, so zieht er uns damit vor das Gericht Gottes, vor dem auch die Finsternis licht ist, welchem niemand entgehen wird. Gottes Urteil aber ist recht in doppeltem Betracht: es straft die Sünde ohne jedes Ansehen der Person, bei der sie festgestellt wird; und es gründet sich nicht auf den äußeren Schein: man befriedigt es nicht mit Werken, die nicht aus reinem Herzen kommen. Keine Maske zur Schau getragener Frömmigkeit wird Gottes Gericht abhalten, in die verborgenen Winkel der Sünde einzudringen.
3 Denkst du aber, o Mensch, der du richtest die, so solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen werdest? 4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmütigkeit? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? 5 Du aber nach deinem verstockten und unbußfertigen Herzen häufest dir selbst Zorn auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, 6 welcher geben wird einem jeglichen nach seinen Werken: 7 Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben; 8 aber denen, die da zänkisch sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit, Ungnade und Zorn; 9 Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die da Böses tun, vornehmlich der Juden und auch der Griechen; 10 Preis aber und Ehre und Friede allen denen, die da Gutes tun, vornehmlich den Juden und auch den Griechen.
V. 3. Denkst du aber, o Mensch usw. Die bisherigen Sätze hatten das Ziel erreicht, Menschen, die sich mit selbst gemachter Heiligkeit betrügen, im Gerichte Gottes und des eigenen Gewissens zum Einverständnis ihrer Sündhaftigkeit zu bewegen. Nun gestaltet sich die Rede zu strengerem und eindringlichem Vorwurf. Und das ist nötig: denn derartige Menschen pflegen sich in eine wunderbare Sicherheit zu hüllen. Man muss ihr falsches Selbstvertrauen schon heftig angreifen. Hier lernen wir die beste Methode für die Erschütterung des heuchlerischen Selbstbetrugs kennen: die Menschen müssen aus ihrer Trunkenheit aufgeweckt und in das Licht des göttlichen Gerichts gestellt werden. Dass du dem Urteil Gottes entrinnen werdest. Die Schlussfolgerung steigt vom Geringeren zum Größeren auf: schon das irdische Gericht straft die Missetäter, wie viel mehr wird Gott, der einige vollkommene Richter, sie strafen! Ein göttlicher Triebe leitet die Menschen an, Verbrechen zu ahnden: aber solches Verfahren ist nur ein trübes und mattes Abbild des göttlichen Gerichts. Wie töricht ist es, zu glauben, wir könnten dem Urteil Gottes entrinnen, da wir doch unsere Mitmenschen unserm vernichtenden Urteil nicht leicht entgehen lassen! Sehr nachdrücklich wiederholt der Apostel die Anrede: o Mensch! So wird der Mensch seinem Gott gegenüber gestellt.
V. 4. Oder verachtest du usw. Dies könnte ein anderweitiger Erklärungsgrund für die Sicherheit der Menschen sein sollen. Und so verstehen es in der Tat einige Ausleger. Ich deute den Satz lieber als einen voreiligen Schluss, welchen viele Leute aus ihrem gegenwärtigen Wohlergehen auf den Ausfall des göttlichen Gerichts ziehen könnten. Werkheilige Menschen lassen sich ja leicht durch glückliche Erfolge zu dem hochmütigen Irrtum verleiten, als hätten sie Gottes Gnade mit ihren guten Taten verdient, wodurch sie natürlich noch mehr in der Leichtfertigkeit ihres Umgangs mit Gott bestärkt werden. Solcher Anmaßung tritt der Apostel entgegen und zeigt, dass Gott es ihnen äußerlich wohl gehen lässt, nicht etwa, weil sie ihm besonders gefielen, sondern ganz im Gegenteil, um sie als Sünder zu sich zu bekehren. Wo also nicht Gottesfurcht herrscht, da ist Sicherheit im Glück nur Verachtung und Spott der göttlichen Güte. Daraus folgt, dass Gott dereinst nur kräftiger bestrafen wird, die er in diesem Leben geschont hat: denn sie haben zu ihren übrigen Sünden die Verachtung des freundlich - lockenden Bußrufs gefügt.
Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte usw. Gott zeigt uns durch seine Güte, dass wir uns zu ihm kehren müssen, wenn wir es gut haben wollen; und zugleich macht er uns damit Mut, auf seine Gnade zu hoffen. Gottes Güte in anderem Sinne gebrauchen heißt sie missbrauchen. Und doch fordert die Absicht dieser Güte eine etwas verschiedene Deutung, je nachdem wohin sie sich richtet: wenn Gott seinen Knechten Freundlichkeiten und Wohltaten im Irdischen erweist, so enthüllt er ihnen als solchen Zeichen allerdings seine Gnade und gewöhnt sie zugleich, in ihm den Inbegriff aller Güte zu suchen. Trägt er aber Gesetzesverächter mit der gleichen Sanftmut, so will gewiss seine Gütigkeit ihren Widerstand brechen: aber seine gegenwärtige Gnade beweist Gott solchen Menschen noch nicht; er will sie nur zur Buße leiten. Wollte aber jemand sagen, dass Gott doch tauben Ohren predige, solange er die Herzen nicht innerlich anrührt so diene zur Antwort: anklagen darf man dabei nichts als die eigene Verkehrtheit.
V. 5. Nach deinem verstockten und unbußfertigen Herzen usw. Wo man sich gegen Gottes Lockungen verhärtet, erwächst ein unbußfertiges Wesen. Wer aber nicht um Besserung und Bekehrung sich besorgt zeigt, versucht Gott offensichtlich. Aus dieser wichtigen Stelle lernen wir die schon soeben berührte Wahrheit: die Gottlosen häufen sich nicht allein täglich schweren Gotteszorn auf, solange sie leben, sondern gerade auch die göttlichen Gaben, die sie fortwährend brauchen und missbrauchen, werden ihnen zum Gerichte dienen: denn sie müssen von allem Rechenschaft geben. Was ihnen aber zur schwersten Schuld gereicht, wird dereinst offenbar werden, dass sie nämlich durch die Güte Gottes, die sie bessern sollte, sich haben schlechter machen lassen. Hüten wir uns, durch Missbrauch der Gaben Gottes uns solche Last zu häufen! Auf den Tag des Zorns. Jetzt sammeln die Gottlosen Gottes Unmut wider sich: aber dereinst erst wird dessen Gewalt sich auf ihr Haupt entladen. Sie häufen verborgenes Verderben, welches einst aus Gottes vorbehaltener Macht hervorbrechen wird. Der Tag des Jüngsten Gerichts heißt aber Tag des Zornes im Hinblick auf die Gottlosen: für die Gläubigen ist er ein Tag der Erlösung. So wandeln sich auch andere Heimsuchungen Gottes für die Gottlosen in Furcht und Schrecken: dem Frommen sind sie lieb und süß. So oft ferner die Schrift der Nähe Gottes gedenkt, heißt sie die Frommen fröhlich springen: wo aber Gott zu den Verworfenen sich kehrt, erregt er Zittern und Grausen. „Dieser Tag“, sagt Zeph. 1, 15, „ist ein Tag des Grimms, ein Tag der Trübsal und Angst, ein Tag des Wetters und Ungestüms, ein Tag der Finsternis und Dunkels, ein Tag der Wolken und Nebel.“ Vgl. auch Joel 2, 2. Auch Amos 5, 18 ruft aus: „Wehe denen, die den Tag des Herrn begehren! Was soll er euch? Denn des Herrn Tag ist Finsternis und nicht Licht.“ Das Wort Offenbarung deutet auf die endliche klare Enthüllung des göttlichen Gerichts, dessen undeutliche Spuren zwar schon täglich sich zeigen, dessen vollen Ausbruch aber erst jener Tag des Zornes bringen wird. Dann werden die Bücher aufgetan, die Schafe von den Böcken geschieden, der Weizen vom Unkraut gereinigt.
V. 6. Welcher geben wird einem jeglichen usw. Weil Paulus es mit blinden Scheinheiligen zu tun hat, die ihre Herzensverkehrtheit mit der Schminke irgendwelcher hohlen Werke hinreichend bedeckt glauben, so beschreibt er eine wirkliche Gerechtigkeit aus Werken, welche wohl vor Gott bestehen könnte. Es soll eben niemand glauben, dass es zur Abfindung Gottes hinreicht, Worte und bloßen Tand oder Blätter statt der Früchte zu bringen. Dieser Ausspruch ist nicht so anstößig, wie er zu sein scheint. Denn wenn Gottes gerechte Strafe über die Verworfenen ergeht, so empfangen sie, was sie verdient haben. Und andererseits: weil Gott zuerst heilig macht, die er dereinst herrlich machen will, so empfangen auch in ihnen die guten Werke ihre Krone, aber nicht aus Verdienst. Dies kann man aus unserem Satze nicht herauslesen: derselbe sagt nur, dass gute Werke belohnt werden, keineswegs aber sagt er, dass sie an sich etwas wert sind oder einen bestimmten Preis beanspruchen könnten. Denn das ist töricht, aus dem Gedanken des Lohnes auf ein Verdienst zurück zu schließen.
V. 7. Mit Geduld. Diese Geduld ist mehr als bloße Ausdauer, die nicht müde wird, Gutes zu tun: sie begreift auch die für den Christen unentbehrliche Widerstandskraft gegen das Leiden in sich, welche vielerlei Anfechtungen erduldet und dennoch standhält. Denn Satan lässt es nicht zu, dass wir graden Wegs zum Herrn kommen: er wirft uns zahllose Hemmnisse vor die Füße, um unsern Lauf in falsche Bahn zu lenken. Dass aber die Gläubigen mit Geduld in guten Werken nach Preis und Ehre und vergänglichem Wesen trachten, will nicht besagen, dass sie etwas anderes, Besseres und Höheres suchten als Gott selbst: aber wenn sie ihn haben wollen, müssen sie sich zugleich nach den Gütern seines Reiches ausstrecken. Und diese sind mit diesen Worten gemeint. Der Sinn ist: Gott wird denen das ewige Leben schenken, welche durch ihr Trachten nach guten Werken beweisen, dass sie etwas Besseres suchen als das vergängliche Wesen.
V. 8. Die das zänkisch sind und der Wahrheit nicht gehorchen. Zänkisch, d. h. aufrührerisch und widerspenstig gegen Gott, sind die Scheinheiligen, welche mit ihrer groben und trägen Abneigung gegen wirklichen Gehorsam tatsächlich Gottes spotten. Unter Wahrheit sind kurzweg die Anordnungen des göttlichen Willens zu verstehen, welcher allein uns über die Wahrheit Licht gibt. Das ist nämlich das gemeinsame Kennzeichen aller Gottlosen, dass sie viel lieber die Knechtschaft der Ungerechtigkeit als Gottes Joch auf sich nehmen: gehorchen sie auch zum Scheine, so widerstreben und widerstreiten sie doch dem Worte Gottes hartnäckig und unaufhörlich. Die offenbar Abtrünnigen treten der Wahrheit offen entgegen: die Scheinheiligen trennen sich von ihr in feinerer Weise durch selbst erwählten Gottesdienst. Und der Apostel fügt hinzu, dass solche eigenwilligen Menschen der Ungerechtigkeit dienen. Denn einen Mittelweg gibt es nicht: entweder nimmt man Gottes Gesetz ganz auf sich oder man übergibt sich dem Dienst der Sünde. Darin offenbart sich die gerechte Strafe über den zügellosen Eigenwillen, dass der Sünde Knecht wird, wer Gott den Gehorsam versagt.
V. 9. Trübsal und Angst sind die notwendige Folge dessen, was kurz zuvor steht: Ungnade und Zorn Gottes. Also mit nicht weniger als vier Worten beschreibt der Apostel das Unglück der Gottlosen, obgleich hierfür wie für das Glück der Frommen je ein Wort wohl ausreichend gewesen wäre: aber der hier wie dort ausführlichere Ausdruck soll einerseits die Furcht vor Gottes Zorn, andererseits die Sehnsucht nach Christi Gnade heftiger entzünden. Gottes Gericht muss uns in lebhaften Farben vor die Augen gemalt werden, wenn wir es lebhaft fürchten sollen. Und um einen brennenden Eifer für das zukünftige Leben zu erwecken, bedarf es vieler Lockmittel.
Vornehmlich der Juden usw. Ohne Zweifel werden hier von den Juden die Heiden ganz im Allgemeinen unterschieden. Denn an die Stelle des nur scheinbar engeren Begriffes „Griechen“ tritt alsbald (V. 14) das deutlichere Wort „Heiden“. Die Juden aber stehen hier voran, weil sie vor andern die Verheißungen und Drohungen des Gesetzes besaßen. Paulus gibt zu verstehen, dass dies die Ordnung des göttlichen Gerichtes ist, bei den Juden anzuheben und von dort aus den ganzen Erdkreis zu umspannen.
11 Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott. 12 Welche ohne Gesetz gesündigt haben, die werden auch ohne Gesetz verloren werden; und welche unter dem Gesetz gesündigt haben, die werden durchs Gesetz verurteilt werden 13(sintemal vor Gott nicht, die das Gesetz hören, gerecht sind, sondern die das Gesetz tun, werden gerecht sein.
V. 11. Es ist kein Ansehen der Person. Nachdem der Apostel bisher die Menschheit als Ganzes vor Gottes Gericht gestellt, denkt er nun an die gesonderten Gruppen der Juden und Heiden: mögen die Gegensätze zwischen beiden noch so groß sein -, der ewige Tod droht ihnen ohne Unterschied. Versteckten sich die Heiden hinter ihrer Unwissenheit, rühmten sich die Juden des Gesetzes: so nimmt Paulus den einen die Entschuldigung, den andern den falschen und eitlen Ruhm. Unter der „Person“, welche Gott nicht ansieht, ist der gesamte äußere Bestand des Lebens zu verstehen, welchem Menschen Wert und Ehre beizulegen bei zu legen pflegen. Lesen wir also, dass Gott die Person nicht ansieht, so heißt dies: er sieht auf Reinheit des Herzens und innere Unschuld und hält sich nicht bei Dingen auf, an welche die Menschen sich hängen, wie Herkunft, Heimat, Stellung, äußere Mittel und dergleichen. Wenn Gott die Person nicht ansieht, so begründen für sein Urteil alle solche Dinge keinen Unterschied zwischen Volk und Volk. Aus der Tatsache, dass innere Reinigkeit vor Gott etwas gilt, könnte nun freilich der Schluss sich zu ergeben scheinen, dass Gottes Erwählung nicht mehr auf freier Gnade ruhe. Es ist aber zu erinnern, dass in doppelter Weise von unserer Annahme vor Gott gesprochen werden kann. Einmal beruft uns Gottes Gnade aus dem Nichts und nimmt uns ohne alles Verdienst an. Dann aber, nach der Wiedergeburt, nimmt uns Gott an mit den Gaben, die er uns geschenkt hat: sein Gnadenblick ruht dann mit Wohlgefallen auf dem Bilde seines Sohnes, welches er in uns wieder erkennt.
V. 12. Welche ohne Gesetz gesündigt haben. Dieser Satz behandelt zuerst die Gruppe der Heiden. Ihnen war kein Moses geschenkt, der in Vollmacht Gottes ihnen ein Gesetz geben konnte: nichtsdestoweniger zog ihnen ihre Sünde die gerechte Strafe des Todes zu; denn für die rechtmäßige Verurteilung eines Sünders bedarf es nicht, dass er das Gesetz kennt. Es ist also verkehrtes Mitleid, die Heiden, welche das Licht des Evangeliums nicht haben, um ihrer Unwissenheit willen dem Gerichte Gottes entnommen zu glauben. Welche unter dem Gesetz gesündigt haben. Wie die Heiden, die von dem Irrtum ihres Sinnes sich leiten lassen, in die Grube hinabfallen, so steht für die Juden das Gesetz bereit, sie zu richten. Denn längst war das Urteil verkündigt (5. Mose 27, 26): „Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt, dass er danach tue.“ Der Sünder aus den Juden wartet also eine schlimmer Strafe: denn sie empfingen ihre Strafandrohung schon im Gesetz.
V. 13. Nicht, die das Gesetz hören usw. Dieser Satz kommt einem möglichen Einwande der Juden zuvor: weil diese ihr Gesetz als Regel der Gerechtigkeit betrachten durften, so genügte ihrer Selbstzufriedenheit das bloße Wissen. Um diesen Betrug zu zerstören, behauptet der Apostel, dass man deshalb durchaus noch nicht gerecht ist, weil man das Gesetz hört und kennt. Sondern es gilt, wirkliche Taten zu zeigen; wie es 5. Mose 4, 1 heißt: „Ihr sollt die Gebote tun, auf dass ihr lebet.“ Unser Satz schärft also ein, dass man das Gesetz auch erfüllen muss, wenn man von Gerechtigkeit aus dem Gesetze spricht. Denn das Gesetz will ganz gehalten sein. Kindisch ist der Missbrauch dieser Stelle für eine Lehre von der Rechtfertigung durch die Werke. Es lohnt sich nicht, zur Widerlegung solcher Torheit hier eine lange Untersuchung über die Rechtfertigung zu führen, zu welcher unser Satz an sich keinen Anlass bietet. Denn einen so starken Nachdruck gibt der Apostel dem Urteil des Gesetzes, dass man ohne vollkommenen Gehorsam durch das Gesetz keine Rechtfertigung empfange, in Rücksicht auf die Juden: sie finden jede Übertretung mit Fluch bedroht. Wir unsererseits bestreiten nun nicht, dass das Gesetz uns das Bild einer wirklich vollkommenen Gerechtigkeit zeigt; aber wir behaupten, dass kein Mensch von Übertretung frei erfunden wird und dass es deshalb gilt, die Gerechtigkeit anderswo zu suchen. Unsere Stelle gibt also den Beweis dafür an die Hand, dass aus Werken niemand gerecht wird. Denn wenn durch´ s Gesetz nur gerecht werden, die das Gesetz halten, so folgt, dass keiner gerecht wird, weil keiner einen vollkommenen Gehorsam gegen das Gesetz aufweisen kann.
14 Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, 15 als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen), 16 auf den Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesum Christum richten wird laut meines Evangeliums.
V. 14. Denn so die Heiden usw. Jetzt empfängt der so eben entwickelte Gedanke eine weitere Begründung. Paulus begnügt sich nicht damit, uns mit dem Worte zu verdammen und uns Gottes gerechtes Gericht anzukündigen. Er sucht vielmehr klare Gründe vorzubringen, um uns desto mehr zum Verlangen nach Christus und zur Liebe zu ihm zu reizen. Paulus zeigt nun, dass die Heiden vergeblich Unwissenheit vorschützen werden, da sie durch die Tat kundtun, dass ihnen keineswegs jedes Bewusstsein von einem Gesetz des Guten fehlt. Denn kein Volk hat sich je auf einem so untermenschlichen Standpunkte befunden, dass es sich nicht innerhalb gewisser Ordnungen bewegte. Da nämlich alle Völker von Natur und ohne besonderen Unterricht sich zu einer Gesetzgebung geneigt zeigten, so müssen dem menschlichen Gemüte zweifellos gewisse Urbegriffe von Recht und Billigkeit, sozusagen gesunde moralische Vorurteile, angeboren sein. Ohne Gesetz haben sie doch ein Gesetz, freilich kein geschriebenes wie das mosaische, wohl aber eine gewisse Erkenntnis davon, was recht und billig ist. Sonst könnten sie ja überhaupt nicht zwischen Untaten und tugendhaften Handlungen unterscheiden: und doch strafen sie die ersteren, fordern die letzteren und zollen dem, was nach ihrer Meinung anerkennenswert ist, hohes Lob. Unter dem, was die Heiden von Natur, im Gegensatze zum geschriebenen Gesetz, haben, versteht Paulus das natürliche moralische Licht, kraft dessen die Heiden sich selbst ein Gesetz sind und welches ihnen das ersetzt, was den Juden ihr Gesetz bedeutet.
V. 15. Die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben usw. D. h. sie liefern den Beweis, dass in ihren Herzen ein Unterscheidungsvermögen sich befindet, welches den Gegensatz von billig und unbillig, ehrbar und schändlich wohl zu fassen weiß. Dass dieser Gegensatz ihren Willen derartig beherrsche, dass sie sich wirklich und mit ganzem Eifer von demselben leiten ließen, behauptet Paulus nicht, sondern nur, dass die Macht der Wahrheit sich ihnen unwidersprechlich aufdrängt. Wie kämen sie sonst dazu, Religionsübungen einzurichten, wenn sie nicht wüssten, dass man Gott verehren muss? Warum schämen sie sich der Hurerei und des Diebstahls, wenn sie nicht solche Dinge für schlecht ansehen? Für eine Überschätzung der Willensfreiheit bieten diese Ausführungen keinen Anlass. Denn nur von der Wahrheitserkenntnis ist die Rede, nicht von der Fähigkeit, das erkannte Gesetz auch zu befolgen. Unter dem Herzen wird also weniger der Sitz der Willenskraft, als vielmehr nur der Erkenntnis zu verstehen sein. Wie es an andern Stellen (5. Mos. 29, 3; Luk. 24, 25) heißt: „Der Herr hat euch nicht gegeben ein Herz, das verständig wäre“; „o ihr Toren und trägen Herzens, zu glauben“ usw. Übrigens darf man auch dies nicht aus unserer Stelle entnehmen, dass die Menschen eine vollkommene Erkenntnis des Gesetzes besitzen: nur Samenkörner der Gerechtigkeit tragen sie in sich. Dazu rechne ich die Tatsache, dass alle Völker gleichermaßen Religionsübungen pflegen, dass sie den Ehebruch, den Diebstahl, den Mord bestrafen und bei Handels- und Rechtsgeschäften Treu und Glauben hochhalten. Es macht dabei nichts aus, was das für ein Gott ist, den sie sich bilden oder wie viele Götter sie sich machen; hier genügt es, dass sie überhaupt wissen, dass es „Gott“ gibt und dass man ihn ehren, ihm dienen soll. Auch verschlägt es nichts, dass sie das böse Begehren und den Hass nicht verbieten; wenn sie den Vollzug einer Tat für böse halten, so kann ihnen das Begehren im Grunde doch auch nicht erlaubt erscheinen!
Sintemal ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken usw. Schärfer konnte der Apostel die Menschen nicht angreifen, als mit dem Zeugnis ihres eignen Gewissens, welches soviel wiegt wie das Zeugnis von Tausenden. Mit dem Bewusstsein seiner guten Taten pflegt man sich ja zu stärken und zu trösten: das böse Gewissen dagegen quält und martert. Daher haben schon die Heiden Sprichwörter wie die: ein gutes Gewissen sei besser als der Beifall der größten Volksversammlung, ein schlechtes Gewissen sei der peinlichste Henker und quäle die Menschen mehr als die Furien. Es gibt also eine gewisse natürliche Erkenntnis des Gesetzes, welche manche Handlungen für gut und nützlich, andere für verwerflich erklärt. Beachtenswert ist die feinsinnige Beschreibung des Gewissens, welche uns vor Augen führt, wie die Gründe im Gedächtnis aufsteigen, welche eine Tat noch als gut erscheinen lassen, oder welche andererseits uns eines Vergehens anklagen und überführen. Diese Klage- und Entschuldigungsgründe stehen nun in Bezug (V. 16) auf den Tag des Herrn, nicht weil sie etwa dann erst aus der Vergessenheit auftauchen werden: denn sie sind schon jetzt lebendig und treiben unablässig ihr Geschäft, sondern weil sie dann noch so stark sein werden, dass niemand sie als bedeutungslosen Schein beiseite schieben kann.
V. 16. Da Gott das Verborgene der Menschen richten wird. Diese Beschreibung des Gerichts passt vortrefflich in den gegenwärtigen Gedankengang: wer sich gern in dem Schlupfwinkel stumpfer Unwissenheit verbergen möchte, soll wissen, dass seine innersten, in den Falten des Herzens versteckten Gedanken alsdann ins Licht gezogen werden. Wenn deshalb der Apostel an einer andern Stelle (1. Kor. 4, 5) die Nichtigkeit menschlichen Urteils einprägen will, welches an der äußeren Maske hängen bleibt, so richtet er unsern Blick auf die Wiederkunft des Herrn, der, was im Finstern verborgen ist, ans Licht bringen und den Rat den Herzen offenbaren wird. Diese Erinnerung mag uns dazu anleiten, wenn wir die rechte Zufriedenheit mit uns selbst haben wollen, zu jener vollen Klarheit und Gewissheit des Sinnes den Weg zu suchen. Wenn Paulus hinzufügt: laut meines Evangeliums, so erhebt er den Anspruch, dass seine Lehre sich mit der ursprünglichen Anlage des Menschengemütes decke. „Sein“ ist das Evangelium, weil ihm der Dienst an demselben befohlen war. Denn ein „Evangelium“ zu offenbaren, steht allein bei Gott: und dasselbe auszuspenden, hat er den Aposteln verliehen. Weiter heißt das Evangelium ganz passend in einem gewissen Betracht eine Verkündigung und Predigt vom zukünftigen Gericht. Denn wenn die völlige Auswirkung der im Evangelium verheißenen Güter uns erst bei der vollen Offenbarung des Himmelreichs zuteil werden wird, so erscheint die Verbindung mit dem letzten Gerichte fest geknüpft. Christus wird als die Auferstehung für die einen, als der Richter für die andern gepredigt: und beides hängt auf das engste mit dem Tage des Gerichts zusammen. Dieses Gericht wird gehalten durch Jesus Christus. Dass er vom Vater eingesetzt ward, zu richten die Lebendigen und die Toten, rechnen die Apostel überall unter die Hauptstücke der evangelischen Predigt. Durch den Hinweis auf diesen Richter empfängt unser Satz erst die nötige Abrundung.
17 Siehe aber zu: du heißest ein Jude und verlässest dich aufs Gesetz und rühmest dich Gottes 18 und weißt seinen Willen; und weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist, prüfest du, was das Beste zu tun sei, 19 und vermissest dich, zu sein ein Leiter der Blinden, ein Licht derer, die in Finsternis sind, 20 ein Züchtiger der Törichten, ein Lehrer der Einfältigen, hast die Form, was zu wissen und recht ist, im Gesetz. 21 Nun lehrst du andere, und lehrst dich selber nicht; du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst; 22 du sprichst, man solle nicht ehebrechen, und du brichst die Ehe; dir gräuelt vor den Götzen, und du raubest Gott, was sein ist; 23 du rühmest dich des Gesetzes, und schändest Gott durch Übertretung des Gesetzes; 24 denn „eurethalben wird Gottes Name gelästert unter den Heiden“, wie geschrieben steht.
V. 17. Du aber (so nämlich muss nach den besten Handschriften der Text lauten), du heißest ein Jude usw. Nach genügender Auseinandersetzung mit den Heiden wendet sich die Rede nunmehr zu den Juden. Deren Selbstbetrug soll vollends zerstört werden. Paulus erkennt alles an, worauf sie so stolz waren. Aber er zeigt, dass es nur zureicht, eine höhere Verantwortlichkeit, nicht aber einen gerechten Stolz zu begründen. Der Name Jude erinnert an alle Vorzüge des Volkes, welche in Gesetz und Propheten ihren Ursprung hatten und an welche Israel abergläubisch sich klammerte. Gemeint sind also alle Israeliten, welche damals sämtlich „Juden“ hießen. Wann dieser Sprachgebrauch sich eingebürgert, lässt sich nicht genau sagen, jedenfalls nach der Gefangenschaft und Zerstreuung. Da hielt sich das ganze zerrissene und zersprengte Volk an den Namen des Stammes Juda, welcher die Reinheit des Gottesdienstes am längsten bewahrt hatte, welcher von jeher eine besondere Würde besaß, aus welchem auch der Erlöser kommen sollte: war doch der Trost dieser Messiashoffnung die letzte Zuflucht. Auf verschiedene andere Gründe, welche die Übertragung des Stammesnamens auf das ganze Volk vielleicht erklären könnten, brauchen wir hier nicht einzugehen: jedenfalls wollen die „Juden“ die Erben des Bundes sein, welchen Gott mit Abraham und seinem Samen geschlossen hat. Du verlässest dich aufs Gesetz und rühmest dich Gottes: nicht als ob sie das Gesetz ernstlich und vollständig zu halten bestrebt gewesen wären, um sich dann darauf zu verlassen; vielmehr erhebt Paulus den Vorwurf, dass sie ohne Achtsamkeit auf den eigentlichen Zweck des Gesetzes und ohne genügende Sorge für seine Erfüllung in stolzer Selbstzufriedenheit sich auf die eine Überzeugung zurückgezogen, dass Gottes Offenbarungen sie beträfen. Ebenso rühmten sie sich Gottes, nicht wie Gott es nach dem Spruche des Propheten (Jer. 9, 23) haben will, dass man demütig auf allen Selbstruhm verzichtet und seinen Ruhm allein in ihm sucht. Vielmehr ohne jede wirkliche Erkenntnis der Güte Gottes beanspruchten sie den Gott, dem sie doch innerlich fern standen, in eitler Ruhmsucht vor den Menschen als ihr alleiniges Eigentum und gaben sich für sein Volk aus. Das war kein Rühmen des Herzens, sondern Prahlerei der Zunge.
V. 18. Du weißt seinen Willen, und … prüfest, was das Beste zu tun sei. Diese Erkenntnis des göttlichen Willens besaßen die Juden allerdings, und zwar aus dem Gesetze. Von einer prüfenden Auswahl des Guten kann aber in doppelter Weise geredet werden: einmal denken wir dabei an das wirkliche Erwählen dessen, was man als gut erkannt hat; das andere Mal denken wir nur an das Urteil, kraft dessen man dem Guten vor dem Bösen den Vorzug gibt, ohne vielleicht nur den geringsten Eifer einzusetzen, dasselbe auch zu tun. In dieser letzteren Weise gingen die Juden mit dem Gesetze um: sie hatten daraus gelernt, sich als Sittenrichter aufzuspielen -, aber das eigene Leben diesem Urteil anzupassen, lag ihnen weniger an. Aus dem Tadel, welchen der Apostel gegen solch heuchlerisches Wesen richtet, ergibt sich nun allerdings der Rückschluss, dass (wenn nur das Urteil aus einem lauteren Sinne hervorgehen würde) man da, wo Gottes Offenbarung sich hat vernehmen lassen, tatsächlich zu prüfen vermag, was das Beste zu tun sei: denn der Wille Gottes, wie das Gesetz ihn kundtat, wird hier als Lehrer und Führer zur rechten Prüfung anerkannt.
V. 19. Und vermissest dich, zu sein ein Leiter usw. Noch mehr wird zugestanden: die Juden haben nicht allein für sich selbst genug empfangen, sondern sie besitzen noch einen Überschuss für andere. Gott schenkt ihnen einen Überfluss der Lehre, der sich recht wohl auch auf andere überleiten lässt.
V. 20. Die Worte: du hast die Form, was zu wissen und recht ist, im Gesetz, geben den Grund an, weshalb der Jude imstande ist, andere zu unterweisen. Deshalb gebärdeten sie sich als Lehrer, weil sie glauben durften, alle Geheimnisse des Gesetzes in ihrer Brust zu tragen. Das Gesetz ist nun nicht irgendeine, sondern die Form der Wahrheit schlechthin, ihre majestätisch-klare Erscheinung. Wenn sie sich prahlend mit dieser Erkenntnis brüsteten, so waren die Juden ohne Zweifel innerlich derselben bar. Aber das lässt sich wiederum gegensätzlich erschließen: wenn Paulus den Missbrauch des Gesetzes verspottet, so will er dem Gesetze an sich allerdings die richtige und gewisse Wahrheitserkenntnis entnommen wissen.
V. 21. Nun lehrst du andere, und lehrst dich selber nicht. Die bisher anerkannten Gaben der Juden hätten einen wirklichen Wert erst empfangen, wenn sie durch noch wahrhaftigere Güter gekrönt worden wären. So aber verdiente die bloße Erkenntnis, welche auch Gottlose besitzen und in schnödem Missbrauch verkehren mochten, eine ernsthafte Anerkennung nicht. Und Paulus, nicht zufrieden der jüdischen Anmaßung einfach entgegen zu treten, sieht sich sogar in der Lage, den Vorzug, auf welchen ein falsches Vertrauen ohne alles Weitere sich stützte, in einen schmählichen Nachteil zu verkehren. Denn dies erscheint doch im höchsten Grade tadelnswert, hohe und herrliche Gaben Gottes nicht bloß ungenützt liegen zu lassen, sondern sogar mit schnödem Missbrauch zu beschmutzen. Und der ist ein wunderlicher Ratgeber, der sich selbst nicht rät und nur für andere klug ist. So wandelt sich das begehrte Lob in Tadel. Du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst. Das ist wahrscheinlich eine Anspielung an Ps. 50, 16-18: „Zu dem Gottlosen spricht Gott: Was verkündigst du meine Rechte und nimmst meinen Bund in deinen Mund, so du doch Zucht hassest, und wirfst meine Worte hinter dich? Wenn du einen Dieb siehst, so läufst du mit ihm und hast Gemeinschaft mit den Ehebrechern.“ Dieser Vorwurf traf die Juden, welche, zufrieden mit dem bloßen Wissen vom Gesetz, so lebten, als hätten sie kein Gesetz. Es ist zu besorgen, dass er auch manchen von uns treffe. Wie viele rühmen sich doch einer besonderen Erkenntnis der evangelischen Wahrheit und stürzen sich dabei in allerlei Unflat, ohne zu bedenken, dass das Evangelium auch eine Regel für das Leben bedeutet. In solcher Sicherheit dürfen wir aber nicht mit Gott spielen: vielmehr sollen wir wissen, dass solche Schwätzer, die Gottes Wort nur auf der Zunge haben, ein schweres Gericht treffen wird.
V. 22. Dir gräuelt vor den Götzen, und du raubest Gott, was sein ist. Eine feine Gegenüberstellung von Götzendienst und Gottesraub: denn beide Verbrechen gehören zur gleichen Kategorie. Als Gottesraub können wir kurzweg jede Entweihung der göttlichen Majestät bezeichnen. Wo nun, es sei im Heidentum oder mitten in der Christenheit, die Religion in lauter äußerem Glanz besteht und Gottes Majestät an die greifbaren Götzen gehängt wird, versteht man unter Gottesraub freilich viel zu eng nur den Diebstahl von Tempelgut oder die Beseitigung des kirchlichen Prunks. Wir entnehmen hier für uns die Erinnerung, dass man nicht selbstgefällig sich nur an einen Teil des göttlichen Gesetzes halten und darüber andere verachten darf. Ferner, dass wir uns nicht allzu hoch rühmen dürfen, wenn wir den äußerlichen Götzendienst abgeschafft, während es doch noch viele Fürsorge fordert, die verborgene Gottlosigkeit der Herzen bis auf die Wurzel auszurotten.
V. 23. Du rühmest dich des Gesetzes, und schändest Gott durch Übertretung des Gesetzes. Jeder Mensch, welcher das Gesetz übertritt, schändet Gott: denn wir sind alle dazu geschaffen, den Herrn durch Gerechtigkeit und Heiligkeit zu ehren. Aber die Juden trifft mit Recht ein besonderer Vorwurf. Sie rühmten sich Gottes als ihres Gesetzgebers, aber ihr Leben nach seinem Gesetze zu gestalten dafür zeigten sie geringen Eifer. Damit bewiesen sie, dass ihnen an Gottes Majestät, die sie so leichtfertig verachteten, in der Tat nicht viel gelegen war. So machen auch viele unter uns dem Herrn Christus Unehre, indem sie über die Lehre des Evangeliums ein müßiges Geschwätz führen, dabei aber in ihrer zügellosen Lebensweise das Evangelium mit Füßen treten.
V. 24. „Der Name Gottes wird gelästert“ usw. Ich glaube, dass dieses Schriftwort aus Hes. 36, 20-23 entnommen ist, nicht aus Jes. 52, 5. Denn die letztere Stelle enthält weiter nichts von Vorwürfen gegen die Juden, während das 36. Kapitel des Propheten Hesekiel ganz von solchen angefüllt ist. Wir sehen, dass alle Flecken des Volkes Israel auf Gott selbst zurückfallen. Israel ist und heißt Gottes Volk, es trägt sozusagen Gottes Namen auf seiner Stirn geschrieben: so muss bei den Menschen der Gott, auf dessen Namen es sich beruft, unter Israels Schmach gewissermaßen mit leiden. Es ist ein unwürdiger Zustand, dass dieselben Leute, die Gottes Ruhm für sich entlehnen, dem heiligen Namen Gottes einen Schandfleck anhängen. Sie wären schuldig gewesen, ihrem Gott einen besseren Lohn zu erstatten.
25 Die Beschneidung ist wohl nütz, wenn du das Gesetz hältst; hältst du aber das Gesetz nicht, so bist du aus einem Beschnittenen schon ein Unbeschnittener geworden. 26 So nun der Unbeschnittene das Gesetz hält, meinst du nicht, dass da der Unbeschnittene werde für einen Beschnittenen gerechnet? 27 und wird also, der von Natur unbeschnitten ist und das Gesetz vollbringt, dich richten, der du unter dem Buchstaben und der Beschneidung bist und das Gesetz übertrittst. 28 Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig am Fleisch geschieht; 29 sondern das ist ein Jude, der´ s inwendig verborgen ist, und die Beschneidung des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht. Eines solchen Lob ist nicht aus Menschen, sondern aus Gott.
V. 25. Die Beschneidung usw. Einen weiteren Einwand, welchen die Juden zu ihrer Verteidigung vorbringen konnten, widerlegt der Apostel im Voraus: war die Beschneidung das Zeichen des Bundes, in welchem Gott sich Abraham und seinen Samen zum besonderen Eigentum erwählt hatte, so schienen die Juden darauf ihren Ruhm mit Recht gründen zu dürfen. Aber sie hängten sich an das äußere Zeichen und vergaßen dessen wahre Bedeutung. Deshalb antwortet ihnen der Apostel, dass das bloße Zeichen keine Ansprüche begründen könne. Das wahre Wesen der Beschneidung lag in der daran geknüpften geistlichen Verheißung; und diese erforderte Glauben. Um beides aber, Verheißung und Glauben, kümmerten sich die Juden nicht. Ihr Vertrauen war also ein törichtes. Indem nun der Apostel seine Rede diesem groben Irrtum anbequemt, übergeht er hier ebenso wie im Galaterbrief (Gal. 5, 3-6; 6, 15) den wesentlichsten Nutzen der Beschneidung. Dies will wohl beachtet sein. Denn wenn eine vollständige Abhandlung über Wesen und Absicht der Beschneidung gegeben werden sollte, dürfte ein Hinweis auf die Gnade und die Gnadenverheißung unter keinen Umständen fehlen. Da aber Paulus sowohl hier wie im Galaterbriefe seine Rede völlig auf die gegebenen Umstände zuspitzt, so berührt er nur das Stück, was gerade in Frage steht. Die Juden hielten die Beschneidung an sich für ein Werk, mit welchem man Gerechtigkeit erwürbe. Also geht Paulus auf ihre Denkweise ein und antwortet: wenn man in der Beschneidung nach Werken fragt, so ist dies ihre Bedingung, dass der Beschnittene sich als einen wahren und vollkommenen Anbeter Gottes erweise. Erst dieses Werk macht die Beschneidung vollkommen. Ganz ebenso kann man ja auch von unserer Taufe sprechen. Wenn jemand in bloßem Vertrauen auf die Wassertaufe sich einfach durch den Vollzug der äußeren Handlung für gerechtfertigt und geheiligt ansehen sollte, so hält man ihm den Zweck der Taufe entgegen: dass uns Gott durch dieselbe zu einem heiligen Leben berufen will. Dabei würde von der Verheißung und Gnade, welche die Taufe uns bezeugt und versiegelt, gar keine Rede sein. Denn wir würden eben mit Leuten zu tun haben, welche, mit dem leeren Schatten der Taufe zufrieden, vernachlässigen und vergessen, was in der Taufe das Wesentliche ist. Es lässt sich auch bei Paulus beobachten, dass er, wo er unter Gläubigen und ohne Polemik von den heiligen Wahrzeichen handelt, dieselben stets mit ihren Verheißungen zusammen greift, in denen ihre Wirksamkeit und Vollkommenheit besteht. Wo er aber auf ein verkehrtes Verständnis der heiligen Zeichen Rücksicht nimmt, muss er diese Hauptsache übergehen und seine Rede dem Zwecke der Auseinandersetzung anpassen. Die Tatsache, dass Paulus unter allen Werken des Gesetzes sich vornehmlich mit der Beschneidung beschäftigt, hat vielen die Meinung beigebracht, dass der Apostel lediglich den zeremoniösen (nicht aber den moralischen) Werken die Kraft abspreche, gerecht zu machen. Doch die Sache liegt ganz anders. Wer nämlich seine Verdienste vor Gottes Gerechtigkeit zu erheben strebt, wird immer geneigt sein, seinen Ruhm mehr in der Beobachtung äußerer Zeremonien als in ernstlicher Rechtschaffenheit zu suchen. Denn wer ernste Furcht Gottes kennt und fühlt, wird niemals wagen, seine Augen gen Himmel zu erheben: je mehr er nach wahrer Gerechtigkeit strebt, umso mehr wird er innewerden, wie weit er von derselben entfernt ist. Dass aber die Pharisäer, die sich mit einer äußerlich vorgespiegelten Heiligkeit begnügen, mit Äußerlichkeiten prunken, erscheint nicht verwunderlich. Deshalb entreißt Paulus den Juden auch diesen letzten elenden Vorwand, als könne jemand durch die Beschneidung gerecht werden.
V. 26. So nun der Unbeschnittene usw. Dieser Beweis erscheint durchschlagend. Jedes Ding ist ja seinem Zwecke angepasst und demselben untergeordnet. Die Beschneidung hängt nun mit dem Gesetze zusammen und soll dem Selben dienstbar sein. Es ist also wertvoller das Gesetz zu halten als die Beschneidung, welche doch nur um des ersteren willen eingesetzt ward. Daraus folgt, dass ein Unbeschnittener, wenn er nur das Gesetz halten würde, besser ist als ein Jude mit seiner armseligen und nutzlosen Beschneidung, der als Gesetzesübertreter dasteht. Wer von Natur befleckt ist, wird durch den Gehorsam gegen das Gesetz geheiligt werden: und die Vorhaut gilt als Beschneidung. Das Wort „Vorhaut“ (Unbeschnittensein) in unserm Vers steht, wo es zum zweiten Male vorkommt, in seinem eigentlichen Sinne. Zuerst aber steht es ungenauer weise als eine Artbezeichnung der Heiden: die Sache soll die damit behaftete Person bezeichnen. Die Frage übrigens, wo denn solcher Gehorsam gegen das Gesetz tatsächlich zu finden sei, muss man nicht aufwerfen: er existiert nirgends. Paulus redet lediglich bedingungsweise: wenn es einen Heiden gäbe, der das Gesetz hielte, so würde dessen Gerechtigkeit in der Vorhaut mehr wert sein als die Beschneidung des Juden ohne Gerechtigkeit. Deshalb sind auch die folgenden Worte (V. 27):
Und wird also, der von Natur unbeschnitten ist und das Gesetz vollbringt, dich richten usw., nicht im Bezug auf bestimmte Personen, sondern nur beispielsweise geredet, ganz ebenso wie die Wendungen (Matth. 12, 42.41): die Königin von Mittag wird aufstehen, oder die Leute von Ninive werden auftreten am Jüngsten Gerichte.
Unter dem Buchstaben und der Beschneidung. Eine nachdrückliche Zerteilung der Worte, die soviel besagt wie: unter der vom Gesetzesbuchstaben geforderten Beschneidung. Natürlich will Paulus es nicht für eine Gesetzesübertretung ausgeben, dass die Juden den Buchstaben des Beschneidungsgebotes festhalten, sondern nur dies, dass sie die Anbetung Gottes im Geiste: die wahre Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Gericht und Wahrheit, fortwährend hinter jener äußerlichen Zeremonie zurücktreten lassen.
V. 28. Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist usw. Will sagen: ob jemand ein wahrer Jude ist, bemisst sich nicht nach der fleischlichen Abstammung, dem mündlichen Bekenntnis oder einem äußeren Zeichen. Auch besteht die Beschneidung, welche zum Juden macht, nicht allein in einer sichtbaren Handlung, sondern will innerlich verstanden sein. Was hier aber über die wahre Beschneidung steht, entnimmt der Apostel mehreren Bibelstellen oder vielmehr der allgemeinen Lehre der Schrift. Denn öfter heißt es, das Volk solle sein Herz beschneiden, und Gott verheißt, diese Beschneidung selbst vornehmen zu wollen (5. Mose 10. 16; 30, 6; Jer. 4, 4; Hes. 16, 30 vgl. 11, 19). Nicht ein Stück eines Körperteiles bloß, sondern die Verderbnis der ganzen Natur galt als weg zu schneiden. Die Beschneidung galt als Abtötung des Fleisches überhaupt. Wenn nun der Apostel (V. 29) hinzufügt, dass dieselbe im Geist und nicht im Buchstaben geschieht, so denkt er beim Buchstaben an die äußere Beobachtung des Gesetzes ohne innerliche Anteilnahme, beim Geist an den Zweck der Handlung, welcher geistlich ist. Hängt der ganze Wert der heiligen Zeichen und Formen an ihrem Zwecke, so bleibt lediglich ein an sich nutzloser Buchstabe, wenn man diesen Zweck hinweg nimmt. Der tiefere Grund dieser ganzen Aussprache liegt in folgender Wahrheit verborgen: wo auch immer Gottes Wort gepredigt werden mag -, seine Vorschriften bleiben solange Buchstabe und tote Worte, als sie nicht von Menschen mit reinem Herzen aufgenommen werden; erst wo sie in die Seele dringen, werden sie gewissermaßen in Geist verwandelt. Dabei liegt eine Anspielung an den Unterschied zwischen Altem und Neuem Bunde vor: nach Jer. 31, 33 will ja Gott seinen Bund erst dadurch zur Vollendung bringen, dass er ihn in die Herzen schreibt. Eben dahin zielt auch ein anderes Wort des Paulus (2. Kor. 3, 6), wenn er das Gesetz im Gegensatze zum Evangelium einen nicht bloß toten, sondern auch tötenden Buchstaben nennt, dem Evangelium aber den auszeichnenden Besitz des Geistes vorbehält. Doppelt unsinnig ist es daher, wenn man das, was Paulus „Buchstaben“ nennt, als den ursprünglichen Sinn versteht, und wenn man das, was er „Geist“ nennt, durch sinnbildliche Auslegung zu ersetzen sucht.
V. 29. Eines solchen Lob ist nicht aus Menschen, sondern aus Gott. Weil Menschenaugen leicht am Scheine hängen bleiben, so erklärt es der Apostel für unzureichend, sich mit der Anerkennung leicht täuschbarer Menschen zufrieden zu geben. Den Augen Gottes müssen wir standhalten, vor denen auch die verborgensten Geheimnisse des Herzens offen liegen. So werden die Heuchler, die sich nur zu leicht mit ihren Irrtümern beschwichtigen, immer wieder vor Gottes Gericht gezogen.
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Johannes Calvin
1 Was haben denn die Juden für Vorteil, oder was nützt die Beschneidung? 2 Fürwahr sehr viel. Zum ersten: ihnen ist vertraut, was Gott geredet hat.
V. 1. Bisher hatte Paulus unwidersprechlich bewiesen, dass die bloße Beschneidung den Juden nichts helfen könne. Und doch ließ sich nicht jeder Unterschied zwischen den Heiden und den Juden, denen ja dies göttliche Zeichen aufgedrückt war, wegleugnen. Unmöglich durfte dieser von Gott selbst geschaffene Abstand für nichtig und bedeutungslos erklärt werden. So galt es noch, diesen Anstoß zu heben. Mochte immerhin der Ruhm, welchen die Juden aus der Beschneidung ableiteten, ein eitler sein, so blieb doch die Frage, wozu denn Gott überhaupt diese heilige Handlung eingesetzt habe, wenn sich nicht irgendeine Frucht derselben aufzeigen ließ? Also beseitigt Paulus einen fragenden Einwurf, den man leicht gegen seine bisherige Aussprache erheben konnte, mit der im Voraus gestellten Gegenfrage: Was haben denn die Juden für Vorteil? Und den eigentlichen Anlass dieser Frage enthüllt die nächste: Was nützt die Beschneidung? Denn eben sie hob ja die Juden über die sonstige Menschheit empor, wie Paulus (Eph. 2, 14) die Zeremonien überhaupt als den Zaun bezeichnete, welcher Juden und Heiden trennte.
V. 2. Fürwahr sehr viel. Damit empfängt das Sakrament die ihm gebührende Ehre, die doch für die Juden keinen Anlass zur Überhebung bot. Denn wenn diejenigen, welche zu Kindern Gottes angenommen werden sollten, mit dem Zeichen der Beschneidung gezeichnet wurden, so lässt sich verstehen, dass sie ihrem Vorzug nicht irgendwelchem Verdienst oder eigener Würdigkeit verdankten, sondern der freien Wohltat Gottes. Sieht man auf die Menschen, so bleiben sie den andern völlig gleich. Sieht man auf Gottes Wohltaten, so lehrt der Apostel, dass nur in ihnen der Vorrang vor den andern Völkern beruhte.
Zum ersten: ihnen ist vertraut, was Gott geredet hat. Viele Ausleger meinen, dass mit diesem scheinbar ersten Stück einer Aufzählung die Rede einen Ansatz nimmt, dessen Fortsetzung vergessen wird. Ich aber finde hier gar nicht den Anfang einer Reihe, sondern „das erste“ soll nur heißen: das wichtigste. In dem Sinne: wenn die Juden nur den einen Vorzug besäßen, dass Gottes Wort ihnen anvertraut ward, so würde dies eine hinreichen, ihre Ausnahmestellung zu begründen. Dabei erscheint bemerkenswert, dass Paulus den Nutzen der Beschneidung nicht im bloßen Zeichen findet, sondern nach dem Worte bemisst. Die Frage lautet: was bringt den Juden das Sakrament? Und die Antwort: Gott hat den Schatz himmlischer Weisheit bei ihnen niedergelegt. Daraus folgt, dass, wenn man das Wort wegnimmt, nichts von Vorzug mehr übrig bleibt. „Was Gott geredet hat“, ist der Inhalt des Bundes, welchen Gott zuerst dem Abraham, dann dessen Nachkommen eröffnete, welcher nachmals durch das Gesetz und die Propheten festgelegt und erläutert wurde. Diese Worte Gottes wurden den Juden anvertraut, damit sie dieselben solange verwahren sollten, als der Herr seine Herrlichkeit unter ihnen wohnen lassen wollte. Dann, zur verordneten Zeit der Austeilung, sollten sie das Wort der ganzen Welt bekanntmachen. Zuerst sollten sie Hüter, danach Verwalter desselben sein.
Es ist nun eine über alles rühmenswerte Wohltat, dass Gott ein Volk der Mitteilung seines Wortes würdigt, so können wir unsere Undankbarkeit gar nicht genug verabscheuen, welche Gottes Wort oft so nachlässig, träge und unehrerbietig aufnimmt.
3 Dass aber etliche nicht daran glauben, was liegt daran? Sollte ihr Unglaube Gottes Glauben aufheben? 4 Das sei ferne! Es bleibe vielmehr also, dass Gott sei wahrhaftig und alle Menschen Lügner; wie geschrieben steht: „Auf dass du gerecht seist in deinen Worten und überwindest, wenn du gerichtet wirst.“
V. 3. Dass aber etliche usw. Zuvor hatte Paulus die Juden und ihr Prunken mit einem leeren Zeichen ins Auge gefasst: und es blieb ihnen dabei kein Fünkchen von Ruhm. Jetzt fasst er Gottes Zeichen selbst ins Auge: und es wird offenbar, dass selbst die Hohlheit seiner Träger seine Kraft nicht zunichte machen kann. Schien der Apostel oben gesagt zu haben, dass jede etwaige Gnadenkraft in dem heiligen Zeichen der Beschneidung durch die Undankbarkeit der Juden verloren gegangen sei, so stellt jetzt eine dem Widerspruch zuvorkommende Frage den Wert der göttlichen Ordnung fest. Dabei befleißigt sich die Rede maßvoller Schonung. Mit Recht hätte gesagt werden können, die Mehrzahl des Volkes habe Gottes Bund verworfen. Um aber diese für jüdische Ohren unerträgliche Härte zu mildern, spricht Paulus nur von „etlichen“.
Sollte ihr Unglaube usw. „Aufheben“ soll heißen: unwirksam machen. Denn die Frage ist nicht bloß, ob der Menschen Unglaube der Wahrheit Gottes insofern zuwider sei, dass sie nicht in sich selbst fest und beständig bleibe, sondern ob der Unglaube bewirken müsse, dass die Wahrheit unter den Menschen ihre Kraft verliere und ihr Ziel nicht erreiche. Der Sinn ist: da doch die Mehrzahl der Juden den Bund gebrochen hat, so müsste wohl durch ihre Untreue der Bund Gottes derartig zerstört sein, dass er unter ihnen jede Frucht verlor. Doch die Antwort lautet: keine menschliche Verkehrtheit kann die Wahrheit Gottes um ihren Bestand bringen. Mag eine Unzahl von Menschen den Bund Gottes gebrochen und mit Füßen getreten haben, so behält dieser selbst doch seine Geltung und beweist seine Kraft, wenn nicht bei jedem einzelnen, so doch in diesem Volke. Seine Kraft besteht darin, dass Gottes Gnade und seine Segnungen für das ewige Leben in Israel noch mächtig bleiben. Das kann ja freilich nicht sein, ohne das die Verheißung der Gnade eine gläubige Aufnahme findet und so der Bund gegenseitig sich schließt. Also spricht unser Satz aus: es hat in diesem auserwählten Volke immer Leute gegeben, welche im Glauben an die Verheißung standen und demgemäß nicht aus dem Gnadenbunde gefallen sind.
V. 4. Es bleibe vielmehr also, dass Gott sei wahrhaftig und alle Menschen Lügner. Mit diesem feststehenden Gegensatz beseitigt Paulus das soeben verhandelte Bedenken. Denn wenn die zwei Dinge zugleich, ja notwendig miteinander bestehen, dass Gott wahrhaftig ist und der Mensch voller Lüge, so folgt, dass Gottes Wahrheit sich durch der Menschen Lüge nicht hindern lassen kann. Gott heißt nun wahrhaftig, nicht bloß, weil er den guten Willen hat, seine Versprechen zu halten, sondern weil er mit unbehinderter Macht erfüllt, was er redet. So er gebeut, so steht es da. Dagegen heißt der Mensch ein Lügner, nicht bloß, weil er oft die Treue bricht, sondern weil seine Natur zur Lüge neigt und die Wahrheit flieht. Der erste Satz bildet das Hauptstück der gesamten christlichen Lebenswahrheit. Der zweite stammt aus Ps. 116, 11, wo David nach seinen Erfahrungen ausruft, dass man etwas Gewisses vom Menschen weder erwarten dürfe noch im Menschen finden könne. Dieser herrliche Spruch birgt einen starken und nötigen Trost. Denn bei der menschlichen Verkehrtheit, welche Gottes Wort verachtet und verwirft, müsste dessen Gewissheit oft in Zweifel geraten, wenn wir nicht dessen uns getrösten dürften, dass Gottes Wahrheit nicht von der Menschen Wahrheit abhängt. Wie stimmt aber damit, was wir oben sagten, dass, um Gottes Gnadenverheißung wirksam zu machen, menschlicher Glaube erforderlich sei, welcher dieselbe aufnimmt? Ist doch Glaube das Gegenteil von Lüge! Die Frage ist schwierig, doch nicht unlösbar: Gott bahnt sich einen Weg durch das Unwegsame, durch die Lügen der Menschen, welche sonst seiner Wahrheit im Wege stehen; er heilt in seinen Erwählten den angeborenen, unwahrhaftigen Unglauben der Natur, und die Widerspenstigen beugen sich unter sein Joch. Unsere Stelle redet also von der fehlerhaften Naturanlage, nicht von Gottes Gnade, welche den Fehler heilt.
„Auf dass du gerecht seist“ usw. Unsere Lüge und Untreue vermag nicht bloß Gottes Wahrheit nicht zu stören, sie muss sie sogar in ein helleres Licht setzen. So bezeugt David (Ps. 51, 6), dass während und weil er selbst ein Sünder ist, Gott immer gerecht und ein billiger Richter bleibt in allem, was er über ihn verhängen mag, und dass er alle Verleumdungen der Gottlosen, welche seiner Gerechtigkeit widersprechen wollen, wird niederschlagen können. Unter den Worten Gottes versteht David seine Gerichte, welche über uns ergehen. Das zweite Satzglied lautet im hebräischen Texte des Psalms „und rein bleibest in deinem Richten“. D. h. Gottes Tun ist rein und lobenswert, wie er auch immer richten mag. Paulus aber folgt der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, die zu seiner gegenwärtigen Absicht auch besser passte. Wir wissen ja, dass die Apostel in der Anführung von Schriftstellen sich oft ziemlich frei bewegen: es genügte ihnen, wenn ihr Zitat sachlich stimmte. Buchstabenknechte waren sie nicht. Das Psalmwort will nun in unserm Zusammenhange folgendermaßen angewendet sein: wenn jede Sünde der Menschen zur Verherrlichung Gottes beitragen muss, Gott aber in seiner Wahrheit am herrlichsten dasteht, so folgt, dass auch die Hohlheit des menschlichen Wesens mehr dazu dient, Gottes Wahrheit zu bestätigen als zu erschüttern.
5 Ist´ s aber also, dass unsre Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit preist, was wollen wir sagen? Ist denn Gott auch ungerecht, dass er darüber zürnt? (Ich rede also auf Menschenweise.) 6 Das sei ferne! Wie könnte sonst Gott die Welt richten? 7 Denn so die Wahrheit Gottes durch meine Lüge herrlicher wird zu seinem Preis, warum sollte ich denn noch als ein Sünder gerichtet werden 8 und nicht vielmehr also tun, wie wir gelästert werden und wie etliche sprechen, dass wir sagen: „Lasset uns Übles tun, auf dass Gutes daraus komme?“ Welcher Verdammnis ist ganz gerecht.
V. 5. Ist´ s aber also, dass unsere Ungerechtigkeit usw. Diese Ausführung gehört nicht eigentlich zur Sache, und doch musste der Apostel sie einschieben, damit es nicht schiene, als habe er den Übelwollenden eine nur zu gern ergriffene Handhabe zur Lästerung geboten. Davids Wort legt ja denen, welche durchaus dem Evangelium eine Schande anhängen wollen, die verleumderische Schlussfolgerung nahe: wenn Gott von den Menschen nichts fordert, als dass er von ihnen verherrlicht werde -, wie kann er dann ihre Sünden strafen, die ja zu seiner Verherrlichung dient? Er stößt sich doch mit Unrecht an einer Sache, die gar keinen Anlass zum Zorn, sondern lediglich zu seiner Verherrlichung bietet. Damit aber niemand glaube, der Apostel trage seine eigene Meinung vor, so sagt er ausdrücklich, dass er lediglich nach Weise der Gottlosen redet. Damit versetzt er mit einem einzigen Worte der menschlichen Vernunft einen schweren Hieb, indem er zu verstehen gibt, dass es ihre Art sei, immer wider die göttliche Weisheit zu bellen. Denn er sagt nicht „nach Weise der Gottlosen“, sondern „auf Menschenweise“. Tatsächlich sind dem Fleische alle Geheimnisse Gottes widersinnig, frech und unbedenklich kämpft es dagegen an, und was es nicht versteht, verfolgt es mit seinem Spott. Wir entnehmen daraus die Mahnung, dass, wer solche Weisheit verstehen will, zuerst seinem eigenen Sinne den Abschied geben und sich ganz dem Gehorsam des Wortes unterwerfen muss. Das Wort zürnen heißt hier soviel wie richten oder strafen.
V. 6. Das sei ferne! Zur Abwehr der Lästerung greift Paulus nicht sofort nach Gründen, sondern er drückt zunächst seinen Abscheu aus. So wird klar, dass der christliche Glaube nichts mit solchen Tollheiten zu schaffen hat. Dann erst folgt die Widerlegung, doch sozusagen auf einem Umwege. Denn der Apostel verfolgt den Einwurf nicht bis aufs letzte, sondern gibt einfach die Antwort, dass derselbe zu törichten Folgerungen führte. Zum Beweise für die Unmöglichkeit des Einwurfs dient Gottes Gericht: Wie könnte sonst Gott die Welt richten? Da er dies aber tut, so kann er nicht ungerecht sein. Dabei ist gar nicht bloß von der Macht die Rede, die Gott möglicherweise gebrauchen kann und wird, sondern von derjenigen, welche tatsächlich in Lauf und Ordnung aller Dinge widerstrahlt: Gottes Geschäft ist es, die Welt zu richten, d. h. kraft seiner Gerechtigkeit zu leiten, und was ungeordnet ist, in die beste Ordnung zu bringen. Deshalb kann nichts unrecht sein, was er festsetzt. Es scheint eine Anspielung an 1. Mose 18, 25 vorzuliegen, wo Abraham in seiner Fürbitte für Sodom dem Herrn vorhält: „Das sei ferne von dir, dass du, der du aller Welt Richter bist, den Gerechten mit dem Gesetzlosen tötest.“ Dergleichen kann nicht dein Werk sein, noch darf es auf dich fallen. Ähnlich heißt es Hiob 34, 17: „Kann auch, der das Recht hasst, regieren?“ Unter den Menschen gibt es ja häufig ungerechte Richter: sie haben sich widerrechtlich eingedrängt oder sind hinter ihren früheren besseren Stand zurückgegangen. . Bei Gott ist dergleichen ausgeschlossen. Da er Richter von Natur ist, muss er auch gerecht sein: denn er kann sich selbst nicht verleugnen. Will man außer diesem indirekten Beweis noch einen weiteren, so ließe sich etwa sagen: Dass Gottes Gerechtigkeit in ein helleres Licht rückt, geschieht nicht durch die Natur der Ungerechtigkeit, sondern Gottes Güte überwindet unsere Schlechtigkeit und lenkt sie auf ein Ziel, welches wir selbst nicht suchten.
V. 7. Denn so die Wahrheit Gottes durch meine Lüge usw. Ohne Zweifel wird auch noch dieser Einwurf im Sinne der Gottlosen vorgetragen. Er ist eine Erläuterung des vorigen, und der Apostel musste ihn hinzufügen, wenn nicht sein Unmut mitten in der Rede abbrechen sollte. Der Sinn ist: wenn infolge unserer Falschheit Gottes Wahrheit deutlicher und gewissermaßen fester wird, was ja nur zu höherem Ruhme Gottes beiträgt -, so ist es ganz unbillig, dass als Sünder gestraft werde, der doch nur ein Werkzeug für die Vermehrung der Ehre Gottes ist.
V. 8. Und nicht vielmehr also tun, wie usw. Auch dieses gottlose Gerede würdigt der Apostel keiner Antwort, die doch leicht zu geben gewesen wäre. es lag ja bloß der Trugschluss vor: wenn unsere Übeltaten für Gott Ehre schaffen, und dem Menschen doch nichts mehr am Herzen liegen muss als Gottes Ehre -, so müssen wir Übles tun, damit Gott geehrt werde. Die einfache Antwort lautet: was in sich selbst böse ist, bleibt böse. Dass aber unsere Sünde Gottes Ehre verherrlicht, ist nicht des Menschen, sondern Gottes Werk. Er versteht als ein weiser Künstler unsere Bosheit in seinen Dienst zu zwingen und dahin zu lenken, wohin wir durchaus nicht zielten: auf die Mehrung seines Ruhmes. Die Weise, wie Gott von uns geehrt sein will, hat er vorgeschrieben: Frömmigkeit will er haben, die seinem Worte gehorcht. Wer diese Schranke überspringt, sucht nicht Gottes Ehre, sondern Gottes Schmach. Dass der Erfolg ein besserer ist, ist Werk der göttlichen Vorsehung, nicht der menschlichen Verkehrtheit, der wir es sicherlich nicht zu danken haben, dass Gottes Herrlichkeit nicht verletzt oder gar vernichtet wurde.
Wie wir gelästert werden. Seltsam, dass die so vorsichtige Lehre des Paulus über die verborgenen Geheimnisse Gottes eine solche Verdrehung durch unverschämte Gegner erfahren konnte! Aber niemals hat ja selbst die Gewissenhaftigkeit und Nüchternheit der Knechte Gottes unreine und giftige Zungen zum Schweigen bringen können. So ist es nichts Neues, dass auch heute auf unsere Lehre, die doch des Zeugen sind nicht allein wir, sondern alle Engel und alle Gläubigen das lautere Evangelium Christi ist, Hass und Verleumdung der Feinde fällt. Wir können das aber tragen und bleiben bei dem einfachen Bekenntnis der Wahrheit, die Kraft genug besitzt, solche Lügengewebe zu zerreißen. Im Übrigen folgen wir dem Beispiel der Apostel und lassen verkommene und verderbte Menschlein nicht ungestraft den Schöpfer lästern.
Welcher Verdammnis ist ganz recht. Gerecht in doppelter Weise: erstens, weil solch gottloser Gedanke in ihren Sinn kommen und ihre Billigung finden konnte; zweitens, weil sie sich erfrechten, mit solcher Verleumdung das Evangelium zu schmähen.
9 Was sagen wir denn nun? Haben wir einen Vorteil? Gar keinen. Denn wir haben droben bewiesen, dass beide, Juden und Griechen, alle unter der Sünde sind.
V. 9. Nach der Abschweifung kehrt die Rede zum eigentlichen Gedankengang zurück. Damit nämlich nicht die Juden antworten könnten, sie würden ihrer Vorrechte vor den Heiden beraubt, welche doch Paulus selbst soeben hoch gerühmt hatte, muss jetzt die Frage endgültig gelöst werden, ob sie wirklich in irgendeinem Stück besser seien als die Heiden. Nun scheint es ja ein handgreiflicher Widerspruch, dass den Juden jetzt ihre Würde völlig geraubt wird, die kurz zuvor reichliche Anerkennung fand. Aber es scheint nur so. Denn die Vorzüge, welcher Paulus ihnen zuerkannte, liegen außer ihnen, in Gottes Güte, nicht in ihrem eigenen Verdienst. Hier aber ist von der eignen Würdigkeit die Rede, deren sie sich an sich selbst etwa rühmen könnten. Beide Sätze stimmen folglich so trefflich zusammen, dass einer nur die Kehrseite des andern bildet. War doch als Hauptvorzug genannt: ihnen ward vertrauet, was Gott geredet hat. Das aber hatten sie nicht durch ihr Verdienst. Also blieb ihnen nichts, auf das sie vor Gottes Angesicht stolz sein konnten. Bemerkenswert ist die seelsorgerliche Klugheit, dass der Apostel in dritter Person redete, als er die Vorzüge der Juden rühmte (V. 1. 2); jetzt aber, da es gilt, sie herabzusetzen, schließt er sich selbst ein, um jeden Anstoß zu beseitigen: haben wir einen Vorteil?
Denn wir haben droben bewiesen usw. Dabei ist nicht von einem gewöhnlichen, sondern von einem richterlichen Beweise die Rede. Der Ankläger stellt das Verbrechen unter Beweis, wenn er sich anschickt, mit Zeugnissen und Schlussfolgerungen zu erhärten, dass es geschehen sei. So hat der Apostel das ganze Menschengeschlecht vor Gottes Richterstuhl gezogen, um es unter die gleiche Verdammnis zu beugen. Unter der Sünde sein heißt: mit Recht von Gott als Sünder verurteilt werden und unter dem Fluche stehen, welcher auf der Sünde lastet. Wie die Gerechtigkeit Freisprechung erfährt, so die Sünde den Fluch.
10 Wie denn geschrieben steht: „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer. 11 Da ist nicht, der verständig sei; da ist nicht, der nach Gott frage. 12 Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden. Da ist nicht, der Gutes tue, auch nicht einer. 13 Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen handeln sie trüglich. Otterngift ist unter ihren Lippen; 14 ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit. 15 Ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; 16 auf ihren Wegen ist eitel Schaden und Herzeleid, 17 und den Weg des Friedens wissen sie nicht. 18 Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen.“
V. 10. Wie denn geschrieben steht. Bisher hat Paulus Vernunftgründe aufgerufen, um den Menschen ihre Sündhaftigkeit zu beweisen. Jetzt fügt er einen Autoritätsbeweis hinzu: ein solcher wiegt ja bei den Christen am schwersten, wenn sie nur Gottes alleinige Autorität anerkennen. Hier mögen sich die Lehrer der Kirche über ihre Pflicht unterrichten lassen. Denn wenn Paulus keine Lehre vorträgt, ohne sie mit einem Schriftbeweise zu bekräftigen, so müssen wir dies noch in weit höherem Maße so halten: denn wir haben ja nur den Auftrag, das Evangelium zu predigen, welches wir durch Vermittlung des Paulus und anderer Zeugen überkommen haben.
Da ist nicht, der gerecht sei. In der Anordnung der Sprüche, die er übrigens ziemlich frei, mehr nach dem Sinne als genau nach dem Buchstaben anführt, scheint der Apostel den Gesamtgehalt der Ungerechtigkeit, die nach dem Urteil der Schrift im Menschen steckt, vorangestellt zu haben. Dann lässt er die Früchte der Ungerechtigkeit Stück für Stück folgen. Zuerst (V. 11): da ist nicht, der verständig sei. Den Beweis für diesen Unverstand liefert der folgende Satz: da ist nicht, der nach Gott frage. Denn ein noch so gebildeter Mensch, hinter dessen Wissen keine Erkenntnis Gottes steckt, ist hohl. Alle Wissenschaften und Künste, die ja an sich selbst gut sind, werden ohne dieses Fundament eitel. Weiter (V. 12) folgt: da ist nicht, der Gutes tue. Dieser Satz deutet auf den Verlust der menschlichen Gutherzigkeit. Gotteserkenntnis ist das beste Band der Menschen untereinander: denn der gemeinsame Vater einigt, die sonst zerstreut sind. Unkenntnis Gottes hat unmenschliches Wesen im Gefolge: keiner kümmert sich mehr um den andern, jeder liebt und sucht nur sich selbst. Gegensätzlich wird hinzugefügt (V. 13): ihr Schlund ist ein offenes Grab, d. h. ein Abgrund, der die Menschen verschlingen will. Das ist mehr, als wenn der Apostel etwa von „Menschenfressern“ geredet hätte. Wir haben hier vielmehr das Übermaß der Ungeheuerlichkeit, dass eine Menschenkehle wie ein Schlund gedacht ist, der ganze Menschen mit einem Male hinab schlingen kann. Eben dahin zielen die folgenden Sätze: mit ihren Zungen handeln sie trüglich; Otterngift ist unter ihren Lippen. Wenn es weiter heißt: ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit, so steht dies eigentlich im Gegensatz zur vorigen Aussage. Aber es soll deutlich werden, dass die Gottlosen nach jeder Richtung Bosheit ausatmen. Reden sie sanft, so ist es Täuschung, und unter Schmeichelreden bieten sie Gift aus. Schütten sie offen aus, was sie im Herzen tragen, so kommt Fluch und Bitterkeit hervor. Ganz besonders passend ist (V. 16) der alsbald folgende Spruch aus Jesaja: auf ihren Wegen ist eitel Schaden und Herzeleid. Das ist ein anschauliches Bild mehr als barbarische Wildheit, welche, wohin sie tritt, nur öde Wüsteneien zurücklässt. Weiter heißt es (V. 17): den Weg des Friedens wissen sie nicht; denn sie haben sich dermaßen an Räubereien, Gewalttaten, Unrecht, Grausamkeit und Rohheit gewöhnt, dass sie verlernt haben, irgend etwas freundlich und gütig zu tun. Zum Schluss (V. 18) wird mit einem andern Worte wiederholt, was wir schon anfangs sagten, dass alle Laster aus der Verachtung Gottes hervorgehen. Ist die Frucht Gottes der Weisheit Anfang, so bleibt nichts mehr richtig und zuverlässig, sobald man davon weicht. Sie ist ein Zügel unserer Bosheit: fehlt derselbe, so stürmen wir vorwärts in zügelloses Laster. Doch damit niemand glaube, dass diese Bibelstellen unpassender weise aus dem Zusammenhang gerissen seien, wollen wir jede einzelne in ihrem ursprünglichen Zusammenhang erwägen. Ps. 14, 1 sagt David: die Verkehrtheit der Menschen sei so ausgebreitet, dass Gott bei genauer Betrachtung auch nicht einen einzigen Gerechten finden konnte. Da nun Gott nichts zu entgehen vermag, muss das Verderben das gesamte Menschengeschlecht durchdringen. Der Schluss des Psalms redet nun freilich von Israels Erlösung: aber wir werden bald zeigen, wie und inwieweit die Heiligen dem allgemeinen Verderben enthoben werden. In den andern Psalmen klagt David über die Schlechtigkeit seiner Feinde: nun steht er aber mit den Seinen als Vorbild des Reiches Christi da -, unter der Gestalt seiner Feinde erscheinen also alle, welche fern von Christus, von seinem Geist sich nicht leiten lassen. Jesaja deutet mit klaren Worten auf Israel: die gegen dieses erhobene Anklage trifft aber noch viel mehr auch die Heiden. Was folgt aus dem allen? Dass ohne Zweifel alle diese Aussagen beschreiben, wie der Mensch von Natur ist, wenn er sich selbst überlassen bleibt. So sind nach dem Zeugnis der Schrift alle, die nicht durch Gottes Gnade wiedergeboren wurden. Der Zustand der Heiligen würde dabei um nichts besser sein, wenn ihre Sündhaftigkeit nicht Heilung erfahren hätte. Damit sie aber nicht vergessen, dass sie von Natur auf der gleichen Stufe stehen, müssen sie in den Überresten des Fleisches, welche sie stetig umgeben, den Samen aller Sünden noch immer spüren, der unaufhörlich seine Früchte bringen würde, wenn die Abtötung es nicht hinderte. Und diese verdanken sie nicht ihrer Natur, sondern der Barmherzigkeit des Herrn. Nun ist allerdings nicht jeder Mensch mit allen hier aufgeführten Fehlern behaftet. Dass dieselben trotzdem mit Fug und Recht der menschlichen Natur zugeschrieben werden müssen, wurde zu 1, 26 ausgeführt.
19 Wir wissen aber, dass, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, auf dass aller Mund verstopft werde und alle Welt Gott schuldig sei; 20 darum, dass kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein kann; denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.
V. 19. Wir wissen aber usw. Jetzt bleiben die Heiden außer Betracht, und die soeben angeführten Sprüche werden ausdrücklich den Juden zugeschoben. Diese waren ja von wahrer Gerechtigkeit ebenso weit entfernt wie die Heiden; aber da sie ihre persönliche Unheiligkeit hinter dem besonderen Bunde Gottes, der sie zum auserwählten Volke machte, zu verstecken suchten, so war es nötig, sie besonders scharf anzufassen. Der Apostel kannte die geläufige jüdische Ausflucht, dass man die Sprüche der Schrift über die allgemeine Sündhaftigkeit des menschlichen Geschlechts allein auf die Heiden bezog. Darum erinnert er daran, dass die Schrift sich doch an die Juden wendet: sie gehören also mit in den allgemeinen Haufen, und das Urteil trifft sie sogar ganz besonders. Wem galt denn das Gesetz sonst, und wen anders wollte es unterweisen als die Juden? Was bezüglich anderer Menschen gelegentlich darin vorkommt, ist Nebensache: zugeschnitten ist die Lehre des Gesetzes auf seine eigentlichen Jünger. Die Juden stehen unter dem Gesetz, weil für sie das Gesetz bestimmt war und also auf sie besonders zielte. Unter „Gesetz“ werden dabei auch die Weissagungen, überhaupt der ganze Inhalt des Alten Testaments verstanden.
Auf dass aller Mund verstopft werde. D. h. jede Ausflucht und Entschuldigung soll abgeschnitten werden. Das Bild erinnert an einen Gerichtsverhandlung: ein Angeklagter, der wirklich etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen hat, erbittet sich das Wort, um sich von falschem Verdachte zu befreien; fühlt er sich aber im Gewissen geschlagen, so muss er schweigen und still seine Strafe erwarten: und schon jenes notgedrungene Schweigen spricht ihm das Urteil. Den gleichen Sinn hat Hiob 40, 4: „Ich will meine Hand auf meinen Mund legen.“ Eine weitere Auslegung unseres Wortes bietet die nächste Wendung: und alle Welt Gott schuldig sei. Dem ist der Mund verstopft, der sich so im Gerichte gefangen sieht, dass jedes Entweichen unmöglich ist.
V. 20. Des Gesetzes Werke. Was hier unter „des Gesetzes Werke“ zu verstehen ist, haben selbst sehr kundige Leute sehr verschieden dargestellt. Die einen verstehen darunter die Beobachtung des ganzen Gesetzes, die andern wollen es allein auf die Einhaltung der Zeremonien beziehen. Die Vertreter der erstgenannten Anschauung berufen sich vor allem auf das Wort „Gesetz“, das eine Einschränkung nicht vertrage. Ich bin der Ansicht, dass dies Wort hier freilich eine andere Aufgabe hat: Unsere Werke sind vor dem Herrn soweit gerecht, als wir ihm durch sie Dienst und Gehorsam zu leisten trachten. Um nun allen unsern Werken die Fähigkeit, uns gerecht zu machen, abzusprechen, nennt Paulus gerade die Werke, die das noch am ehesten vermöchten, wenn es überhaupt ginge. Denn am Gesetz hängen doch die Verheißungen, ohne die unsere Werke gar keinen Werkt vor Gott hätten. Paulus braucht also das Wort „Gesetz“, weil in ihm allenfalls unsere Werke einen Wert gewinnen könnten. Selbst die Scholastiker wussten noch darum, dass unsere Werke nicht aus sich, sondern im Zusammenhang mit Gottes Bund verdienstlich sein könnten. Sie bedachten dabei freilich nicht, dass diese unsere Werke befleckt sind und deshalb tatsächlich keinerlei Verdienst begründen; aber der oben genannte Grundsatz ist richtig. Es ist deshalb auch wohlbegründet, dass Paulus hier nicht von Werken schlechthin, sondern von des Gesetzes Werken redet. Paulus wendet sich hier offenbar gegen Leute, die das Volk mit einem falschen Vertrauen auf die Zeremonien irreführten. Um diesem Irrtum entgegenzutreten, beschränkt er sich aber nicht auf die Frage nach dem Wert der Zeremonien, sondern fragt nach dem ganzen Gesetz. Dafür ist der ganze Zusammenhang, den Paulus bisher verfolgt hat und auch weiter verfolgt, ein Beweis. Aber auch viele einzelne Stellen führen auf das gleiche Ergebnis. Es geht doch immer wieder um den Hauptgrundsatz: alle Menschen werden ohne jede Ausnahme durch das Gesetz der Ungerechtigkeit überführt und beschuldigt. Der Gegensatz, der alles durchzieht, ist doch der zwischen der Gerechtigkeit aus den Werken und dem Schuldzustand, der aus unserer Übertretung folgt. Unter Fleisch schlechthin werden die Menschen verstanden. Nur wirkt der Ausdruck noch umfassender, so wie etwa: kein Sterblicher.
Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde. Der Beweis vollendet sich durch den Hinweis auf das Gegenteil: Gerechtigkeit kann das Gesetz nicht bringen, weil es uns der Sünde und der Verdammnis überführt. Aus dem gleichen Brunnen quillt nicht Leben und Tod. Indessen bleibt es eine unangetastete Wahrheit, dass das Gesetz an sich zur Gerechtigkeit gegeben ward und der Weg zum Leben ist. Aber unsere Sünde und Verderbtheit macht, dass dies Ziel nicht erreicht werden kann. So vermag das Gesetz nur dem Menschen seine Sünde zu enthüllen und ihm die Hoffnung der Seligkeit zu nehmen. Dabei wollen wir nur noch anmerken: wen das Gesetz zum Sünder stempelt, der ist aller und jeder Gerechtigkeit bar. Wenn die römischen Kirchenlehrer eine halbe Gerechtigkeit erdichten, zu welcher die Werke wenigstens einen Teil beitragen sollen, so ist das ein gottloses Gerede.
21 Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart und bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. 22 Ich sage aber von solcher Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesum Christum zu allen und auf alle, die da glauben.
V. 21. Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit usw. Ob man „Gerechtigkeit Gottes“, wie die Worte im griechischen Text heißen, übersetzen soll: „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“ oder „die Gerechtigkeit, welche Gott uns schenkt“ ist eine untergeordnete Frage (vgl. auch zu 1, 17). Denn auch in letzterem Falle steht fest, dass die von Gott dem Menschen geschenkte Gerechtigkeit, welche allein als solche vor Gott gilt und Anerkennung findet, offenbart wurde ohne Zutun d. h. ohne Mithilfe des Gesetzes. Und bei diesem Gesetz muss man an die Werke insgesamt denken, deren Verdienst also in jedem Falle ausgeschlossen bleibt. Die Werke erscheinen auch nicht im Verein mit der Barmherzigkeit Gottes wenigstens als ein Nebengrund unserer Gerechtigkeit. Jeder Gedanke an sie bleibt völlig ausgeschlossen, und Gottes Erbarmen bildet den alleinigen Grund. Nun weiß ich freilich, dass Augustinus und viele neuere Lehrer, welche damit eine besondere Weisheit entdeckt zu haben glauben, die „von Gott geschenkte Gerechtigkeit“ als die Gnadengabe der Wiedergeburt deuten, welche deshalb ein Geschenk der freien Gnade sein soll, weil Gottes Geist es ist, der ohne irgendein vorhergegangenes Verdienst in uns die Erneuerung schafft. Werkes des Gesetzes sollen deshalb davon ausgeschlossen sein, weil die Menschen aus eigner Kraft, abgesehen von der geschenkten Erneuerung, kein Verdienst erwerben können. Aber der Apostel schließt aus dem Handel der Rechtfertigung alle und jede Werke aus, auch diejenigen, welche Gott in den Seinen wirkt. Das wird der Zusammenhang der Rede vollends deutlich machen. Denn Abraham (4, 2) war zu der Zeit, von welcher Paulus sagt, er sei nicht durch Werke gerecht geworden, ohne Zweifel wiedergeboren und vom Geiste Gottes getrieben. Aus der Rechtfertigung des Menschen scheiden also nicht bloß die Werke der so genannten natürlichen Moral aus, sondern auch die Werke der Gläubigen. Wenn ferner als Beschreibung der Gerechtigkeit (4, 6-7) der Spruch dasteht: „Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind“ so ist von gar keinen Werken irgendwelcher Art die Rede, sondern mit Ausschluss alles Verdienstes der Werke erscheint als ein Grund der Gerechtigkeit die Vergebung der Sünden. Nun meint man allerdings, es stimme ganz gut zusammen, dass der Mensch durch den Glauben und Christi Gnade gerechtfertigt werde -, und dass er doch die Rechtfertigung auch durch Werke erlange: denn die Werke erwüchsen ja aus der Erneuerung des Geistes, und diese wieder verdanken wir der göttlichen Gnade und empfangen sie durch den Glauben. Aber Paulus hegt viel tiefere Gedanken: er weiß, dass die Gewissen nicht stille werden, bis sie allein in Gottes Erbarmen ruhen. So kann er (2. Kor. 5, 19-21) sagen: Gott war in Christus und schaffte der Welt Versöhnung und Gerechtigkeit -, und kann erläuternd hinzufügen: dies geschah dadurch, dass er ihnen ihre Sünde nicht zurechnete. So stellt er auch im Galaterbrief (3, 12) das Gesetz in einen Gegensatz zum Glauben: es kann nicht Gerechtigkeit schaffen, weil es das Leben nur denen verspricht, welche tun, was es gebietet.
Nun fordert aber das Gesetz nicht nur einen Schein- und Buchstabendienst, sondern völlige Liebe zu Gott. Daraus folgt, dass die Gerechtigkeit des Glaubens für irgendwelches Verdienst der Werke keinen Raum lässt. Es ist also eine ganz oberflächliche Rede, wenn man sagt: wir würden in Christus gerechtfertigt, weil wir als Glieder Christi durch seinen Geist erneuert werden; wir würden durch den Glauben gerechtfertigt, weil wir durch den Glauben dem Leibe Christi eingefügt werden; wir würden aus Gnaden gerechtfertigt, weil zuvor Gott in uns nichts anderes fand als Sünde. Vielmehr: wir empfangen unsere Rechtfertigung in Christus, weil sie außer uns liegen muss; wir empfangen sie durch den Glauben, weil wir uns allein auf Gottes Barmherzigkeit und die Zusagen seiner freien Gnade stützen müssen; wir empfangen sie umsonst, weil Gott uns dadurch mit sich versöhnt, dass er unsere Sündenschuld begräbt. Bei dem allen darf man nun durchaus nicht bloß an den Anfang des Gerechtigkeitsstandes denken, wie manche Träumer wollen. Denn der Spruch: „Selig sind, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind“ traf doch auf David noch immer zu, als er sich schon längst im Dienste Gottes geübt hatte. Und Abraham, der als ein Muster seltener Heiligkeit dastand, konnte noch 30 Jahre nach seiner Berufung kein Werk aufweisen, dessen er sich vor Gott rühmen durfte: dass er der Verheißung glaubt, wird ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Diese Predigt des Paulus, dass Gott die Menschen rechtfertigt, indem er ihnen die Sünden vergibt, soll in der Kirche stetig widerklingen. Der Friede des Gewissens, den jeder Seitenblick auf die Werke stören kann, soll eben nicht bloß einen Tag anhalten, sondern das ganze Leben. So folgt, dass wir bis zum letzten Atemzuge auf keine andere Weise gerecht sein können, als dass wir allein auf Christus blicken, in welchem Gott uns zu seinen Kindern angenommen hat, und in welchem wir ihm angenehm sind. Aus dem allen lässt sich ersehen, wie falsch der Vorwurf ist, dass wir das Wörtlein „allein aus Gnaden“ erst in die Bibel hineingelesen hätten, welches doch so nicht darin stünde. Liegt aber die Gerechtigkeit einerseits nicht im Gesetz, andererseits auch nicht in, sondern außer uns -, so muss sie wohl der Gnade allein zugeschrieben werden. Hängt sie aber allein an der Gnade, so auch allein am Glauben. Das Wörtlein nun könnte einfach einen Gegensatz des Gedankens einleiten. Besser aber wird es noch sein, an einen wirklichen Fortschritt der Zeit zu denken: jetzt, nachdem Christus im Fleische erschienen ist und das Evangelium von ihm gepredigt wird, ist die Offenbarung der Glaubensgerechtigkeit vorhanden. Deshalb muss sie doch vor Christi Ankunft nicht gänzlich verborgen gewesen sein. Man muss eben eine doppelte Kundgebung der Gerechtigkeit unterscheiden: die eine geschah bereits im Alten Testament und erfolgte durch Wort und Sakramente; die andere geschieht im Neuen Testament: sie fügt zu den Verheißungen und heiligen Wahrzeichen die wesenhafte Erfüllung in Christi Person. Außerdem ist auch die Deutlichkeit der Offenbarung im Evangelium größer.
Bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Dieser Zusatz soll dem Schein entgegenwirken, als stünde die Austeilung der frei geschenkten Gerechtigkeit durch das Evangelium im Widerspruch mit dem Gesetz. Paulus hat gesagt, die Glaubensgerechtigkeit bedürfe nicht des Zutuns des Gesetzes. Jetzt gesteht er zu, dass sie eine Bestätigung durch dessen Zeugnis wohl empfangen kann. Weist nun das Gesetz auf die frei geschenkte Gerechtigkeit hin, so kann es nicht dazu gegeben sein, die Menschen eine wirklich erreichbare Gerechtigkeit aus Werken zu lehren. Solcher Gebrauch des Gesetzes wäre ein Missbrauch. Sucht man einen Beweis für diese Lehre, so mag man das ganze Alte Testament durchgehen: dort wird man finden, dass dem aus Gottes Reich getriebenen Menschen nur übrig blieb, auf die Erlösung zu hoffen, welche die erste evangelische Verheißung (1. Mose 3, 15) in dem gesegneten Samen suchen lehrte, der den Kopf der Schlange zertreten und den Völkern Segen eröffnen sollte. Weiter wird man merken, wie die Gebote uns unsere Ungerechtigkeit enthüllten und wie die Opfer und heiligen Darbringungen darauf hindeuten, dass Genugtuung und Reinigung allein in Christus werde zu finden sein. Kommt man dann zu den Propheten, so wird man einen wahren Reichtum von Zusagen freier Gnade entdecken.
V. 22. Ich sage aber von solcher Gerechtigkeit usw. Es folgt nun in wenigen Worten eine genauere Beschreibung der Rechtfertigung: sie hat ihren Sitz in Christi Person und wird durch den Glauben ergriffen. Hier werden in geordneter Folge noch mancherlei Wahrheiten deutlich. Zuerst: in der Frage nach unserer Gerechtigkeit entscheidet kein menschliches Urteil, sondern allein Gottes Gericht, welches nur eine ganz vollkommene Rechtschaffenheit und einen restlosen Gehorsam gegen das Gesetz gelten lassen wird. Da aber kein Mensch solche Leistungen vollbringen kann, so sind sie alle in sich selbst ohne Gerechtigkeit. Zweitens tritt dann Christus auf den Plan, der einzig Gerechte, welcher seine Gerechtigkeit uns zuspricht und uns dadurch gerecht sein lässt. Jetzt erkennen wir, wie die Gerechtigkeit des Glaubens Christi Gerechtigkeit ist. Wenn wir gerechtfertigt werden, so ist die treibende Kraft dafür Gottes Erbarmen; der Grund, welcher die Rechtfertigung ermöglicht, ist Christus; das im Glauben ergriffene Wort ist das Mittel. Nun ist klar, weshalb es heißt, dass der Glaube uns rechtfertige: er ist das Mittel und Werkzeug, welches Christus ergreift, in welchem die Gerechtigkeit uns zuteil wird. Nachdem wir Christi Genossen wurden, ist nicht bloß unsere Person gerecht, sondern auch unsere Werke werden vor Gott gerecht geschätzt: denn was an ihnen Unvollkommenes bleibt, findet seine Deckung durch Christi Blut. Jetzt erst werden die nur bedingungsweise gegebenen Verheißungen ebenfalls durch Gottes Gnade für uns erfüllt: denn Gott kann unsere Werke für vollkommen ansehen, seit die freie Vergebung die Mängel ersetzt.
Zu allen und auf alle, die da glauben. In feierlicher Wiederholung drückt der Apostel immer wieder mit andern Worten aus, was wir schon wissen, dass allein Glaube erfordert wird. Damit fällt auch jeder äußerliche Unterschied zwischen den Gläubigen: es ist gleichgültig, ob sie Juden oder Heiden sind.
23 Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, 24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist, 25 welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, dass er Sünde vergibt, welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld; 26 auf dass er zu diesen Zeiten darböte die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt; auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesum.
V. 23. Es ist hier kein Unterschied. Alle ohne Ausnahme sollen ihre Gerechtigkeit einzig in Christus suchen. Nicht darf sich der eine hierhin, der andere dorthin wenden: alle müssen den Weg des Glaubens gehen, weil sie als Sünder keinen Grund zum Ruhm vor Gott haben. Es bleibt auch kein Raum für eine halbe Gerechtigkeit: Paulus nimmt dem Sünder jeglichen Ruhm. So könnte er nicht sprechen, wenn wir halb durch unsere Werke, halb durch Gottes Gnade gerechtfertigt würden. Wo überhaupt Sünde sich findet, da ist solange keine Gerechtigkeit, bis Christus den Fluch hinweg nimmt. Deshalb heißt es Gal. 3, 10-13: „die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch … Christus aber hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes.“ Ruhm, den sie bei Gott haben sollten, ist ein solcher, den Gott ihnen zusprechen könnte. Wie es Joh. 12, 43 heißt: „Sie hatten lieber Ruhm bei Menschen als Ruhm bei Gott.“ So werden wir wiederum von menschlichem Beifall hinweg auf Gottes Gericht gewiesen.
V. 24. Und werden ohne Verdienst gerecht. Da den Menschen, welche von Gottes gerechtem Gericht getroffen werden, nichts bleibt als Verderben, so müssen sie die Rechtfertigung bei der freien Gnade suchen. Christus kommt unserm Elend zu Hilfe, teilt sich den Gläubigen mit und lässt sie in seiner Person alles finden, was ihnen selbst fehlt. In der ganzen Bibel steht fast kein anderer Spruch, der so trefflich die Kraft der Gerechtigkeit bezeugt. Ohne unser Verdienst, aus seiner Gnade spricht uns Gott gerecht. Der einfache Gegensatz von Gnade und Verdienst hätte auch genügt: aber der doppelte Ausdruck prägt umso tiefer ein, dass es sich nicht um eine Halbheit handelt, sondern dass Gottes Erbarmen ganz allein eine volle Gerechtigkeit schafft.
Durch die Erlösung usw. Das ist der tragende Grund unserer Gerechtigkeit, dass Christus durch seinen Gehorsam dem Gerichte des Vaters Genüge geleistet und als unser Stellvertreter uns von der Herrschaft des Todes befreit hat, die uns gefangen hielt. Durch sein sühnendes Opfer ward unsere Schuld getilgt. Daraus lässt sich von neuem ersehen, dass unsere Rechtfertigung durchaus nicht als eine innerliche Erneuerung vorgestellt werden darf. Denn wenn Gott uns als gerecht gelten lässt, weil ein Preis für uns entrichtet ward, so versteht sich ja von selbst, dass wir anderswoher entlehnen, was man in uns nicht finden kann. Was jene „Erlösung“ bedeutet und worauf sie zielt, führt Paulus sofort weiter aus: wir werden mit Gott versöhnt. Denn Christus wird (V. 25) eine „Sühne“, oder besser (damit der Anklang an das alttestamentliche Vorbild deutlicher werde) ein „Sühnopfer“ genannt. Was heißt das aber anders, als dass wir dadurch gerecht werden, dass Christus uns einen gnädigen Vater schafft? Aber diese Worte fordern genauere Erwägung.
V. 25. Welchen Gott hat vorgestellt usw. Herrlicher Lobpreis der Gnade, welche aus freiem Triebe einen Weg suchte und fand, unsern Fluch zu bannen! Unser Wort deckt sich ganz mit dem Spruche (Joh. 3, 16): „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab.“ Den er längst der Welt zum Mittler bestimmt hatte, hat Gott zu seiner Zeit öffentlich vorgestellt. Das Wort Gnadenstuhl erinnert daran, dass uns in Christus wahrhaftig geschenkt wird, was der Alte Bund im ahnungsvollen Schattenbilde darstellte. Paulus will uns damit einprägen, dass Gott, abgesehen von Christus, Zorn gegen uns hegt; durch Christus aber kommt die Versöhnung zustande, indem seine Gerechtigkeit uns Gott angenehm macht. Gott verwirft ja an uns nicht sein eignes Werk, das, was er selbst ursprünglich geschaffen hat. Er verwirft vielmehr unsere Unreinigkeit, welche den Glanz seines Ebenbildes verwischt hat. Sobald Christi Reinigung diese abgewaschen, liebt und küsst uns der Vater als sein neu gereinigtes Werk.
Ein Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut. So möchte ich die Worte des Apostels in geschlossenem Zusammenhange wiedergeben. Denn er scheint sagen zu wollen: wir haben einen versöhnten Gott, sobald unser Glaube auf dem Blute Christi ruht. Durch den Glauben kommen wir erst in den wirklichen Besitz der Wohltat Christi. Wenn aber Paulus allein das Blut erwähnt, will er andere Stücke des Erlösungswerkes sicher nicht ausschließen, sondern unter einem wesentlichen Stück das Ganze begreifen. Dabei wird gerade das Blut genannt, weil es das Mittel ist, die Sünde abzuwaschen.
In dem, dass er Sünde vergibt. Durch Vergebung der Sünden bietet Gott die Gerechtigkeit dar. Daraus wird noch einmal klar, dass unsere Gerechtigkeit auf bloßer Zurechnung ruht, nicht aber darauf, dass wir etwa in tatsächlich Gerechte verwandelt würden. Mit immer wieder neuen Worten schließt der Apostel bei dieser Gerechtigkeit jedes eigene Verdienst aus. Erlangen wir die Gerechtigkeit durch Vergebung der Sünden, so muss dieselbe ja wohl außer uns liegen. Und wenn die Vergebung ein Geschenk der freien Gnade ist, so fällt jedes Verdienst. Es fragt sich aber, weshalb Paulus lediglich an die Vergangenheit zurückdenkt und allein von der Sünde redet, welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld. Er erinnert damit an die alttestamentlichen Sühneordnungen, welche wohl auf die zukünftige Genugtuung weissagen, nicht aber Gottes Gnade wirklich erwerben konnten. In demselben Sinne sagt der Hebräerbrief (9, 15), dass durch Christus eine Erlösung von den Übertretungen vollbracht sei, welche unter dem Alten Bunde noch bestehen blieben. Natürlich soll das nicht heißen, dass Christi Tod nur die Sünden der vergangenen Zeit gesühnt habe. Vielmehr will Paulus andeuten, dass bis zu Christi Tod kein vollgültiges Mittel da war, um Gott zu versöhnen, auch nicht in den Schattenbildern des Gesetzes. Die Wahrheit und Wirklichkeit trat erst in der Zeit der Erfüllung ein. Selbstverständlich gibt es auch zur Sühne der Sünden, welche wir noch täglich begehen, kein anderes Mittel. Von göttlicher Geduld redet Paulus aber, um der Verwunderung darüber zu begegnen, dass die Gnade so spät erschienen ist. Voller Sanftmut hat Gott sein Gericht hintangehalten und hat seinen Flammen gewehrt, zu unserm Verderben hervorzubrechen, bis endlich die Zeit erfüllet war, dass er uns in seine Gnade aufnahm.
V. 26. Auf dass er darböte die Gerechtigkeit. Mit gewaltigem Nachdruck wird dieser Satz wiederholt, weil Paulus ihn besonders einschärfen wollte. Denn nichts geht dem Menschen schwerer ein, als auf sich selbst zu verzichten und alles von Gott zu erwarten. Im Besonderen sollten die Juden erinnert werden, wohin es galt, die Augen zu richten. Zu diesen Zeiten. Keinem Zeitalter fehlten Offenbarungen der göttlichen Gnadengerechtigkeit gänzlich. Aber völlig und klar wurde diese Offenbarung erst, als die Sonne der Gerechtigkeit aufging und Christus uns geschenkt ward. Jetzt ist die angenehme Zeit und der Tag des Heils. Das Alte Testament besaß die Wahrheit nur verhüllt.
Auf dass er allein gerecht sei usw. Hier empfangen wir die weitere Beschreibung der Gerechtigkeit, welche durch Christi Ankunft oder, wie es im ersten Kapitel (1, 17) heißt, im Evangelium offenbart ward. Dieselbe besteht in zwei Stücken. Zuerst ist Gott selbst gerecht, nicht als einer unter vielen Gerechten, sondern als der, welcher allein in sich alle Fülle der Gerechtigkeit trägt. Nur so zollt man Gott seine ganze Ehre, wenn man ihn allein gerecht und die ganze Menschheit ungerecht sein lässt. Zweitens teilt Gott seine Gerechtigkeit aus: er will seinen Reichtum nicht bei sich verschließen, sondern den Menschen zufließen lassen. So erscheint Gottes Gerechtigkeit in uns, wenn er uns durch den Glauben an Christus gerecht spricht. Denn Christus wäre uns umsonst zur Gerechtigkeit geschenkt, wenn wir ihn nicht im Glauben genießen wollten.
27 Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch der Werke Gesetz? Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz. 28 So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.
V. 27. Wo bleibt nun der Ruhm? Gründe zur Zerstörung des falschen Vertrauens auf die Werke waren im bisherigen genug angeführt: jetzt schickt sich der Apostel an, die selbstgefällige Eitelkeit zu schelten. Solche lebhaftere Tonart war nötig: in diesem Stücke reicht die nüchterne Lehrhaftigkeit nicht aus, der Heilige Geist muss unsern Hochmut mit stärkeren Blitzen treffen. Jeder Ruhm muss aber ohne Zweifel deshalb schwinden, weil wir keine Leistung aus unserm eigenen aufweisen können, die wert wäre, von Gott gebilligt und gut befunden zu werden. Es gibt weder ein ganzes noch ein halbes Verdienst, mit welchem wir die Versöhnung mit Gott verdienen könnten. Paulus redet nicht von einem mehr oder weniger, er lässt uns keinen einzigen Tropfen übrig. Der Glaube tilgt alles Verdienst der Werke, und man kann die Lehre vom Glauben nur rein halten, wenn man dem Menschen nichts lässt und alles der Barmherzigkeit Gottes zuschreibt: also dürfen die Werke gar nichts zu unserer Rechtfertigung beitragen.
Der Werke Gesetz. Wie kommt der Apostel hier plötzlich zu der Aussage, dass das Gesetz uns keineswegs allen Ruhm nehme, während er doch soeben noch gerade aus dem Gesetz uns unsere Verdammnis nachwies? Wie sollten wir denn noch auf der Bahn des Gesetzes Ruhm finden zu können glauben, wenn uns doch das Todesurteil gesprochen ward? Nimmt uns denn nicht allerdings das Gesetz jeden Ruhm und überhäuft uns mit Vorwürfen? Indessen wollten die früheren Ausführungen zeigen, dass das Urteil des Gesetzes unsere Sünde enthülle, weil wir alle vom Gehorsam abgewichen. Hier aber liegt der Nachdruck auf der Aussage, dass, wenn es überhaupt eine Gerechtigkeit infolge von Gesetzeswerken gäbe, unser Ruhm nicht dahinfallen würde: nur weil wir alles dem Glauben zuschreiben, behalten wir nichts für uns übrig; denn der Glaube empfängt alles von Gott und bringt ihm nichts außer dem demütigen Bekenntnis der eigenen Leerheit. Dabei will der scharfe Gegensatz von Glaube und Werken wohl beachtet sein: es ist also an Werke schlechthin zu denken, nicht bloß an Zeremonien oder äußerlichen Schein des Verdienstes, sondern an alles, was das Verdienst einer eigenen Tat begründen könnte. Des Glaubens Gesetz. Das ist eine uneigentliche Redeweise. Die Bezeichnung als Gesetz soll die Art des Glaubens durchaus nicht undeutlich machen. Der Apostel will nur zu verstehen geben, dass die eigene Natur und Ordnung des Glaubens jeden Ruhm der Werke niederschlage: mag das Gesetz die Gerechtigkeit der Werke preisen -, der Glaube hat sein eigenes Gesetz, und dieses lässt nicht zu, in irgendwelchen Werken irgendwelche Gerechtigkeit zu finden.
V. 28. So halten wir nun dafür. Damit wird der Hauptsatz des Briefes als eine unzweifelhafte Schlussfolgerung ausgesprochen und des Weiteren erläutert. Denn die Rechtfertigung aus Glauben tritt in helles Licht, sobald man den Werken ausdrücklich jedes Verdienst nimmt. Deshalb legen unsere heutigen Gegner ein besonderes Gewicht darauf, in den Glauben noch irgendwie ein Verdienst der Werke einzumischen. Sie sagen, dass der Mensch allerdings durch den Glauben gerechtfertigt werde, aber nicht allein: sondern die Gerechtigkeit, die dem Worte nach dem Glauben gehören soll, käme tatsächlich doch erst durch die Liebe zustande. Paulus dagegen verkündigt hier die freie Gnade in einem Sinne, der jede Bedeutung der Werke ausschließt. Des Gesetzes Werke. Gemeint ist, wie schon zu 3, 20 dargelegt wurde, nicht bloß Zeremonien oder ein Buchstabendienst ohne Christi Geist, sondern alle Werke, welche ein Verdienst, wie das Gesetz es verspricht, beanspruchen. Lesen wir nun bei Jakobus (2, 17.21), dass der Mensch nicht durch den Glauben allein, sondern durch die Werke gerechtfertigt werde, so steht dies nur in scheinbarem Widerspruch zur Lehre des Paulus. Man muss an beiden Orten auf den Zusammenhang und die Absicht der Rede achten. Hier handelt es sich um die Frage, wie der Mensch vor Gott gerecht werden könne. Jakobus dagegen stellt die ganz andere Frage, wie der Mensch seine Gerechtigkeit beweisen solle. Er kämpft wider die Heuchler, die mit einem leeren Glauben prunken. Handeln nun beide von ganz verschiedenen Dingen, so versteht sich von selbst, dass die Worte „Gerechtigkeit“ und „Glaube“, welche jeder in seiner besonderen Weise gebraucht, gar nicht miteinander in Beziehung gesetzt werden dürfen. Jakobus will dies zeigt bei ihm der Zusammenhang nur behaupten, dass ein heuchlerischer und toter Glaube nicht rechtfertige, und dass man keinen für gerecht halten könne, der es nicht mit Werken beweist.
29 Oder ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auch der Heiden Gott? Ja freilich, auch der Heiden Gott. 30 Sintemal es ist ein einiger Gott, der da gerecht macht die Beschnittenen aus dem Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben.
V. 29. Ist Gott allein der Juden Gott? Der zweite Hauptsatz des Briefes lautet: die Gerechtigkeit ist den Heiden nicht weniger als den Juden zugedacht. Dies musste besonders betont werden, wenn Christi Königreich die ganze Erde erobern sollte. Der Sinn der Frage ist nicht, ob Gott nicht ebenso der Schöpfer der Heiden wie der Juden sei? Dies stand ja über jeden Zweifel erhaben fest; sondern: ob er nicht in gleicher Weise ihr Heiland sein wolle? Will Gott wirklich alle Völker der Erde seine Barmherzigkeit erfahren lassen, so muss ihnen auch allen in gleicher Weise die Gerechtigkeit gehören, ohne die man nicht selig werden kann. Wenn es nun heißt, Gott sei auch der Heiden Gott, so liegt darin, wie so oft in der Schrift, auch umgekehrt die Beziehung der Heiden zu ihm beschlossen: „Ich will euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein.“ Die besondere Auswahl Israels konnte ja die ursprüngliche Ordnung der Natur nicht aufheben, nach welcher alle Menschen Gottes Ebenbild an sich tragen und in dieser Welt der ewigen Seligkeit entgegengeführt werden sollen.
V. 30. Die Beschnittenen aus dem Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben. Das Wortspiel zeigt nur, dass im Handel der Rechtfertigung kein wirklicher Unterschied obwaltet. So verspottet der Apostel die Juden, welche den Abstand zwischen sich und den Heiden noch offen halten wollten. Kann man Gnade nur durch den Glauben ergreifen, und ist der Glaube überall sich selbst gleich, so ist es lächerlich, nach einem Unterschied zu fragen. Wollte man aber, so sagt der Apostel ironisch, solchen Unterschied zwischen Heiden und Juden noch gelten lassen, so wäre es der: die einen werden aus dem Glauben, die andern durch den Glauben gerecht. Außerdem ließe sich höchstens etwa sagen: die Juden werden aus Glauben gerecht, weil sie bereits als Erben der Gnade geboren werden und das Recht der Kindschaft schon von ihren Vätern her empfangen -, die Heiden aber durch den Glauben, weil für sie der Eintritt in den Bund etwas Neues ist.
31 Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf.
V. 31. Aus dem hier aufgestellten Gegensatze zwischen Glaube und Gesetz schöpft die fleischliche Vernunft leicht den Verdacht, als handle es sich wirklich um einen Kampf des einen gegen das andere. Diese falsche Ansicht lag aber vollends nahe, wenn eine oberflächliche Kenntnis des Gesetzes d. h. des Alten Testaments nur an die Werke, nicht aber an die Verheißungen dachte. So hatte ja nicht bloß Paulus, sondern der Herr selbst den Vorwurf hören müssen, dass seine ganze Predigt auf die Abschaffung des Gesetzes ausginge. Daher das Wort des Herrn (Matth. 5, 17): „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Der Verdacht entstand nun sowohl im Blick auf das Moralgesetz, wie auf die Zeremonialgebote. Macht das Evangelium allen mosaischen Gebräuchen ein Ende, so scheint es ja den Dienst des Mose zu zerstören. Vernichtet es alle Gerechtigkeit der Werke, so scheint es den vielfachen Zeugnissen des Gesetzes zu widersprechen, welche besagen, dass uns Gott im Gesetz den Weg der Gerechtigkeit und des Heils vorgeschrieben. Deshalb müssen wir auch die gegenwärtige Aussage des Paulus weder allein von den Zeremonien, noch allein von den Moralgeboten verstehen, sondern von dem ganzen ungeteilten Gesetze. Das Moralgesetz gewinnt durch den Glauben an Christus Kraft und Bestand: denn es ward gegeben, um den Menschen seiner Sünde zu überführen und zu Christus zu leiten. Ohne Christus kann es nicht gehalten werden und predigt umsonst, was man tun soll; es kann nur die böse Lust steigern und damit die Verdammnis bringen. Hat man aber Christus gefunden, so gewinnt man erst in ihm die Gerechtigkeit, welche das Gesetz vorschreibt: sie wird uns durch den Glauben zugerechnet. Danach erwächst auch die Heiligung, welche in unsern Herzen einen zwar unvollkommenen, aber doch dem Ziel entgegenreifenden Gehorsam gegen das Gesetz Gestalt gewinnen lässt. Ebenso steht es mit den Zeremonien: sie hören auf und schwinden bei Christi Ankunft, und doch finden sie durch ihn erst ihre wahre Bestätigung. An sich betrachtet sind sie ja nichtige und schattenhafte Bilder: einen tieferen Hintergrund findet man in ihnen erst, wenn man ihren Zweck und ihr Ziel versteht. Ihr gewissestes Siegel empfangen sie durch die Lehre, dass ihre Wahrheit in Christus erschienen ist. Wir werden also das Evangelium so zu predigen haben, dass dadurch zugleich das Gesetz Festigkeit gewinnt, aber keine andere als die auf den Glauben an Christus sich stützt.
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Der Römerbrief - Kapitel 4
Johannes Calvin
1 Was sagen wir denn von unserm Vater Abraham, dass er gefunden habe nach dem Fleisch? 2 Das sagen wir: Ist Abraham durch die Werke gerecht, so hat er wohl Ruhm, aber nicht vor Gott. 3 Was sagt denn die Schrift? „Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“
V. 1. Was sagen wir denn usw. Der Beweis wird nun durch ein in Person und Sache gleicher weise zutreffendes Beispiel gestützt: denn Abraham ist der Vater der Gläubigen, in dessen Fußstapfen wir alle treten müssen; und die Gerechtigkeit zu erlangen gibt es nur einen Weg, nicht mehrere. Unter gewöhnlichen Umständen müsste man die Berufung auf ein einzelnes Beispiel vielleicht für unzureichend erklären. Weil aber die Person Abrahams als ein Spiegel und Musterbild eben derjenigen Gerechtigkeit dastand, welche der ganzen Gemeinde gehören sollte, so bezieht Paulus, was von ihm geschrieben steht, mit Recht auf den ganzen Leib der Kirche. Zugleich trifft er auch die Juden, die ja mit Vorliebe sich der Abrahamskindschaft rühmten, an ihrem empfindlichsten Punkte. Sie konnten doch unmöglich heiliger sein wollen als der Erzvater. Konnte aber dieser nur aus Gnaden Rechtfertigung finden, so mussten ja seine Nachkommen, deren Anmaßung sich eine eigene Gerechtigkeit aus dem Gesetze aufbaute, vor Scham in die Erde sinken. Nach dem Fleisch. Wegen der Wortstellung des griechischen Textes verstehen viele Ausleger den Satz so: „Was sagen wir denn von unserm Vater Abraham, dass er gefunden habe nach dem Fleisch?“ d. h. in natürlicher Weise, aus eigener Kraft. Ich ziehe die Verbindung vor: „Abraham, unser Vater nach dem Fleisch.“ Denn ein solches nach dem eigenen Geschlecht beigebrachtes Beispiel musste namentlich auf Juden einen tiefen Eindruck machen. Sollten sie von der Bahn ihres viel gerühmten Stammvaters ablenken?
V. 2. Ist Abraham durch die Werke gerecht, so hat er wohl Ruhm. Dieser Satz ist das erste Glied einer nicht ausdrücklich zu Ende geführten Schlusskette. Das zweite Glied lautet: aber nicht vor Gott, d. h. wir finden aber nicht, dass Abraham sich irgendeines Verdienstes Gott gegenüber gerühmt habe. Die von Paulus nicht ausgesprochene Folgerung lautet: Also kann seine Gerechtigkeit nicht durch Werke zustande gekommen sein. Der zweite Satz der Schlusskette, dass Abraham Gott gegenüber keinen Ruhm haben wollte, wird nun durch ein Bibelwort bekräftigt:
V. 3. Was sagt denn die Schrift usw. Denn wenn Abraham Rechtfertigung erfährt, weil er im Glauben Gottes Gnade ergreift, so kann er selbst ja keinen Ruhm haben: denn er hat nichts hinzu gebracht als das Bekenntnis seines Elendes, welches nach Barmherzigkeit schreit. Dabei erscheint ohne weiteres vorausgesetzt, dass die Gerechtigkeit dem Sünder Schutz und Zuflucht bietet, der an seinen Werken verzagt. Wenn es nämlich eine Gerechtigkeit des Gesetzes oder der Werke gäbe, so würde dieselbe im Menschen selbst ihren Sitz haben; der Glaube aber entlehnt von außen, was ihm fehlt: daher die Gerechtigkeit des Glaubens ganz richtig eine zugerechnete Gerechtigkeit genannt wird. Das zitierte Bibelwort stammt aus 1. Mose 15, 6. Der dort beschriebene Glaube bezieht sich nicht auf irgendeine zufällige Zusage Gottes, sondern auf den gesamten Bund des Heils und die Gnade der Kindschaft. Diese hat Abraham im Glauben ergriffen. Freilich lautet ja Gottes Zusage auf eine künftige zahlreiche Nachkommenschaft: aber eben diese Verheißung gründete sich auf die freie Annahme zur Gotteskindschaft. Denn niemals wird Heil ohne Gottes Gnade, noch Gottes Gnade ohne Heil verheißen. Und wiederum: Gottes Gnade und das ewige Heil empfangen wir nur, indem uns die Gerechtigkeit geschenkt wird. Will man recht begreifen, dass Paulus mit vollem Rechte das alttestamentliche Wort für seinen Gedanken anführt, so muss man die Tatsache ins Auge fassen, dass die Verheißung an Abraham ein Zeugnis der göttlichen Gnade ist. Gott will den Abraham der Gotteskindschaft und seiner väterlichen Güte gegen ihn gewiss machen: dazu gehört aber auch irgendwie das ewige Heil durch Christus. Glaubt also Abraham, so glaubt er nur, dass die ihm angebotene Gottesgnade eine Wirklichkeit ist. Und wenn ihm dies zur Gerechtigkeit gerechnet wird, so sieht man ja: er ist auf keine andere Weise gerecht, als weil sein Vertrauen auf Gottes Güte kühnlich alles von Gott erwartet. In und mit der Verheißung ergreift also Abraham die ihm angebotene Gottesgnade, und er konnte spüren, dass er eben dadurch die Gerechtigkeit empfing. Soll die Gerechtigkeit zustande kommen, so müssen in dieser Weise Verheißung und Glaube aufeinander treffen. Dabei wollen wir ausdrücklich bemerken, was der Ausdruck unserer Stelle an die Hand gibt: „Gerechtfertigt werden“ heißt, die Gerechtigkeit zugerechnet bekommen. Also ist hier gar nicht die Rede davon, wie die Menschen in sich sind, sondern wie Gott sie ansieht. Natürlich will Paulus nicht sagen, dass diese freie Gnade Gottes ohne ein gutes Gewissen und ein reines Leben sein könne: aber zunächst muss bei der Frage, warum Gott uns liebt und für gerecht schätzt, der Christus in den Mittelpunkt rücken, dessen Gerechtigkeit uns deckt.
4 Dem aber, der mit Werken umgeht, wird der Lohn nicht aus Gnade zugerechnet, sondern aus Pflicht. 5 Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.
V. 4. Der mit Werken umgeht. Gemeint ist nicht jeder, der gute Werke tut: denn hierin sollen sich freilich alle Kinder Gottes fleißig üben. Gemeint sind vielmehr Leute, die mit ihren Werken etwas verdienen wollen. Der nicht mit Werken umgeht, ist umgekehrt ein Mensch, der in seinen Werken keine verdienstlichen Leistungen sieht. Paulus will die Gläubigen nicht träge machen, er will ihnen nur die Lohnsucht austreiben, die bei Gott gewissermaßen Schuldforderungen einziehen möchte. Dabei will ich wiederholen, dass hier nicht von der richtigen Lebensführung gehandelt wird, sondern von dem Grunde der Heilszuversicht. Die Weise des Werkdienstes, welcher alles verrechnen will, tritt in scharfen Gegensatz zur Weise des Glaubens. Der Glaube wird also nicht deshalb zur Gerechtigkeit gerechnet, weil er etwa irgendein Verdienst von unserer Seite beibrächte, sondern weil er Gottes Gnade ergreift. Wenn uns Christi freie Gnade vermittelst des Glaubens rechtfertigt, so beugt uns dies nur tief danieder. Wir können ja nichts tun als glauben, dass Christus unser Opfer und Versöhner ist. Den gleichen Gegensatz finden wir auch Gal. 3, 11: „Dass durchs Gesetz niemand gerecht wird vor Gott, ist offenbar; denn `der Gerechte wird seines Glaubens leben´. Das Gesetz aber ist nicht des Glaubens; sondern `der Mensch, der es tut, wird dadurch leben.`“ Aus dem Umstand, dass das Gesetz den guten Werken Lohn verspricht, zieht Paulus den Schluss, dass die aus Gnaden geschenkte Gerechtigkeit des Glaubens mit jener Werkgerechtigkeit gar nichts zu schaffen habe: denn der Gedanke, dass der Glaube unter Mitberücksichtigung der Werke rechtfertige, widerstreitet dem Wesen der Glaubensgerechtigkeit. Diese Gegensätze tilgen alles Verdienst bis auf die Wurzel.
V. 5. Glaubt aber an den usw. Eine ausdrucksvolle Umschreibung, welche Wesen und Art des Glaubens und der Gerechtigkeit anschaulich macht. Hier wird vollends deutlich, dass der Glaube die Gerechtigkeit erwirbt, nicht insofern er eine verdienstliche Tugend ist, sondern insofern er Gottes Gnade empfängt. Paulus sagt ja nicht kurzweg, Gott schenke die Gerechtigkeit, sondern er lässt Gottes freie Gnade, die unserm Elend zu Hilfe kommt, von dem Hintergrunde unserer Ungerechtigkeit sich abheben. Alles in allem: keiner wird die Gerechtigkeit des Glaubens erlangen, der nicht in sich selbst gottlos ist. So redet der Apostel im Zusammenhange seines Gedankens, nach welchem der Glaube uns mit einer fremden, von Gott erbettelten Gerechtigkeit schmückt. Und wie schon früher (3, 24.28) heißt es auch hier: Gott rechtfertigt uns oder spricht uns gerecht -, wenn er Sündern umsonst verzeiht und Leute seiner Liebe würdigt, welchen er wohl zürnen konnte, kurz, wenn er unsere Ungerechtigkeit mit seinem Erbarmen deckt.
6 Nach welcher Weise auch David sagt, dass die Seligkeit sei allein des Menschen, welchem Gott zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke, da er spricht: 7 „Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind und welchen ihre Sünden bedeckt sind! 8 Selig ist der Mann, welchem Gott die Sünde nicht zurechnet!“
V. 6. Die Gerechtigkeit, ohne Zutun der Werke. Was wir schon öfter anmerkten (zu 2, 25; 3, 20), dass unter Gesetzeswerken viel mehr zu verstehen sei als bloß die Zeremonien, findet hier seine endgültige Bestätigung: denn statt „des Gesetzes Werke“ (3, 28) setzt Paulus jetzt „die Werke“. Weiter belehrt uns die Zusammenstellung: Gott rechtfertigt den Menschen (V. 6), indem er ihm die Sünden vergibt (V. 7) noch einmal darüber, dass im Sinne des Paulus Gerechtigkeit nichts anderes ist als Besitz der Sündenvergebung (vgl. zu 3, 21.24; 4, 5). Endlich erfahren wir, dass diese Vergebung aus freier Gnade, ohne Rücksicht auf die Werke geschenkt wird. Dies liegt ja schon im Worte „Vergebung“. Ein Gläubiger, der seine Zahlung empfangen hat, vergibt und erlässt seinem Schuldner nichts. Von freiem Erlass kann nur da die Rede sein, wo ohne die Unterlage einer entsprechenden Zahlung der Schuldschein zerrissen wird. Die Meinung also, dass man die Vergebung der Sünden mit Bußwerken erkaufen müsse, widerstreitet der Lehre des Paulus gänzlich. Auch die Ansicht der katholischen Kirchenlehrer von einer halben Vergebung erscheint töricht: danach soll nämlich wohl die Schuld, aber nicht die Strafe der Sünde erlassen sein. Aber wie sollte Gott dazu kommen, vergebene Sünden noch zu strafen? Des weiteren lässt unsere Stelle den Schluss zu, dass die Gerechtigkeit des Glaubens das ganze Leben umspannt. Denn wenn David alle Gewissensqualen mit dem Triumphruf des 32. Psalms abschüttelt, so redet er sicher aus eigenster Erfahrung. Dabei hatte er dem Herrn schon jahrelang gedient. Und noch immer findet die Erfahrung seines Elends keinen andern Weg zu Seligkeit und Glück, als dass Gott uns durch Vergebung der Sünden in seine Gnade aufnimmt. Damit fällt die törichte Ansicht, dass wir die Gerechtigkeit zwar anfangs weise ohne unser Verdienst durch den Glauben erlangen, dass wir aber dann ihren Besitz durch gute Werke festhalten müssen. Wenn es aber zuweilen heißt, dass gute Taten zur Gerechtigkeit gerechnet würden (z. B. Ps. 106, 31), so bedarf auch darum die Lehre des Paulus keine Einschränkung. Wer an einzelnen Werken solche Erfahrung macht, muss zuvor durch Gottes Gnade gerechtfertigt worden sein. Denn eine vereinzelte Tat reicht dafür nicht aus. Vielmehr werden alle unsere Werke wegen ihrer Ungerechtigkeit verdammt sein, wenn die Rechtfertigung aus Glauben allein sie nicht deckt. Wer aber mit Christi Gerechtigkeit bekleidet ward, erfährt Gottes Gnade nicht nur für die seine Person, sondern auch für seine Werke. Ganz ebenso steht es mit den Aussagen der Schrift über eine Empfindung von Seligkeit infolge der Werke (z. B. Ps. 1, 1 ff., 119, 1 ff.): Wohl denen, die den Herrn fürchten, die in seinen Wegen gehen, die Tag und Nacht an sein Gesetz denken usw. Denn da niemand dies mit der Vollkommenheit tut, welche Gottes Gebot erfordert, so sind dergleichen Seligpreisungen solange gegenstandslos, bis die Herzen durch Vergebung der Sünden gereinigt werden und damit die rechte Seligkeit erfahren, welche erst den Weg für die weitere Seligkeit bereitet, die Gott seinen Knechten verheißt, wenn sie um sein Gesetz und gute Werke sich mühen. Es ist dies ein Verhältnis wie zwischen Baum und Frucht.
9 Nun diese Seligkeit, geht sie über die Beschnittenen oder auch über die Unbeschnittenen? Wir müssen ja sagen, dass Abraham sei sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. 10 Wie ist er ihm denn zugerechnet? Als er beschnitten oder als er unbeschnitten war? Nicht, als er beschnitten, sondern als er unbeschnitten war.
Immer wieder schärft Paulus ein, dass die Vergebung der Sünden vor allen Werken steht, als deren grundlegendes Stück hier die Beschneidung genannt wird. Denn sie war für das jüdische Volk das Eingangstor nicht nur zum Dienste Gottes überhaupt, sondern zu der gesetzlichen Gerechtigkeit insbesondere. Ihrer rühmten sich ja die Juden nicht bloß als eines Zeichens und Siegels der göttlichen Gnade, sondern als eines gewissermaßen verdienstlichen Gesetzeswerkes. Um ihrer willen glaubten sie besser und Gott angenehmer zu sein als andere. Es handelt sich also nicht gerade um diesen einen Brauch allein: derselbe will nur als das hervorragendste Stück und Beispiel der gesetzlichen Gerechtigkeit verstanden sein. Der Beweisgang des Apostels ist nun der folgende: Abraham das kann als unbestritten vorausgesetzt werden empfing die Gerechtigkeit durch Vergebung der Sünden, also noch vor seiner Beschneidung. Daraus folgt, dass kein verdienstliches Werk voranging, welches die Vergebung etwa hätte erwerben können. Die nachfolgende Beschneidung konnte aber als Ursache der Gerechtigkeit nicht in Betracht kommen, weil die Ursache nicht der Wirkung nachfolgt, sondern stets vorangehen muss.
11 Das Zeichen aber der Beschneidung empfing er zum Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, welchen er hatte, als er noch nicht beschnitten war, auf dass er würde ein Vater aller, die da glauben und nicht beschnitten sind, dass ihnen solches auch gerechnet werde zur Gerechtigkeit; 12 und würde auch ein Vater der Beschneidung, derer, die nicht allein beschnitten sind, sondern auch wandeln in den Fußstapfen des Glaubens, welcher war in unserm Vater Abraham, als er noch nicht beschnitten war.
V. 11. Das Zeichen aber der Beschneidung usw. Der durch die bisherige Darstellung nahe gelegte Gedanke, dass also die Beschneidung völlig unwirksam und überflüssig sei, da sie doch keine Gerechtigkeit schafft -, wird nun von vornherein abgeschnitten. Der Beschneidung eignet nämlich ein hoher Wert, weil sie die Gerechtigkeit des Glaubens versiegelt und versichert. Gerade aus diesem ihrem Zweck ergibt sich freilich von neuem, dass sie nicht die Ursache der Gerechtigkeit sein kann. Sie bekräftigt die Gerechtigkeit, die bereits in der Vorhaut vorhanden war, und tut weder etwas hinzu noch hinweg. Damit empfangen wir einen trefflichen Bescheid über den Wert der Sakramente überhaupt: Sakramente sind (nach dieser Aussage des Apostels) Siegel, welche Gottes Gnadenzusagen unserm Herzen, dass ich so sage, einprägen und die Gewissheit der Gnade bekräftigen. Helfen sie auch an sich nichts, so wird doch der Gott, der sie als Mittel seiner Gnade brauchen wollte, ihnen durch verborgene Gnadenwirkung seines Geistes bei den Erwählten Frucht schaffen. Für die Verworfenen sind sie freilich nur tote und unnütze Bilder: und doch bleibt ihnen ihre Kraft und Natur; denn unser Unglaube kann uns zwar um ihre Wirkung bringen, kann aber nicht Gottes Wahrheit umstürzen und vernichten. Wir halten also fest, die Sakramente sind Zeugnisse, mit denen Gott seine Gnade unsern Herzen versiegelt. Über das Sakrament der Beschneidung im Besonderen ist zu sagen, dass dasselbe eine zwiefache Gnadengabe zur Darstellung bringt. Gott hatte dem Abraham den gesegneten Samen verheißen, welcher der ganzen Welt das Heil bringen sollte. Davon hing ja die Erfüllung der Zusage ab: „Ich will dein Gott sein.“ Jenes Zeichen schloss also die Versöhnung mit Gott aus freier Gnade in sich, und es deutete durch seine Form darauf hin, dass die Gläubigen auf den verheißenen Samen ihre Erwartung richten sollten. Seinerseits aber forderte Gott dies ist das zweite Reinheit und Heiligkeit des Lebens, und das Zeichen deutete den Weg an, welcher dazu führt: am Menschen muss beschnitten werden, was vom Fleisch geboren ist, denn seine Natur ist durch und durch sündig. Das äußere Zeichen erinnerte also den Abraham, dass es gilt, das Verderben des Fleisches geistlich zu beschneiden (vgl. auch 5. Mose 10, 16). Dass aber solches nicht der Menschen, sondern Gottes Werk ist, darauf deutet der Umstand, dass das Gebot der Beschneidung auf junge Kinder zielt, die es doch um ihres Alters willen nicht selbst befolgen konnten. So erscheint auch 5. Mose 30, 6 die geistliche Beschneidung als ein Werk der Kraft Gottes: „Der Herr wird dein Herz beschneiden.“ Und die Propheten sprechen dies nachmals noch viel deutlicher aus. Die Beschneidung bestand also, wie unsere Taufe, aus zwei Stücken: sie bezeugte Vergebung der Sünden und zugleich Erneuerung des Lebens. Wenn übrigens bei Abraham die Beschneidung erst nach der Rechtfertigung vollzogen wurde, so findet ein Ähnliches durchaus nicht immer bei den Sakramenten statt, wie man bei Isaak und seinen Nachkommen sehen kann. Gott wollte aber gleich im Anfang ein Beispiel geben, welches zeigt, dass das Heil nicht an äußeren Dingen hängt.
Auf dass er würde ein Vater. So bestätigt Abrahams Beschneidung unsern Glauben an die freie Gnade. Denn sie ist eine Bekräftigung der Glaubensgerechtigkeit, welche auch uns geschenkt wird, wenn wir nur glauben. So lenkt Paulus mit eigenartiger Kunst den Einwurf der Gegner auf sich selbst zurück. Kann man, was die eigentliche Wahrheit und Kraft der Beschneidung ausmacht, schon in der Vorhaut haben, so schwindet ja alles Recht für die Juden, sich über die Heiden so erhaben zu dünken. Eine Frage allerdings könnte noch aufgeworfen werden, welche der Apostel unberührt lässt: müssen nicht auch wir nach dem Beispiel Abrahams die Beschneidung als ein Siegel der Gerechtigkeit empfangen? Aber es versteht sich ja von selbst: wenn die Beschneidung nicht die Grundlage, sondern lediglich ein Siegel der Gerechtigkeit ist, so haben wir sie nicht mehr nötig, da wir an ihrer Statt ein anderes von Gott eingesetztes Zeichen besitzen. Wo die Taufe in Übung steht, empfangen auch die Heiden ohne Beschneidung das Siegel der Glaubensgerechtigkeit und treten damit in Abrahams Fußstapfen.
V. 12. Derer, die nicht allein beschnitten sind usw. D. h. welche nicht bloß den Namen der Beschneidung, sondern auch das Wesen derselben haben. Denn die fleischlichen Nachkommen Abrahams, an welche Paulus hier denkt, waren nur zu oft mit der äußeren Zeremonie zufrieden und rühmten sich derselben in falscher Sicherheit. Die Hauptsache, die Nachfolge des Glaubens, durch welchen allein Abraham selig wurde, ließen sie dahinten. Man beachte, wie sorgfältig hier der Apostel zwischen Glaube und Sakrament unterscheidet: nicht bloß will er die Genügsamkeit zerstören, welche dem Sakrament auch ohne Glauben Rechtfertigungskraft zuschreibt -, er will auch einprägen, dass der Glaube völlig für alles ausreicht. Denn wenn Paulus ausspricht, dass auch die Juden, die von der Beschneidung sind, gerechtfertigt werden, so fügt er ausdrücklich hinzu: natürlich nur, wenn sie in Abrahams Nachfolge am Glauben allein festhalten. Dabei ist ausdrücklich von dem Glauben die Rede, welchen Abraham hegte, als er noch nicht beschnitten war. Es muss also doch der Glaube allein gelten und keine Stütze brauchen. Die Gerechtigkeit ruht nicht halb auf dem Glauben und halb auf dem Sakrament. Damit fällt auch der Unterschied, welchen die katholischen Kirchenlehrer zwischen den Sakramenten des Neuen und des Alten Bundes behaupten: die ersteren sollen Rechtfertigungskraft besitzen, die letzteren nicht. Denn wenn der Beweis des Paulus überhaupt recht hat, dass die Gerechtigkeit nicht aus der Beschneidung kommen könne, weil sie dem Abraham durch den Glauben zuteil ward, so gilt der gleiche Grund auch für die Taufe: auch sie kann nicht die Rechtfertigung schenken, welche allein dem Glauben in Abrahams Nachfolge gehört.
13 Denn die Verheißung, dass er sollte sein der Welt Erbe, ist nicht geschehen Abraham oder seinem Samen durchs Gesetz, sondern durch die Gerechtigkeit des Glaubens.
V. 13. Der zuvor besprochene Gegensatz von Gesetz und Glaube empfängt jetzt noch schärferen Ausdruck: entlehnt der Glaube keine Gerechtigkeit aus dem Gesetz, so kann er lediglich auf Gottes Gnade schauen. Es handelt sich also auch nicht etwa um den Gegensatz eines geistlich und wahrhaft geheiligten Lebens gegen äußerlichen Zeremoniendienst, sondern die Gerechtigkeit des Glaubens ist das Gegenteil alles eigenen Wirkens. Abraham hat die Verheißung der Erbschaft nicht durch Gehorsam gegen das ins Herz geschriebene Sittengebot verdient -, denn von dem Gesetze des Buchstabens konnte ja vollends noch nicht die Rede sein -, sondern er hat sie und in ihr die Gerechtigkeit im Glauben ergriffen. Der wahre Friede des Gewissens ruht nicht auf Rechtsansprüchen, sondern auf freier Gnade. Ist es aber so, dann gilt das auf Gottes Güte allein begründete Heil den Heiden nicht minder als den Juden.
Dass er sollte sein der Welt Erbe. Warum werden wir, wo doch vom ewigen Heil die Rede ist, jetzt plötzlich auf die Erde zurückgeworfen? Indessen denkt Paulus bei diesem Ausdruck an die völlige, Leib und Geist umfassende Erlösung, welche Christus bringen wird. Die Hauptsache bleibt die Gabe des ewigen Lebens: aber auch der zerrüttete Zustand der ganzen Welt wird verwandelt werden. Auch Hebr. 1, 2 heißt Christus der Erbe aller Güter Gottes, weil der Stand der Kindschaft, in welchen wir durch seine Gnade treten, uns den Besitz des ganzen durch Adam verlorenen Erbes zurückgibt. Und da unter dem Bilde des gelobten Landes dem Abraham nicht bloß das ewige Leben, sondern voller und umfassender Segen Gottes verheißen ward, so kann der Apostel mit Recht sagen, dass er der Welt Erbe sein sollte. Davon genießen die Frommen einen Vorgeschmack in diesem Leben: selbst wenn sie zuweilen Mangel leiden, freuen sie sich der für sie geschaffenen Gottesgaben mit ruhigem Gewissen; gibt ihnen aber Gottes Gnade ein reichlicheres Teil, so nehmen sie dieser Erde Güter als Pfand und Angeld des ewigen Lebens hin. Keine Armut hindert sie, Himmel, Meer und Erde als ihr Eigentum zu betrachten. Mögen die Gottlosen die Reichtümer der Welt förmlich verschlingen -, wirklich zu eigen gehört ihnen nichts. Denn was sie unter dem Fluche Gottes zusammenraffen, ist nur ein Raub. Den Frommen aber bleibt selbst bei einem dürftigen Leben der Trost, dass sie kein unrechtes Gut verzehren; der himmlische Vater gibt ihnen täglich ihr richtiges Teil, bis sie endlich ihr volles Erbe schauen werden, da alle Kreaturen zu ihrer Herrlichkeit dienen müssen.
14 Denn wo die vom Gesetz Erben sind, so ist der Glaube nichts, und die Verheißung ist abgetan. 15 Sintemal das Gesetz nur Zorn anrichtet; denn wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung.
V. 14. Denn wo die vom Gesetz usw. Wenn unsere Gegner nur auf diesen einen Grund hören wollten, so müssten sie bald nachgeben. Der Apostel setzt als über jeden Zweifel erhaben voraus, dass Gottes Verheißungen nur ihre Kraft beweisen können, wenn wir sie mit gewisser Zuversicht des Herzens ergreifen. Was aber würde geschehen, wenn man die Seligkeit auf den Gehorsam gegen das Gesetz gründete? Die Gewissen würden alle Gewissheit verlieren und würden unter der Qual fortwährender Unruhe endlich in völlige Verzweiflung versinken. So würde die Verheißung samt ihrer Frucht dahinfallen: denn sie wäre an eine unmögliche Bedingung geknüpft. Soll sich der Glaube auf Werke stützen, so ist es aus mit ihm: denn nur auf Gottes Erbarmen kann die Seele ruhen. Daraus lernen wir zugleich, was Glaube ist; er ist mehr als die kalte Überzeugung, dass Gott existiert und sein Wort Wahrheit ist: er ist eine gewisse Zuversicht zu Gottes Erbarmen, aus dem Evangelium geschöpft, welche den Frieden eines guten Gewissens zu Gott und Ruhe der Seele schafft. In Summa: hängt die Seligkeit an der Erfüllung des Gesetzes, so kann das Gemüt niemals darüber stille sein, dass wir selig werden: alle Verheißungen Gottes werden gegenstandslos. So verloren und verkauft sind wir, wenn man uns an Werke bindet. Und wir brauchen doch Gewissheit des Heils.
V. 15. Sintemal das Gesetz nur Zorn anrichtet. Der Satz von der Gerechtigkeit aus Glauben empfängt nun einen Beweis durch die gegenteilige Wirkung des Gesetzes. Denn wenn das Gesetz nur Zorn und Strafe herbeiführt, kann es nicht Gnade bringen. Guten und sündlosen Menschen würde freilich das Gesetz den Weg zum Leben eröffnen: sündigen und schwachen aber zeigt es nur, was sie nicht leisten können, gibt auch keine Kraft, es zu tun, sondern stellt sie als schuldig vor Gottes Richterstuhl. Denn nach der verderbten Art unserer Natur deckt ja ein Unterricht über das, was recht und gut ist, unsere Verkehrtheit und namentlich unsere Widerspenstigkeit nur offensichtlicher auf. So muss Gottes Gericht umso schwerer ausfallen. Unter „Zorn“ verstehen wir nämlich hier, wie an vielen andern Stellen, Gottes Gericht. Zwar denken manche Ausleger an den Zorn des Sünders, welchen die Predigt des Gesetzes erregt: man hasst den Gesetzgeber und flucht ihm, von welchem man hört, dass er unserer Begierde Feind ist. So richtig und fein dieser Gedanke ist, so wenig steht er in unserm Texte. Paulus will nur sagen: das Gesetz kann uns allen nichts als Verdammnis bringen. Dies geht sowohl aus dem Wortlaut, wie aus der Fortsetzung des Gedankens hervor: wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung. Nachdem das Gesetz uns lehrt, was Gottes Gerechtigkeit fordert, wiegt unsere Sünde gegen Gott nur umso schwerer, und wir verlieren jede Entschuldigung. Denn mit Recht greift eine schwerere Strafe Platz, wo man den erkannten Willen Gottes mutwillig verachtet, als wo nur die Unwissenheit sündigt. Unter „Übertretung“ versteht der Apostel dabei nicht jeden Verstoß gegen die Gerechtigkeit, wie er freilich immer und überall zu finden ist, sondern einen freventlichen Ungehorsam, welcher wohl vernommen hat, was Gott gefällt oder missfällt, und dennoch die im Worte Gottes gezogenen Schranken mit Wissen und Willen durchbricht.
16 Derhalben muss die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen, auf dass sie sei aus Gnaden und die Verheißung festbleibe allem Samen, nicht dem allein, der unter dem Gesetz ist, sondern auch dem, der des Glaubens Abrahams ist, welcher ist unser aller Vater 17 (wie geschrieben steht: „Ich habe dich gesetzt zum Vater vieler Völker“) vor Gott, dem er geglaubt hat, der da lebendig macht die Toten und ruft dem, was nicht ist, dass es sei.
V. 16. Derhalben … durch den Glauben. Hier liegt der Abschluss des ganzen Beweises vor, der sich kurz so zusammenfassen lässt: sollte das Heilserbe durch Werke zu uns kommen, so müsste der Glaube daran zusammenstürzen und die Verheißung davon ein Ende haben. Und doch muss Verheißung und Glaube gewiss sein. Also kommt es durch den Glauben zustande, dass die auf Gottes Güte allein gegründete feste Verheißung ihre gewisse Frucht bringt. Siehe, wie der Apostel Glaube und unwandelbare, gewisse Zuversicht untrennbar aneinander knüpft: Zweifel und Ungewissheit ist Unglaube, welcher den Glauben und die Verheißung miteinander umstürzt. Eine „moralische Wahrscheinlichkeit“ begründet noch keinen Glauben.
Auf dass sie sei aus Gnaden. Hier spricht es der Apostel zum ersten Male mit voller Deutlichkeit aus, dass dem Glauben kein anderer Gegenstand vorschwebt, als allein Gottes Gnade. Würde er seinen Blick irgendwie auf die Werke richten, so würde Paulus nicht sagen dürfen, dass er seinen Besitz „aus Gnaden“, umsonst von Gott empfängt. Solange also der Mensch sein Vertrauen auf die Werke setzt, muss er notwendig ungewiss bleiben; denn er beraubt sich ja selbst der Frucht der Verheißungen. Weiter wird an unserer Stelle deutlich, dass unter Gnade hier nicht das Geschenk der Erneuerung verstanden wird, wie manche Ausleger wollen (vgl. zu 3, 21), sondern Gottes Gunst oder freundliche Gesinnung: denn da die Erneuerung niemals vollkommen ist, so reicht sie nicht aus, eine volle Heilsgewissheit zu begründen und uns die Erfüllung der göttlichen Verheißungen zu sichern.
Nicht dem allein, der unter dem Gesetz ist. „Unter dem Gesetze“ sind nach sonstigem Sprachgebrauch die Fanatiker des Gesetzes, welche dessen Joch besonders schwer machen und darauf ein hochmütiges Selbstvertrauen gründen. Hier aber ist einfach das jüdische Volk gemeint, welchem das Gesetz Gottes anvertraut war. Paulus spricht aber nicht von „Knechten des Gesetzes“, deren Werkeifer etwa Christus den Rücken kehren will, sondern er denkt an Juden, welche, im Gesetz erzogen, sich dann Christus angeschlossen haben. Um ganz deutlich zu sein, wollen wir den Sinn umschreiben: nicht den Juden allein, welche das Gesetz haben, sondern allen Menschen, welche in die Fußstapfen des Glaubens Abrahams treten, auch wenn sie vordem das Gesetz nicht besaßen. Welcher ist unser aller Vater. „Welcher“ will zu verstehen geben: weil er ja usw. Dieselbe Verheißung, welche dem Abraham und seinem Samen das Erbe zusprach, erklärte ja auch die Heiden zu seinen Nachkommen und also Mitgenossen der Gnade.
V. 17. Darum heißt Abraham der Vater nicht bloß eines Volkes, sondern vieler Völker. Dieses Wort deutet auf die künftige Ausbreitung der zuerst auf Israel beschränkten Gnade über die ganze Welt. Der Segen musste zu denen weiter getragen werden, welche Abrahams Nachkommen werden sollten. Wenn es aber heißt: „Ich habe dich gesetzt“ -, so will diese Vergangenheitsform nach einem geläufigen Sprachgebrauch der Schrift ausdrücken, dass Gottes Rat die Verheißung so gewiss erfüllen werde, als wäre es schon geschehen. Sprach aller Augenschein dagegen: Abraham war doch zum Vater vieler Völker gesetzt. Den Spruch aus 1. Mose 17, 5 schließt am besten in Klammern ein; dann sieht man, dass zusammengehören soll: unser aller Vater vor Gott. Die Art der Verwandtschaft bedurfte der Erläuterung. Rühmten sich die Juden allzu hoch der fleischlichen Abstammung, so spricht Paulus demgegenüber von einem Vater „vor Gott“ d. h. einem geistlichen Vater. Denn diese Würde gebührt dem Abraham nicht nach dem Fleisch, sondern nach Gottes Verheißung.
Dem er geglaubt hat, der da lebendig macht die Toten. Diese Umschreibung enthüllt den innersten Kern des Glaubens Abrahams und zeigt zugleich, wie in seiner Nachfolge der Glaube auch zu den Heiden gelangen konnte. Denn zur Erfüllung der Zusage, welche Abraham aus Gottes Mund vernahm, musste wohl ein Weg der Wunder führen, da irgendeine greifbare Anknüpfung dafür nicht vorlag. Samen pflegt man zu erwarten, wo Kraft und Lebensfrische vorhanden ist: Abraham aber war ein abgestorbener Greis. Also musste er seine Gedanken aufwärts auf jene Kraft Gottes richten, welche die Toten lebendig macht. Nun erscheint es nicht mehr verwunderlich, wenn Heiden, trockene und erstorbene Zweige, in Abrahams Gemeinschaft eingepfropft werden. Wer da sagen wollte, ihr totes Wesen mache sie unfähig für die Gnade, der würde dem Abraham eine Schmach antun, dessen Glaube durch den Gedanken erstarkte, dass kein Tod Gott hindert, zum Leben zu rufen: denn seine Macht überwindet den Tod. Hier haben wir überhaupt für unsere Berufung ein Vorbild und Beispiel, welches uns unsere Geburt vor Augen führt, nicht eine Geburt für dieses Leben, sondern für die Hoffnung ewigen Heils: wenn Gott uns ruft, so treten wir erst aus dem Nichts ins Dasein. Denn wir mögen scheinen wie wir wollen: von irgendeiner Güte, die uns das Gottesreich erschließen müsste, besitzen wir keinen Funken. Wir müssen erst uns selbst ganz und gar absterben, ehe wir fähig werden, Gottes Berufung zu folgen. Denn dies ist ihre Bedingung: Tote erweckt Gott zum Leben; die nichts sind, werden etwas durch seine Kraft. Das Wort rufen darf dabei nicht bloß auf die Predigt des Wortes beschränkt werden, sondern es bezeichnet nach dem Sprachgebrauch der Schrift eine machtvolle Erweckung. So schauen wir Gottes Kraft, welche gebietet, und es steht da.
18 Und er hat geglaubt auf Hoffnung, da nichts zu hoffen war, auf dass er würde ein Vater vieler Völker, wie denn zu ihm gesagt war: „Also soll dein Same sein.“
V. 18. Er hat geglaubt, da nichts zu hoffen war, d. h. wo kein Beweis für seine Hoffnung sprach, sondern alles dagegen. In der Tat kann man nicht leicht dem Glauben ein größeres Hindernis bereiten, als wenn man seine Gedanken durch den Augenschein leiten lässt, um von daher einen Grund zur Hoffnung zu gewinnen. Wenn der Glaube nicht mit Himmel anstrebendem Fluge emporsteigt und alle fleischlichen Eindrücke weit hinter sich lässt, so wird er stets am Kot der Erde kleben bleiben. Abraham aber glaubte auf Hoffnung, obgleich eine greifbare Unterlage dafür nicht vorhanden war: er stützte seine Hoffnung einfach auf Gottes Zusage; und war die Sache an sich noch so unglaublich, so genügte ihm, um zu hoffen, die bloße Tatsache, dass Gott sein Versprechen gegeben. Wie denn zu ihm gesagt war. So (nicht „ist“) übersetzen wir, um das richtige Zeitverhältnis klar werden zu lassen. Paulus will nämlich sagen, dass Abraham unter vielen Anfechtungen, die ihn zu hoffnungslosem Zweifel treiben wollten, sein Gemüt immer wieder durch den Blick auf die ihm gewordene Zusage wider den Abfall gestärkt habe: „So soll dein Same sein“ wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer. Absichtlich führt der Apostel dieses Wort Gottes nur unvollständig und andeutend an, um uns selbst in die Heilige Schrift hinein zu weisen. Dies ja bei ihren Schriftzitaten stets ein Hauptanliegen der Apostel, uns zum eifrigen Lesen der Bibel einen Anstoß zu geben.
19 Und er ward nicht schwach im Glauben, sah auch nicht an seinen eigenen Leib, welcher schon erstorben war (weil er fast hundertjährig war), auch nicht den erstorbenen Leib der Sara; 20 denn er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern ward stark im Glauben und gab Gott die Ehre 21 und wusste aufs allergewisseste, dass, was Gott verheißt, das kann er auch tun. 22 Darum ist´ s ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet.
V. 19. Und er ward nicht usw. Man könnte auch mit einer einzigen Negation übersetzen: und er sah nicht, schwach im Glauben, seinen eigenen Leib an. Doch das trägt für den Sinn wenig aus. In jedem Fall zeigt der Apostel hier genauer, was dem Abraham den Glauben an die Verheißung erschweren, ja völlig unmöglich machen konnte. Es wurde ihm Nachkommenschaft von der Sara verheißen: und doch schien es weder seiner Natur nach gegeben, zu zeugen, noch der Sara, zu empfangen. Was er nur in und um sich zu sehen vermochte, sprach gegen die Verheißung. Um aber der göttlichen Wahrheit Raum zu geben, lenkte er seine Seele von allem ab, was vor Augen lag, und vergaß gewissermaßen sich selbst. Freilich muss man nicht denken, dass er seinen entkräfteten Leib überhaupt nicht angesehen habe. Vielmehr bezeugt die Schrift das Gegenteil, dass nämlich Abraham bei sich gedacht habe (1. Mose 17, 17): „Soll mir, hundert Jahre alt, ein Kind geboren werden, und Sara, neunzig Jahre alt, gebären?“ Aber weil er solche Fragen beiseite schob und seinen ganzen Sinn von den eigenen Gedanken hinweg auf Gott richtete, darum kann der Apostel sagen: „Er sah nicht an.“ Und ohne Zweifel war Abrahams Glaubenszuversicht kräftiger, da sie Dinge niederschlagen musste, die sich förmlich aufdrängten, als wenn ihm dergleichen gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Wenn es heißt: „Er ward nicht schwach im Glauben“, so besagt dies, er sei nichts ins Wanken und Schwanken gekommen, wie dies in zweifelhafter Lage zu geschehen pflegt. Denn es gibt eine doppelte Schwachheit des Glaubens. Die eine lässt uns in widrigen Versuchungen erliegen und aus der Kraft Gottes fallen. Die andere, welche freilich unserer Unvollkommenheit entspringt, tötet doch den Glauben selbst nicht. Denn allerdings sind unsere Gedanken nie so erleuchtet, dass nicht viel Unwissenheit noch bliebe, noch unser Gemüt so gefestigt, dass nicht noch viele Zweifel auftauchten. Gegen solche Fehler des Fleisches, Unwissenheit und Zweifel, ist den Gläubigen ein Kampf verordnet, in welchem der Glaube oft schwere Angriffe leiden muss: aber endlich gewinnt er den Sieg. So sind die Gläubigen in aller ihrer Schwachheit stark.
V. 20. Er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben. Ganz genau übersetzt: er kämpfte nicht wider Gottes Verheißung mit zweifelndem Unglauben. Der Apostel will sagen: Abraham prüfte und erwog nicht ungläubigen Sinnes, ob Gott wohl leisten könne, was er versprach. Etwas ungläubig bis auf den Grund untersuchen und es durchaus nur zulassen wollen, wenn gar keine Bedenken sich mehr erheben -, das heißt mit Zweifeln dagegen ankämpfen. Freilich hat Abraham gefragt, wie solches möglich sei. Aber das war eine Frage der Verwunderung, wie sie auch die Jungfrau Maria bei ihrer Heimsuchung gegen den Engel tat (Luk. 1, 34): „Wie soll das zugehen?“ Wenn die Heiligen Botschaft von Werken Gottes empfangen, deren Größe ihr Begreifen übersteigt, so bricht zwar die Verwunderung aus, aber diese Verwunderung steigt alsbald zum Anschauen der Kraft Gottes auf. Die Ungläubigen aber führt ihr Forschen zu Spott und Verachtung. So war es bei den Juden mit ihrer Frage (Joh. 6, 52): „Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben?“ Es kommt alles auf den Ton solcher Frage an: Abraham erfuhr keinen Tadel, als er lachte und die Frage tat, wie einem hundertjährigen Manne und einer neunzigjährigen Frau ein Sohn sollte geboren werden (1. Mose 17, 17). Denn mitten in seinem Staunen gab er der Macht des Wortes Gottes Raum. Wenn aber Sara lacht und fragt (1. Mose 18, 12), wird sie getadelt, weil sie der Zusage Gottes spottete und sie für nichtig hielt. Diese Erinnerung an Abrahams Glauben zeigt, dass er denselben Weg zur Rechtfertigung ging, wie er jetzt den Heiden eröffnet ist. Die Juden schmähen also ihren eigenen Stammvater, wenn sie die Berufung der Heiden als töricht ausschreien. Auch wir wollen bedenken, dass wir uns ganz in Abrahams Lage befinden. Alles ringsherum widerstreitet der Verheißung Gottes. Es wird Unsterblichkeit zugesagt: wir aber stecken in der Sterblichkeit und Verderben. Gott will uns für gerecht ansehen: aber wir sind mit Sünden bedeckt. Er bezeugt, dass er uns günstig und wohlgesinnt sein wolle: aber unsere innere Stimme droht vielmehr mit seinem Zorn. Was sollen wir nun tun? Nichts, als an uns und allem, was wir sind, mit geschlossenen Augen vorübergehen und uns nicht stören und hindern lassen, Gott für wahrhaftig zu halten.
Sondern ward stark im Glauben. Dies ist der Gegensatz zu der soeben gehörten Aussage: „Er ward nicht schwach im Glauben.“ Denn mit der Kraft und Gewissheit des Glaubens kämpfte er den Unglauben nieder. Und niemand wird diesen Kampf siegreich zu Ende führen, wenn er nicht aus Gottes Wort Waffen und Kraft entlehnt. Wenn es weiter heißt: und gab Gott die Ehre -, so wollen wir daraus entnehmen, dass man Gott keine größere Ehre antun kann, als wenn man im Glauben das Siegel unter seine Wahrheit drückt. Und wiederum kann man ihm keine größere Schande anhängen, als wenn man seine Gnade verachtet und seinem Worte die Glaubwürdigkeit abspricht. Das erste Stück rechter Verehrung Gottes ist gehorsame Annahme seiner Verheißungen, und die wahre Frömmigkeit bewegt sich im Glauben.
V. 21. Was Gott verheißt, das kann er auch tun. Weil jeder Mensch an Gottes Allmacht zu glauben behauptet, so scheint Paulus hier über Abrahams Glauben gar nichts Besonderes zu sagen. Und doch zeigt die Erfahrung, wie nichts seltener und schwerer ist, als dass ein Mensch der Kraft Gottes die gebührende Ehre gebe. Denn kein Hindernis ist so winzig und gering -, und das Fleisch glaubt schon, dass Gott die Hand von seinem Werke lassen müsse. So zerfließen uns bei dem geringsten Anstoß Gottes Verheißungen in nichts. Theoretisch bestreitet niemand, dass Gott tun kann, was er will: aber sobald irgendeine Kleinigkeit den Verheißungen Gottes in den Weg zu treten scheint, stürzen wir Gottes Kraft vom Thron. Damit wir nun dem Herrn im entscheidenden Augenblick sein Recht und seine Ehre lassen, müssen wir uns gegenwärtig halten, dass er stark ist, allen Widerspruch der Welt zu überwinden, wie die Sonne den Nebel zerstreut. Wir entschuldigen uns in der Regel damit, dass ja unsere Zweifelsgedanken nicht absichtlich Gott die Ehre nehmen und etwa freventlich anhängen wollen, dass sein Wort mehr verspricht, als er leisten kann und will -, sondern wie seien nur schwach. Aber wir sollen der Kraft Gottes auch kühnlich zutrauen, dass sie unsere Schwachheit überwinden kann. Der Glaube soll nicht auf seine Kraftlosigkeit, Elend und Mangel schauen, sondern auf Gottes Kraft allein. Wollte er sich auf unsere Gerechtigkeit und Würdigkeit stützen, so würde er niemals zur Betrachtung von Gottes Macht aufsteigen. Das ist aber die eigentliche Art des Unglaubens, dass er Gottes Vermögen nach unserm eigenen Maße misst. Der wahre Glaube aber hegt nicht bloß den leeren Gedanken: Gott kann tun, was er will -, aber vielleicht sitzt er müßig im Winkel. Er schaut Gottes Kraft in stetigem Wirken und sieht sie am Werke, sein Wort zu vollführen, dass seine Hand tue, was der Mund versprochen hat.
V. 22. Darum ist´ s ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet. Hier sieht man deutlich, warum und wie Abrahams Glaube die Gerechtigkeit erlangt hat: weil er, auf Gottes Wort gestützt, die verheißene Gnade nicht zurückstieß. Diesen Zusammenhang des Glaubens mit dem Worte müssen wir wohl beachten und fest im Gedächtnis halten. Denn der Glaube kann uns nicht mehr geben, als er aus dem Worte nimmt. Deshalb wird nicht ohne weiteres gerecht sein, wer lediglich auf Grund einer allgemeinen und ungefähren Kenntnis Gott für wahrhaftig hält, sondern nur wer auf die Verheißung der Gnade sich gründet.
23 Das ist aber nicht geschrieben allein um seinetwillen, dass es ihm zugerechnet ist, 24 sondern auch um unsertwillen, welchen es soll zugerechnet werden, so wir glauben an den, der unsern Herrn Jesu auferweckt hat von den Toten, 25 welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Gerechtigkeit willen auferweckt.
V. 23. Das ist aber nicht geschrieben usw. Diese Erinnerung leitet uns an, aus den Exempeln der Schrift rechten Nutzen zu ziehen. Dass die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens sei, haben schon die Heiden mit Recht gesagt -, aber wie sie ihre Geschichte erzählen, das wird niemandem viel helfen. Die Schrift allein behauptet die Stelle der rechten Lehrmeisterin. Denn sie zeigt uns die allgemeinen Regeln, nach welchen jede Geschichte behandelt sein will, wenn sie wahren Nutzen schaffen soll. Sie unterscheidet auch klar, was zur Nachahmung und was zur Abschreckung dienen soll. Und endlich kennt die Schrift eine unvergleichliche, alles beherrschende Grundlehre: sie enthüllt die Vorsehung des Herrn, welche für die Seinen Gerechtigkeit und Güte, für die Verworfenen aber Gericht bedeutet. Was nun von Abraham geschrieben steht, davon sagt Paulus, dass es nicht allein um seinetwillen geschrieben sei. Denn es handelt nicht von der zufälligen Berufung einer einzelnen Persönlichkeit, sondern will das Vorbild für den Erwerb der Gerechtigkeit beschreiben, der immer und überall derselbe ist. So sollen aller Augen auf den Vater der Gläubigen sich richten. Wollen wir überhaupt mit der heiligen Geschichte einen gesunden und frommen Umgang pflegen, so gilt es, in ihr die Frucht einer gewissen Lehre zu finden. Die heilige Geschichte unterweist uns nun, unser Leben recht zu gestalten, unsern Glauben zu stärken und tiefere Gottesfurcht zu erwecken. Zur rechten Lebensgestaltung dient das Vorbild der Heiligen, welches uns Nüchternheit, Zucht, Liebe, Geduld, Bescheidenheit, Verachtung der Welt und andere Tugenden lehrt. Eine Stütze des Glaubens wird uns der Anblick der göttlichen Hilfe gewähren, welche den Heiligen stets gegenwärtig war. Trost in Widerwärtigkeiten wird es uns bringen, wenn wir Gottes Schutz väterlich über den Seinen walten sehen. Die Gerichte und Strafen Gottes über freventliche Sünder werden uns lehren, Gott zu fürchten und in frommer Scheu unser Herz ihm zu unterwerfen. Wenn es aber heißt: „Nicht allein um seinetwillen“, so könnte darin vielleicht liegen, dass, was dort in der Schrift steht, teilweise allerdings auch um Abrahams willen geschrieben ward. So müsste man sagen: ihm zum Ruhme steht verzeichnet, was er durch Glauben erreichte; denn Gott will seinen Knechten ein ewiges Gedächtnis stiften, wie Salomo sagt (Spr. 10, 7): „Das Gedächtnis des Gerechten bleibt im Segen.“ Richtiger wird es doch sein, einfach zu sagen: was die Schrift berichtet, betrifft gar nicht Abraham allein, dessen eigenartige und hervorragende Stellung vielleicht ein sehr unpassendes Beispiel abgeben möchte, sondern beschreibt den allgemeinen Weg, welchen auch wir gehen müssen, um die Rechtfertigung zu empfangen.
V. 24. So wir glauben an den, der unsern Herrn Jesus auferweckt hat. Über die Bedeutung derartiger Umschreibungen des Glaubens haben wir früher bereits (zu 4, 5) eine Bemerkung gemacht: Paulus will damit je nach Erfordernis des Gedankenganges den Gegenstand des Glaubens in verschiedener Weise ausdrücken. Dazu gehört als ein wesentliches Stück auch Christi Auferstehung, welche uns zur greifbaren Vergegenwärtigung des ewigen Lebens wird. Hätte der Apostel einfach gesagt, dass wir an Gott glauben, so wäre nicht so deutlich geworden, was denn dies für den Erwerb der Gerechtigkeit austrägt. Tritt aber Christus auf den Plan und gibt uns in seiner Auferstehung ein gewisses Pfand des Lebens, so sehen wir klar, aus welchem Quell die Zurechnung der Gerechtigkeit fließt.
V. 25. Welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben. Diese schon früher (zu 3, 25) berührte Lehre verfolgt und erläutert der Apostel nunmehr des Weiteren. Denn es ist viel daran gelegen, nicht bloß im Allgemeinen den Blick auf Christus zu richten, sondern auch zu wissen, wieso er uns das Heil erworben hat. Bleibt nun die Schrift, wenn sie sonst von diesen Dingen redet, gewöhnlich allein bei Christi Tod stehen, so führt uns der Apostel hier weiter. Er verzeichnet zwei Stücke, auf welchen unser Heil ruht. Zuerst sagt er, dass der Tod Christi unsere Sünden gesühnt, dann, dass seine Auferstehung Gerechtigkeit beschafft habe. Insgesamt ergibt sich daraus, dass, wenn man die Frucht des Todes und der Auferstehung Christi zusammennimmt, nichts an der völligen Beschaffung der Gerechtigkeit fehlt. Wenn aber der Apostel Tod und Auferstehung auseinander zu reißen scheint, so liegt dies nur daran, dass seine Rede unserm schwachen Verständnis entgegenkommt. Denn überall sonst steht ja die Wahrheit fest, die auch das nächste Kapitel vorträgt (5, 9.18.19), dass der Gehorsam, welchen Christus in seinem Tode leistete, uns die Gerechtigkeit erwarb. Weil aber erst die Auferstehung offenbar machte, was der Tod erworben, so wird, um die Sache klarzumachen, auch die Unterscheidung nötig: das Opfer, welches die Sünden sühnte, hat den Anfang, die Auferstehung aber erst die Vollendung des Heils begründet. Denn die Grundlage der Gerechtigkeit ist unsere Versöhnung mit Gott, ihre Krone die Herrschaft des Lebens über den Tod. Paulus lehrt also, dass die Genugtuung für unsere Sünden am Kreuze geleistet ward. Denn wenn Christus uns unter die Gnade des Vaters bringen sollte, so musste er zuerst unsere Verschuldung beseitigen; und dies vermochte er nur dadurch, dass er die Strafe, die wir nicht zahlen konnten, an unserer Statt entrichtete. Denn Jesaja (53, 5) sagt: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.“ „Dahingegeben“ aber sagt der Apostel lieber als „gestorben“, um anzudeuten, dass die Sühne an dem ewigen Gnadenrat des Gottes hing, der sie selbst gestiftet hat.
Um unsrer Gerechtigkeit willen auferweckt. Es wäre nicht genug gewesen, dass Christus sich dem Zorn und Gericht Gottes dargestellt und unsern Sündenfluch getragen hätte: er musste auch als Sieger aus dem Tode kommen, zur himmlischen Herrlichkeit erhöht werden und dort vor dem Angesichte des Vaters unser Fürsprecher sein. Darum heißt es, dass die Auferstehung, welche den Tod verschlungen, die Kraft zur Rechtfertigung birgt. Nicht als ob das Kreuzesopfer, welches die Versöhnung mit Gott gestiftet hat, nichts zu unserer Gerechtigkeit beitrüge: aber in dem neuen Leben leuchtet die Vollendung dieser Gnade noch heller. Übrigens kann ich nicht zustimmen, wenn man dieses zweite Satzglied auf die Lebenserneuerung bezieht. Denn erstens ist die Rede des Apostels bei dieser Frage noch nicht angelangt, und zweitens kann unmöglich das zweite Glied von etwas ganz anderem handeln, als das erste. Wie also der Apostel sagt, Christus sei um unsrer Sünden willen gestorben -, weil er uns durch die Zahlung der Sündenschuld in seinem Tode von dem Elend des Todes erlöst hat: ganz ebenso spricht er aus, er sei auferweckt um unserer Gerechtigkeit willen, weil seine Auferstehung der gewisse Grund unseres Lebens ward. Zuerst hat Gottes Hand ihn geschlagen, damit er an des Sünders Statt das Sündenelend trüge; darauf ward er in das Reich des Lebens erhoben, um den Seinen Gerechtigkeit und Leben auszuteilen. Der Apostel redet also noch immer von der zugerechneten Gerechtigkeit, wie auch alsbald das nächste Kapitel zeigt.
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Johannes Calvin
1 Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus, 2 durch welchen wir auch den Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade, darin wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll.
V. 1. Nun wir denn sind gerecht geworden usw. Der Apostel beginnt nun, die Gerechtigkeit, die er bisher beschrieben, um ihrer Früchte willen noch höher zu rühmen. In solchen weiteren Ausführungen, welche doch zugleich noch manches für den eigentlichen Beweis beibringen, ergeht sich dieses ganze Kapitel. Hatte der Apostel vorher ausgesprochen, dass der Glaube dahinfalle, wenn man die Gerechtigkeit in den Werken sucht, weil die Seele, die in sich selbst keinen festen Grund findet, in ewiger Unruhe sich verzehren muss -, so heißt es jetzt umgekehrt: sind wir durch den Glauben gerecht geworden, so haben wir Frieden mit Gott. Unvergleichliche Frucht der Glaubensgerechtigkeit! Wollte jemand die Ruhe des Gewissens auf Werke gründen -, wie dies Leute zu tun pflegen, welchen wahre Frömmigkeit und seines Empfinden abgeht -, der würde einem Luftgebilde nachjagen. Denn das Herz vergisst entweder das göttliche Gericht und wird gleichgültig darüber, oder es ist voller Furcht und Schrecken, bis es in Christus seine Ruhe findet. Denn er allein ist unser Friede. „Friede“ heißt die heitere Ruhe des Gewissens, welche aus der Gewissheit erwächst, dass wir einen versöhnten Gott haben. Solchen Frieden besitzt weder der Pharisäer, welchen das Vertrauen auf seine Werke aufbläht, noch der gleichgültige Sünder, welcher im süßen Genusse des Lasters keiner Unruhe Raum gibt. Beide scheinen freilich nicht in offenem Kriege mit Gott zu leben, wie ein Mensch, an welchem das Bewusstsein seiner Sünde nagt. Frieden mit Gott haben sie auch sicher nicht, weil sie ja dem richtenden Gott nicht nahe kommen dürfen. Die Gleichgültigkeit ihres Gewissens ist eine Art Flucht vor Gott. So stellt der Apostel den Frieden mit Gott im Gegensatz zur trunkenen fleischlichen Sicherheit. Denn das erste Erfordernis bleibt, dass ein jeder dazu erweckt werde, von seinem Leben Rechenschaft zu geben. Keiner aber wird ohne Zittern vor Gott treten, wenn er nicht auf die Versöhnung aus freier Gnade trauen darf. Solange Gott als Richter dasteht, muss alles Fleisch ihn scheuen und fürchten.
V. 2. Durch welchen wir auch den Zugang haben usw. Denn unsere Versöhnung mit Gott stützt sich auf Christus. Er ist der einige geliebte Sohn, wir alle sind von Natur Kinder des Zorns. Solche Gnade wird uns durch das Evangelium geschenkt, welches als eine Predigt von der Versöhnung uns in Gottes Reich einführt. Redet der Apostel von „Zugang“, so lehrt er damit, dass unser Heil in Christus seinen Anfang nimmt: damit fallen alle selbst erwählten Vorbereitungen, mit welchen törichte Menschen das Erbarmen Gottes unterbauen zu können meinen. Es ist, als hieße es: Christus begegnet uns ohne Verdienst, welches wir zuvor erwerben, und streckt uns seine Hand entgegen. Alsbald aber fährt die Rede fort: dass unser Heil fest und beständig bleibt, ruht auf der Fortsetzung derselben Gnade; also auch die Gabe der Beständigkeit danken wir nicht unserer Kraft und Treue, sondern dem Herrn Jesus Christus. Der Ausdruck, darin wir stehen, zeigt dabei zugleich an, wie tiefe Wurzeln das Evangelium in den Herzen der Gläubigen schlagen muss, damit sie, in seiner Wahrheit gefestigt, wider alle Anläufe des Teufels und ihres eigenen Fleisches feststehen können. Das Wort lehrt uns, dass der Glaube mehr sein muss als eine flüchtige Tagesmeinung: fest und tief muss er im Gemüte sitzen, damit er ein Leben hindurch aushalte. Nicht der, den ein stürmischer und plötzlicher Antrieb zum Glauben bewegt, zählt schon unter die wahrhaft Gläubigen, sondern nur der, der treulich und festen Fußes auf dem von Gott angewiesenen Posten aushält und dabei stetig an Christus hängt.
Und rühmen uns der Hoffnung usw. Das gibt der Hoffnung auf das ewige Leben Kraft und frohe Spannung, dass wir auf dem festen Fundament der Gnade Gottes feststehen dürfen. Sind die Gläubigen auch auf Erden Fremdlinge und Pilgrime, so steigt ihre Zuversicht doch über alle Himmel empor, und sie bergen das zukünftige Erbe getrost in sich. Damit fallen zwei der verderblichsten Lehrsätze der römischen Kirchenlehrer: der eine, dass die Christen höchstens eine ungefähre „moralische Wahrscheinlichkeit“ bezüglich ihres Gnadenstandes gewinnen dürften; der andere, dass keiner wissen könne, ob er endlich selig werde. Aber wenn wir für die Gegenwart nichts Sicheres wissen und für die Zukunft nichts Gewisses hoffen dürfen -, wer sollte dann noch wagen, sich der Hoffnung zu rühmen? Durchs Evangelium aber strahlt uns der Glanz der zukünftigen Herrlichkeit entgegen, die Gott geben will. Denn es bezeugt uns, dass wir teilhaftig werden der göttlichen Natur, dass wir Gott sehen werden von Angesicht zu Angesicht, und werden ihm gleich sein.
3 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale, dieweil wir wissen, dass Trübsal Geduld bringt; 4 Geduld aber bringt Erfahrung; Erfahrung aber bringt Hoffnung; 5 Hoffnung aber lässt nicht zu Schanden werden. Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben ist.
V. 3. Nicht allein aber das. Leicht könnte der spöttische Einwurf erhoben werden: die Christen erführen doch trotz ihres Rühmens mannigfachen Jammer und Kampf, und das sei eine sonderbare Glückseligkeit. Deshalb kommt der Apostel diesem Einwand zuvor und spricht es zuversichtlich aus, dass Trübsal das Glück der Frommen nicht stören kann, sondern nur ihr Rühmen vermehren muss. Zum Beweise dessen dienen die Früchte, welche die Trübsal bei den Frommen zeitigt. Stufe für Stufe steigt die Rede empor, bis sie endlich auf der Höhe den Schluss verkündet, dass alle Anfechtung sich uns in Heil und Segen wandeln muss. Dass aber die Heiligen sich der Trübsale rühmen, will nicht so verstanden sein, als wenn sie widrige Geschicke nicht fürchteten und nicht lieber vermeiden möchten, oder als ob keine Last sie wirklich drückte: denn wenn sie die Bitterkeit überhaupt nicht fühlten, könnte keine Geduld daraus erwachsen. Aber in allem Schmerz und Seufzen fehlt ihnen nicht der große Trost, dass alles, was sie tragen, ihnen die Hand des gütigsten Vaters zum Besten auferlegt; deshalb heißt es mit Recht: sie rühmen sich. Denn wo ein Fortschritt des Heils ist, fehlt nie der Anlass zum Rühmen. Hier lernen wir, was das Ende unserer Versuchungen sein muss, wenn anders wir uns als Kinder Gottes beweisen wollen. Sie müssen uns zur Geduld erziehen, und wenn sie das nicht erreichen, so hat unserer Verkehrtheit Gottes Werk um seinen Erfolg und Segen gebracht. Dem widerspricht nicht, dass die Schrift manche verzweiflungsvolle Klagen der Heiligen enthält. Denn zuweilen und für Zeiten drängt und presst Gott die Seinen also, dass sie kaum aufatmen können und des Trostes vergessen: aber alsbald führt er ins Leben zurück, die er zuvor in des Todes Dunkel versenkt. So wird allezeit erfüllt, was Paulus sagt (2. Kor. 4, 8): „ Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“
Dass Trübsal Geduld bringt. Dies kommt freilich nicht aus der Natur der Trübsal, welche vielmehr den größeren Teil der Menschen dazu reizt, Gott zu widersprechen und sogar zu fluchen. Wenn aber die Widerspenstigkeit in jene innere Folgsamkeit sich wandelt, welche der Geist Gottes samt seinem Troste uns ins Herz gibt, dann werden dieselben Trübsale, welche bei den Widerspenstigen nichts als Groll und Zähneknirschen erzielen, für die Frommen Mittel, Geduld zu wirken.
V. 4. Geduld aber bringt Erfahrung. Paulus denkt an die Erfahrung von der Zuverlässigkeit der göttlichen Fürsorge, welche die Gläubigen machen, wenn sie im Vertrauen auf Gott alle Schwierigkeiten überwinden. Denn wenn sie in der Geduld fest bleiben, erfahren sie, wie viel Gottes Kraft vermag, deren Beistand der Herr den Seinen für alle Zeit verheißen hat. Der Segen solcher Erfahrung ist, dass wir festhalten: Gott trägt uns, wenn wir dulden müssen. So schöpfen wir für die Folgezeit die Hoffnung, dass die bisher erfahrene gnädige Durchhilfe uns niemals fehlen wird. Also: Erfahrung bringt Hoffnung. Diesen Segen verliert nur die Undankbarkeit, welche die erfahrenen Wohltaten vergisst und damit den Grund zu künftiger Hoffnung zerstört.
V. 5. Hoffnung aber lässt nicht zu Schanden werden. D. h. sie führt aufs
allergewisseste zu einem fröhlichen Ende. Gott übt uns also nur deshalb in Widerwärtigkeiten, um unser Heil von einer dieser Stufen zur andern (Geduld Erfahrung …) zu fördern. Das Elend kann uns nicht elend machen, denn es ist in seinem Maße ein Mittel zur Seligkeit. Nun ist bewiesen, was der Apostel sagte, dass die Frommen mitten in der Anfechtung immer einen Grund zum Rühmen haben.
Denn die Liebe Gottes usw. Diese Aussage bezieht sich nicht bloß auf den letzten Satz, sondern auf die ganze bisherige Gedankenreihe: deshalb muss Trübsal in uns Geduld wirken und Geduld eine Erfahrung der Hilfe Gottes schaffen, die uns zu weiterer Hoffnung
ermutigt -, weil wir bei allem Druck und selbst angesichts des Todes noch das Gefühl der Güte Gottes festhalten, welche der beste Trost ist, besser als alles äußere Glück. Ist Gott wider uns, so wandelt sich in Elend, was Glück scheint. Ist aber Gott für uns, so ist kein Zweifel, dass selbst das Unglück einen guten und fröhlichen Ausgang gewinnen muss. Denn alles steht dem Willen des Schöpfers zu Dienst: und seine väterliche Güte wird alle Anfechtung des Kreuzes zum Besten wenden (Röm. 8, 28). Diese Gewissheit von der göttlichen Liebe gegen uns ist ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist. Welche Güter Gott denen bereitet hat, die ihn recht anbeten, ist vor den Augen, Ohren und Gedanken der Menschen verborgen: der Geist allein kann es offenbar machen. Mit herrlichem Nachdruck sagt der Apostel „ausgegossen“. Denn die überreiche Offenbarung der Liebe Gottes durchflutet unser ganzes Herz. Sie durchdringt jeden Winkel und mildert nicht allein die Traurigkeit: sie mischt sich wie eine milde Würze allen Anfechtungen bei und verleiht ihnen Wohlgeschmack. „Liebe Gottes“ ist also hier Gottes Liebe zu uns, nicht etwa unsere Liebe zu Gott. Gewiss ist es auch richtig, dass wir das Unglück geduldig und hoffnungsvoll nur tragen können, wenn der Trieb des Geistes uns in der Liebe zu Gott erhält. Hier aber will Paulus sagen: fester Glaube an Gottes Liebe ist der einzige Quell unserer Liebe zu ihm. Und solcher Glaube muss uns nicht bloß flüchtig berühren: er muss unsere Herzen völlig durchdringen.
6 Denn auch Christus, da wir noch schwach waren nach der Zeit, ist für uns Gottlose gestorben. 7 Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen dürfte vielleicht jemand sterben. 8 Darum preist Gott seine Liebe gegen uns, dass Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren. 9 So werden wir ja vielmehr durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir durch sein Blut gerecht geworden sind.
V. 6. Denn auch Christus usw. Der Apostel will sagen: zu einer Zeit, da wir noch schwach waren, ist Christus bereits für und gestorben. Unter Schwachheit versteht er dabei unsere Unwürdigkeit, die uns nicht wert macht, dass Gott sein Auge auf uns richte. Es ist also nicht bloß im Allgemeinen von der Weltzeit vor Christi Erscheinung die Rede, da die Menschen schwachen Kindern gleich, unter der Zucht des Gesetzes standen; vielmehr zielt die Rede auf die Erfahrung jedes einzelnen von uns: die Zeit der Schwachheit ist die, welche vor eines jeden Versöhnung mit Gott liegt. Denn da wir alle als Kinder des Zorns geboren werden, so stehen wir unter dem Fluch, bis uns Christus zu seinen Gliedern macht. „Schwache“ sind dieselben Leute, welche sofort darauf „Gottlose“ heißen: sie tragen in sich nichts als Verderben, und der Abschied von der Gottlosigkeit erfolgt erst durch den Glauben, der ja allen fern lag, für welche Christus starb. Auch sonst heißt im Sprachgebrauch des Paulus „schwach“, was keine Würde und Ehre besitzt (1. Kor. 12, 22; 2. Kor. 10, 10). Als wir also noch „schwach waren“, d. h. als wir gänzlich unwürdig und ungeeignet waren und den Anblick Gottes wahrhaftig nicht verdienten da ist Christus „für uns Gottlose gestorben“. Denn die Gottesfurcht beginnt mit dem Glauben und den hatte keiner, für den Christus starb. Das gilt auch für die Väter des Alten Bundes, die vor Christi Tod die Gerechtigkeit erlangt haben. Denn sie hatten diese Gnadengabe aus Christi damals zukünftigen Sterben! Die im Eifer der Rede etwas ausgerenkte Beweisführung des Apostels steigt nun gewissermaßen vom Größeren zum Geringeren hinab und nimmt (V. 7 10) folgenden Gang: hat sich Christus der Gottlosen erbarmt, hat er Feinde mit seinem Vater versöhnt, und hat er dies getan durch die Kraft seines Todes -, so wird er jetzt viel mehr selig machen, die gerecht gesprochen werden, wird in seiner Gnade bewahren, die er in dieselbe aufnahm, zumal ja zu seinem Tode jetzt die Kraft seines Lebens kommt.
V. 7. Um eines Gerechten willen. Unter Menschen ist es, wenn nicht völlig ausgeschlossen, so doch äußerst selten, dass jemand einem Gerechten zugute den Tod auf sich nimmt. Mag dies aber immerhin vorkommen: - für einen Gottlosen wird sicher niemand sterben wollen. Das tat nur Christus. So zeigt dieser Vergleich die ganze Herrlichkeit der unter Menschen unerhörten Wohltat Christi.
V. 8. Darum preist Gott seine Liebe gegen uns. Dass Gott seines Sohnes nicht verschont, sondern ihn für Sünder dahingegeben hat, ist der festeste und gewisseste Beweis seiner Liebe zu uns. Wie Johannes sagt (1. Joh. 4, 912): Daran sei Gottes Liebe erschienen, dass er uns zuerst geliebt hat, ehe wir ihn liebten. Da wir noch Sünder waren. „Sünder“ sind hier, wie auch sonst, Leute von völliger Sündhaftigkeit, verworfene Sündenknechte, von denen es Joh. 9, 31 heißt: „Wir wissen, dass Gott die Sünder nicht hört.“ Ein „sündiges“ Weib ist ein Weib von schmutzigem Lebenswandel. Was der Apostel meint, macht alsbald der Gegensatz klar (V. 9): Nachdem wir durch sein Blut gerecht geworden sind. „Gerecht“ ist der Mensch, welchem die Schuld der Sünde erlassen ward. Im Gegensatz dazu ist ein „Sünder“, wer die Vermaledeiung für seine Sünde zu tragen hat. Und der Gedanke ist: wenn Christus Sündern durch seinen Tod Gerechtigkeit erworben hat, wie viel mehr wird er jetzt Gerechtgesprochene vor dem Verderben schützen! Damit empfängt der Beweisgang des Apostels seine Abschluss: dass uns einmal Heil geschenkt ward, würde nichts helfen, wenn Christus uns nicht bis zu einem gewissen und seligen Ende führte. Nun aber brauchen wir nicht zu fürchten, dass der Herr sein angefangenes Gnadenwerk abbreche. Denn seit er uns mit dem Vater versöhnt hat, stehen wir in einem Stande, über welchen er seine Gnade nun täglich reichlicher ausschütten will.
10 Denn so wir Gott versöhnt sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, so wir nun versöhnt sind.
Dieser Satz bewegt sich noch in der Spur des bisherigen Gedankenganges: nur fügt er einen steigernden Vergleich zwischen Tod und Leben hinzu. Wir waren, so sagt der Apostel, noch Feinde, als Christus sich ins Mittel legte, die Versöhnung mit dem Vater zu stiften. Jetzt sind wir Freunde geworden durch die Versöhnung. Konnte der Tod solches vollbringen, wie viel größer und wirksamer wird die Kraft des Lebens sein! Hier liegt ein fester Grund für die Gewissheit unseres Heils.
11 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus, durch welchen wir nun die Versöhnung empfangen haben.
Jetzt ist der höchste Grad des Rühmens erreicht. Denn wenn wir rühmen dürfen, dass Gott unser ist, so wird aus diesem Quell alles Gute fließen, das sich nur erdenken lässt. Gott ist ja nicht allein das höchste Gut, er ist auch der Inbegriff aller Güter. Und er ist durch Christus unser geworden. Dahin bringt uns also des Glaubens Herrlichkeit, dass nichts zu unserm Glücke fehlen kann. In dieser Weise immer wieder die Kraft der Versöhnung zu rühmen, hat der Apostel guten Anlass. Wir sollen lernen, wenn es um unser Heil geht, das Auge fest auf Christi Tod zu richten. Weiter sollen wir erfahren, dass der Glaube nirgends anders ausruhen kann, als auf der Versöhnung der Sünden.
12 Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben; - 13 denn die Sünde war wohl in der Welt bis auf das Gesetz; aber wo kein Gesetz ist, da achtet man der Sünde nicht. 14 Doch herrschte der Tod von Adam an bis auf Mose auch über die, die nicht gesündigt haben mit gleicher Übertretung wie Adam, welcher ist ein Bild des, der zukünftig war.
V. 12. Derhalben, wie usw. Jetzt schickt sich der Apostel an, die bisher vorgetragene Lehre dadurch in ein noch helleres Licht zu rücken, dass er ihr ihren Gegensatz gegenüberstellt. Ist Christus gekommen, um uns aus dem Elend zu erlösen, in welches Adam sich und alle seine Nachkommen gestürzt hatte, so können wir ja, was wir an Christus haben, nicht besser erkennen, als wenn uns gezeigt wird, was wir in Adam verloren haben. Freilich entsprechen sich nicht alle Stücke im Stande des Verderbens und im Stande der Erlösung völlig. Deshalb werden wir mit Paulus auch manchen Unterschied anzumerken haben. Einigermaßen undeutlich wird die Rede dadurch, dass das zweite Glied des angelegten Vergleichs abgebrochen erscheint. Unsere Auslegung wird den Gedankengang gegebenen Orts zu glätten suchen.
Durch einen Menschen usw. Beachtenswert ist hier die Reihenfolge der Stücke: die Sünde geht voran, und aus ihr folgt der Tod. Dies gilt es zu betonen. Es ist ja nicht so, dass Adams Sünde uns ohne jede eigene Schuld lediglich deshalb ins Verderben stürzte, weil er gewissermaßen an unserer Statt gesündigt hätte. Denn Paulus sagt ausdrücklich, der Tod sei zu allen Menschen hindurch gedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben. „Sündigen“ heißt hier: Verderben und Schlechtigkeit an sich tragen. Denn jene natürliche Verkehrtheit, die uns von Mutterleibe her anhaftet, ist vor Gott Sünde und verdient seine Strafe, wenn auch ihre Früchte nicht sofort sichtbar werden. Es handelt sich also um die so genannte Erbsünde. Als Adam geschaffen ward, schenkte Gott ihm die Gaben seiner Gnade für ihn und seine Nachkommen; als er vom Herrn abfiel, hat er in der seinigen auch unsere Natur in Verderben, Schlechtigkeit und Verkehrtheit hinab gezogen. Losgelöst von Gottes Ebenbilde konnte er nur eine Nachkommenschaft erzeugen, die ihm auch in diesem Stücke ähnlich war. Wir haben also alle gesündigt, weil wir alle in dem Verderben der Natur stecken und deshalb schlecht und untüchtig sind. Denn was die Pelagianer
(Anhänger des Mönchs Pelagius gest. etwa im Jahre 420 -, welcher eine so weitgehende Freiheit des menschlichen Willens lehrte, dass jeder Einfluss sowohl der verderbten Natur als auch der göttlichen Gnade ausgeschlossen erscheint. Jeder einzelne Mensch soll seinen Fall wie seine Erneuerung lediglich dem eignen sittlichen Entschluss zuschreiben. Gegen diese Lehre, welche die Grundlage des christlichen Erlösungsglaubens zerstört, und deren Spuren in der rationalistischen Denkweise wiederkehren, ist namentlich Augustinus aufgetreten.) einst in Widerspruch mit dem Satze des Paulus vorgetragen haben, ist ein albernes Gerede: es soll nämlich lediglich dadurch die Sünde sich über das ganze Menschengeschlecht verbreitet haben, dass jeder einzelne Mensch ebenso in Sünde gefallen ist wie Adam. Dabei würde aber auch Christus nur als Vorbild, nicht als Urheber unserer Gerechtigkeit dastehen. Weiter ist klar, dass Paulus von der Tatsünde hier gar nicht redet. Denn wenn jeder sich die Schuld persönlich zuziehen sollte, dürfte ja Adam nicht mit Christus in Vergleich gestellt werden. Also denkt der Apostel hier an die angeborene Erbsünde.
V. 13. Bis auf das Gesetz. Diese Worte kommen einem Einwurf zuvor. Da es nämlich ohne Gesetz keine Übertretung zu geben scheint, so konnte der Zweifel erhoben werden, ob denn vor dem Gesetz bereits Sünde vorhanden gewesen sei. Dass sie nach dem Gesetz vorhanden war, verstand sich von selbst: nur wegen der Zeit vor Erlass des Gesetzes blieb die Frage unentschieden. Deshalb stellt Paulus fest, dass das Menschengeschlecht auch damals schon, und zwar von Mutterleibe an, unter dem Fluch gestanden, obwohl noch kein geschriebenes Gesetz Gottes das Urteil sprach. Vollends kann für diejenigen keine Entschuldigung gelten, welche vor Erlass des Gesetzes in groben Sünden und Lastern gelebt haben. Denn von jeher existierte der Gott, welchem Ehre gebührte, und immer gab es irgendeine Regel der Gerechtigkeit. Diese Auslegung ist so klar und glatt, dass abweichende Ansichten damit von selbst hinfallen.
Wo kein Gesetz ist, da achtet man der Sünde nicht. Ohne das Drohen des Gesetzes schlafen wir sozusagen auf unsern Fehlern ein. Dabei sündigen wir fort und fort: aber wir übertäuben, soviel an uns ist, die sich aufdrängende Erkenntnis des Bösen und suchen so schnell wie möglich zu vergessen. Endlich aber überführt und straft uns das Licht, es stößt uns gewissermaßen, um uns wach zu machen, und will das Gericht Gottes in unser Gedächtnis zurückrufen. Der Apostel sagt also: wie die Menschen nun einmal in ihrer Verkehrtheit stecken, bedürfen sie der Erweckung durch das Gesetz; ohne diese verwischen sie den Unterschied von Gut und Böse zu einem guten Teile und lassen sich in ruhiger Sicherheit gehen, als gäbe es kein Gericht Gottes. Dass übrigens Gott der Sünde wohl geachtet und sie den Menschen angerechnet habe, dafür steht die Strafe Kains ein, ferner die Sintflut, welche die ganze Erde überflutete, das Gericht über Sodom, die um Abrahams willen über Pharao und Abimelech verhängten Strafen. Auch die Menschen haben gegenseitig ihre Sünde geachtet und haben sie einander zugerechnet: dafür zeugen die mannigfachen Klagen und Streitereien, in welchen die einen den andern ihre Ungerechtigkeiten vorwerfen, und wiederum der Eifer, mit welchem sie ihre Taten zu rechtfertigen suchen. Endlich befasst auch jeder für sich ein Bewusstsein von Gut und Böse, wofür viele Beispiele sich beibringen ließen. Aber meistens nahmen sie es mit ihren Fehlern leicht, so dass sie ohne besonderen Zwang der Sünde nicht achteten. Wenn also der Apostel sagt: „Wo kein Gesetz ist, da achtet man der Sünde nicht“ -, so meint er dies nur verhältnismäßig: die Menschen versinken in Sorglosigkeit, wenn sie kein Stachel des Gesetzes trifft.
V. 14. Doch herrschte der Tod von Adam an. Hier wird es vollends deutlich, dass den Menschen von Adam an bis zum Erlass des Gesetzes ihr leichtsinniges und sicheres Leben, in welchem sie sich über den Unterschied von Gut und Böse hinwegsetzen wollten, nichts genützt hat. War auch ohne die Mahnungen des Gesetzes die Erinnerung an die Sünde begraben, so trug die Sünde selbst doch ihre Frucht zur Verdammnis. Darum hat auch damals der Tod geherrscht; denn der Menschen Blindheit und Verstockung konnte Gottes Gericht nicht aufhalten. Auch über die, die nicht gesündigt haben mit gleicher Übertretung wie Adam. Dieser Satz pflegt gewöhnlich beigebracht zu werden, um zu beweisen, dass auch die kleinen Kinder, die noch keine Tatsünden begangen haben, um der Erbsünde willen in die Verdammnis gehen. Aber der Zusammenhang weist darauf hin, dass von solchen die Rede ist, welche vor dem Gesetz und ohne dasselbe gesündigt haben, und welche deshalb ihrer Sünde nicht achteten. Diese Leute haben nicht mit gleicher Übertretung wie Adam gesündigt, weil ihnen kein deutlicher Befehl den Willen Gottes vor Augen stellte. Dem Adam hatte Gott befohlen, vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen nicht zu essen. Die folgenden Geschlechter aber besaßen kein Gebot außer dem Zeugnis des Gewissens. Der Apostel will also zu verstehen geben, dass dieser Unterschied zwischen Adam und seinen Nachkommen für die Frage der Schuld und Verdammnis gar nichts austrägt. Unter diesen allgemeinen Grundsatz fallen dann allerdings auch die Kinder.
Welcher ist ein Bild des, der zukünftig war. Diese Worte bringen dem Sinne nach das zweite Glied des vorher (V. 12) abgebrochenen Vergleichs. Paulus wollte etwa schreiben: Wie durch einen Menschen die Sünde in die ganze Welt gekommen ist, und durch die Sünde der Tod -, so kehrte durch einen Menschen die Gerechtigkeit wieder, und durch die Gerechtigkeit das Leben. Dass er aber Adam als ein Abbild Christi bezeichnet, lässt sich wohl begreifen: denn auch bei dem stärksten Gegensatz bleibt eine bestimmte Übereinstimmung. Denn wie durch Adams Sünde alle verderbt wurden, so bringt Christi Gerechtigkeit für alle eine Wiederherstellung. Es ist aber zu beachten, dass Adam nicht als Urbild der Sünde und Christus nicht als Urbild der Gerechtigkeit bezeichnet wird -, als ob sie uns nur mit ihrem Beispiel vorangingen! Es wird vielmehr Adam mit Christus, Christus mit Adam verglichen.
15 Aber nicht verhält sich´ s mit der Gabe wie mit der Sünde. Denn so an eines Sünde viele gestorben sind, so ist vielmehr Gottes Gnade und Gabe vielen reichlich widerfahren durch die Gnade des einen Menschen Jesus Christus.
Aber nicht verhält sich´ s mit der Gabe usw. Jetzt schränkt der Apostel den Vergleich zwischen Adam und Christus ein, indem er in mehrfach wiederkehrenden Wendungen auch die Verschiedenheit heraushebt. Dabei fehlt des der Rede an Vollständigkeit und glattem Fluss. Doch tut dies der Majestät der himmlischen Weisheit, welche der Apostel zu lehren hat, keinen Eintrag. Vielmehr hat es Gottes unvergleichliche Vorsehung so geordnet, dass die höchsten Geheimnisse sich unter verwunderlich geringen Worten bergen müssen: so ruht unser Glaube nicht auf der Gewalt menschlicher Rede, sondern allein auf der Kraft des Geistes. Indem nun Paulus den Unterschied feststellt, will er nicht sagen, dass Christus etwa eine größere Zahl von Menschen gerettet, als Adam ins Verderben gestürzt, sondern: da Adams Sünden vielen das Verderben gebracht, so wird Christi Gerechtigkeit nicht geringere Kraft besitzen, um vielen das Heil zu schaffen. Gottes Gnade und Gabe. „Gnade“ steht der Sünde gegenüber, die „Gabe“, welche aus der Gnade hervorgeht, dem Tode. Darum bezeichnet hier „Gnade“ die freie Güte Gottes, die unverdiente Liebe, welche er uns in Christus zugewendet, um unserm Elend zu Hilfe zu kommen. Die „Gabe“ aber ist die Frucht der Barmherzigkeit, die uns erwächst: die Versöhnung, welche uns Leben und Heil bringt, Gerechtigkeit, neues Leben usw. Dabei spricht der Apostel von der Gnade des einen Menschen Jesus Christus, weil ihn der Vater als ein Quell verordnet hat, aus dem wir alle schöpfen sollen. Außer Christus lässt sich kein Tropfen Leben finden, und ein anderes Heilmittel für unsere Dürftigkeit und Leere, als dass Christus uns mit seinem Überfluss erfülle, gibt es nicht.
16 Und nicht ist die Gabe allein über eine Sünde, wie durch des einen Sünders eine Sünde alles Verderben. Denn das Urteil ist gekommen aus einer Sünde zur Verdammnis; die Gabe aber hilft auch aus vielen Sünden zur Gerechtigkeit.
Hier wird der eigentliche Grund ersichtlich, welcher den Apostel zur Einschränkung des Vergleichs veranlasste: die Schuld einer einzigen Sünde reichte aus, um über uns alle die Verdammnis zu bringen, aber die Gnade oder vielmehr das Geschenk der Gnade erwies sich wirksam zur Freisprechung von vielen Sünden. Unser Satz erklärt also erst vorangegangenen, welcher ja noch nicht völlig deutlich ausgesprochen hatte, inwiefern der Ertrag der Gnade Christi reichlicher war (V. 15), als die Folge der Sünde Adams. Aus vielen Sünden erlöst uns Christus, nicht bloß aus der Erbsünde oder den vor der Taufe begangenen Tatsünden, sondern alle Sünden sind eingeschlossen, mit welchen die Heiligen sich täglich neue Schuld zuziehen, welche auch ohne Zweifel zur Verdammnis führen müssten, wenn die Gnade sie nicht fortwährend deckte. „Urteil“ und „Gabe“, welche in Gegensatz gestellt werden, bezeichnen die Strenge des göttlichen Gerichts und andererseits die unverdiente Verzeihung. Denn die Strenge wirkte Verdammnis, die Verzeihung Freispruch. Mit andern Worten: wollte Gott nach strengem Recht handeln, so müssten wir alle verloren werden -, aber er spricht uns aus Gnaden in Christus gerecht.
17 Denn so um des einen Sünde willen der Tod geherrscht hat durch den einen, viel mehr werden die, so da empfangen die Fülle der Gnade und der Gabe zur Gerechtigkeit, herrschen im Leben durch einen, Jesum Christum.
Die vorige Aussage, dass die Gnade weiter reiche als die Sünde, empfängt einen neuen Beleg. Der Apostel kann eben Gottes Gnade nicht genug rühmen: er will die Menschen vom Vertrauen auf sich selbst zu Christus führen; in seiner Gnade sollen sie sicher ruhen und endlich den Antrieb zur Dankbarkeit empfangen. Der Hauptgedanke des Apostels lautet: Christus siegt über Adam. Denn Christi Gerechtigkeit überwindet Adams Sünde; Christi Gnade dämpft Adams Fluch; Christi Leben verschlingt den Tod, welchen Adam uns zugezogen. Übrigens stimmen die Glieder auch dieses Vergleichs nicht völlig überein. Paulus hätte sagen müssen: viel mehr herrscht die Gabe des Lebens vermöge der Fülle der Gnade; er sagt aber: die Gläubigen werden herrschen. Sachlich ist ja dies einerlei: denn die Herrschaft der Gläubigen im Leben ist auch die Herrschaft des Lebens in den Gläubigen. Übrigens lohnt es sich, noch einen doppelten Unterschied zwischen Christus und Adam anzumerken, welchen der Apostel nicht deshalb übergangen hat, weil er ihn für unbedeutend hielt, sondern weil er für den vorliegenden Zusammenhang weniger austrug. Zuerst: die Sünde Adams zieht uns die Verdammnis nicht zu, weil sie uns lediglich zugerechnet würde, so dass wir nur die Strafe für fremde Schuld trügen. Vielmehr stehen wir in selbst erworbener Schuld, und die auf Adam gelegte Strafe trifft uns, weil unsere Natur in ihm zum Bösen verkehrt ward und nun vor Gott schuldig dasteht. Aber Christi Gerechtigkeit schafft in anderer Weiser unser Heil: sie gehört uns nicht etwa deshalb, weil sie in uns wäre, sondern weil wir Christus mit allen seinen Gütern besitzen, welchen des Vaters Gnade uns geschenkt hat. „Gabe zur Gerechtigkeit“ bezeichnet also nicht einen Zustand, welchen Gott in uns herstellt, sondern die unverdiente Zurechnung der Gerechtigkeit. Der Apostel sagt damit nur genauer, was er unter „Gnade“ versteht. Zweitens: die Wohltat Christi kommt nicht in gleicher Weise allen Menschen zugute, wie Adam das Verderben über das gesamte Menschengeschlecht brachte. Doch der Grund hierfür liegt auf der Hand: der von Adam erworbene Fluch kommt auf dem Wege der Natur zu uns: er betrifft also notwendig die ganze Masse des Geschlechts. Um aber in die Gemeinschaft der Gnade Christi zu gelangen, müssen wir ihm durch den Glauben eingeleibt werden. Um also die Erbschaft des Sündenelends anzutreten, genügt es, ein Mensch zu sein: denn dieselbe hängt an Fleisch und Blut. Wer aber Christi Gerechtigkeit genießen will, muss gläubig sein: denn nur der Glaube erschließt Christi Gemeinschaft. Auch den Kindern kommt dieselbe auf keine andere Weise zu. Denn das Kindschaftsrecht, vermöge dessen sie in Christi Gemeinschaft stehen, ruht auf dem Gnadenbunde. Aber dies gilt doch nur von den Kindern der Gläubigen, welche in die Verheißung der Gnade einbegriffen sind: die andern stehen unter dem allgemeinen Lose der Menschheit.
18 Wie nun durch eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, also ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen.
Dieser Satz stellt das Gesamtergebnis des bisher erörterten Vergleiches dar. Die Verschiedenheit tritt jetzt beiseite, und die Übereinstimmung wird in ihrem entscheidendsten Stücke deutlich. Wie die Sünde des einen uns zu Sündern machte, so ist es Christi Gerechtigkeit allein, welche unsere Gerechtigkeit schafft. Christi Gerechtigkeit und Gehorsam kam nicht seiner Person allein zugute, sondern greift weit darüber hinaus und macht die Gläubigen reich, welche sie zum Geschenk empfangen. Ein Gemeinbesitz für alle Menschen ist die Gnade nun deshalb, weil sie für alle öffentlich ausgeboten ward, nicht etwa weil alle sie wirklich hinnähmen. Christus hat zwar für die Sünden der ganzen Welt gelitten, und alle empfangen unterschiedslos das Angebot der Güte Gottes: aber nicht alle nehmen es an. „Rechtfertigung des Lebens“, d. h. eine lebendig machende Rechtfertigung; so heißt das göttliche, uns freisprechende Rechtfertigungsurteil, weil es uns den Zutritt zum Leben eröffnet. Denn die Hoffnung der Seligkeit ruht darauf, dass wir einen gnädigen Gott haben: um ihn aber haben zu können, müssen wir gerecht sein. Also kommt das Leben aus der Rechtfertigung.
19 Denn gleichwie durch eines Menschen Ungehorsam viele Sünder geworden sind, also auch durch eines Gehorsam werden viele Gerechte.
Dieser Satz bildet nicht eine Wiederholung, sondern eine notwendige Erläuterung des vorigen. Denn er zeigt auf der einen Seite, dass die Verdammnis, welche die Schuld des einen Menschen uns zuzog, doch nicht ohne unsere Schuld über uns kommt. Zuvor hieß es (V. 18): die Verdammnis ist über alle Menschen gekommen. Dabei könnte noch jeder einzelne sich selbst allenfalls für schuldlos halten. Um diesen Gedanken abzuschneiden, fügt der Apostel hinzu: Die Verdammnis kam zu allen Menschen, weil sie alle Sünder waren. Wenn es auf der andern Seite heißt, dass wir durch Christi Gehorsam Gerechte werden, so schließen wir daraus, dass Christus uns die Gerechtigkeit erworben hat, weil er uns mit dem Vater versöhnt. So folgt: der Zustand wirklicher Gerechtigkeit findet sich in Christus, aber was ihm gehört, wird uns zugute gehalten. Zugleich beschreibt der Apostel Christi Gerechtigkeit genauer, indem er sie Gehorsam nennt. Dabei wollen wir bedenken, was wir alles vor Gottes Augen bringen müssten, wenn wir durch unsere Werke gerechtfertigt werden wollten. Ein nicht bloß teilweiser, sondern in allen Stücken vollkommener Gehorsam gegen Gottes Gesetz würde erforderlich sein. Denn wenn der Gerechte nur einmal fällt, so wird aller seiner vorigen Gerechtigkeit nicht mehr gedacht werden. Dabei werden auch alle selbst erwählten Werke nichts helfen, die Gott nur für Kot achtet. Denn Gehorsam ist besser als Opfer.
20 Das Gesetz aber ist neben eingekommen, auf dass die Sünde mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden, 21 auf dass, gleichwie die Sünde geherrscht hat zum Tode, also auch herrsche die Gnade durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesum Christum, unsern Herrn.
V. 20. Das Gesetz ist neben eingekommen usw. Der Gedanke an das Gesetz ergab sich notwendig daraus, dass Paulus zuvor ausgesprochen, schon vor Erlass des Gesetzes sei Sünde in der Welt gewesen (5, 13). Denn nun musste sofort die Frage aufsteigen, was denn das Gesetz ausrichten solle. Diese Schwierigkeit hätte schon an der früheren Stelle behoben werden sollen. Aber der Apostel wollte den Zusammenhang nicht unterbrechen. Jetzt trägt er die Lösung nach, aber auch nur flüchtig. Wenn es heißt, das Gesetz sei zwischeneingekommen, auf dass die Sünde mächtiger würde, so soll damit Nutzen und Wert des Gesetzes nicht etwa vollständig beschrieben sein: der Apostel greift lediglich eine Seite der Sache heraus, auf welche es im vorliegenden Zusammenhange ankommt. Er lehrt, dass für die göttliche Gnade Raum geschafft werden sollte und die Menschen deshalb zu tieferer Erkenntnis ihres Verderbens geführt werden mussten. Sie hatten ja längst vor dem Gesetz Schiffbruch erlitten, aber sie bildeten sich in ihrem Verderben ein, zu schwimmen: so mussten sie in die Tiefe getaucht werden, damit die Erlösung, die sie wider alles menschliche Begreifen von dort emporhebt, umso herrlicher erscheine. Man darf es auch keineswegs für unsinnig halten, dass ein Gesetz unter anderem auch dem Zwecke dienen soll, bereits verdammte Menschen noch einmal zu verdammen: denn nichts ist gerechter, als dass die Menschen auf alle Weise zur Erkenntnis ihres Übels geführt oder besser getrieben werden.
Auf dass die Sünde mächtiger würde. Vielfach versteht man dies Wort so, dass der Druck des Gesetzes die böse Lust nur noch mehr reize. Denn es liege in der Menschennatur, gegen Verbotenes sich aufzulehnen. Mir scheint indessen nur von dem Wachstum der Erkenntnis und Einsicht die Rede zu sein. Denn das Gesetz schiebt den Menschen ihre Sünde derartig unter die Augen, dass sie die ihnen bevorstehende Verdammnis notgedrungen sehen müssen. Die Sünde, welche man sonst unbeachtet hinter sich warf, ergreift nunmehr das Gewissen. Wer bisher nur einfach der Schranken der Gerechtigkeit übertrat, wird jetzt, seitdem es ein Gesetz gibt, zum Verächter des göttlichen Befehls, der ihm Gottes Willen bekannt machte: denn er tritt Gottes geoffenbarten Willen mit Füßen. So wird die Sünde durchs Gesetz gemehrt, weil das Ansehen des Gesetzgebers Verachtung und seine Majestät Herabsetzung erfährt.
Da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden. Nachdem die Sünde die Menschen im Abgrunde festgehalten, hat die Gnade Hilfe gebracht. Die Größe der Gnade tritt in ein umso helleres Licht, weil sie die überströmende Sünde so reichlich überflutet, dass sie die böse Flut nicht bloß bedeckt, sondern gänzlich verzehrt. Hier sollen wir lernen, dass das Gesetz uns nicht deshalb unsere Verdammnis vorhält, um uns darin zu lassen. Sondern nachdem wir unser Elend recht erkannt, sollen wir zu Christus empor gerichtet werden, welcher gekommen ist als ein Arzt der Kranken, ein Erlöser der Gefangenen, ein Tröster der Betrübten, ein Helfer der Unterdrückten (Jes. 61, 1).
V. 21. Auf dass, gleich wie die Sünde geherrscht hat usw. Wie die Sünde „der Stachel des Todes“ (1. Kor. 15, 56) heißt, weil der Tod nur um der Sünde willen ein Recht auf den Menschen hat, so macht sie ihre Kraft durch den Tod geltend. Deshalb heißt es, sie übe durch denselben ihre Herrschaft aus. Das zweite Satzglied entspricht nicht einfach dem ersten. Hätte dies der Fall sein sollen, so müsste es lauten: „Also auch herrsche die Gerechtigkeit durch Christus.“ Aber mit diesem einfachen Gegensatz wollte Paulus sich nicht begnügen: er schiebt noch das Wort „Gnade“ zwischenein um einzuprägen, dass in diesem Handel nichts an unserm Verdienst, sondern alles an dem freien Erbarmen Gottes hängt. Hatte der Apostel früher (5, 14) gesagt, dass der Tod selbst geherrscht habe, so schreibt er jetzt der Sünde die Herrschaft zu, doch so, dass deren Ziel und Ende der Tod ist. Und zwar heißt es: die Sünde hat geherrscht -, in der Vergangenheit. Damit soll gewiss nicht gesagt sein, dass sie aufgehört habe in denen zu herrschen, welche nur vom Fleisch und Blut geboren sind. Vielmehr wird die Zeit Adams und die Zeit Christi unterschieden. Sobald also in irgendeinem Menschen Christi Gnade ihr Regiment begonnen, hört die Herrschaft der Sünde und des Todes auf.
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Der Römerbrief - Kapitel 6
Johannes Calvin
1 Was wollen wir hierzu sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, auf dass die Gnade desto mächtiger werde? 2 Das sei ferne! Wie sollten wir in der Sünde wollen leben, der wir abgestorben sind?
V. 1. Was wollen wir hierzu sagen? In diesem ganzen Kapitel redet der Apostel davon, wie Christus fälschlich auseinander gerissen wird, wenn man behauptet, dass er uns seine Gerechtigkeit aus Gnaden schenke, ohne zugleich ein neues Leben zu wecken. Er kleidet diese fehlerhafte Ansicht in eine schroffe Form und stellt die Frage: ob man denn nicht der Gnade den größten Raum eröffne, wenn man ruhig an der Sünde hängen bleibt? Nichts geschieht ja leichter, als dass das Fleisch es sich unter irgendeinem Vorwande bequem macht. Und dann ersinnt der Satan allerlei Verleumdungen, um mit leichter Mühe die Lehre von der Gnade in üblen Ruf zu bringen. Denn da es für die menschliche Vernunft nichts Fremdartigeres gibt als die Predigt von der freien Gnade Christi, so kann es uns nicht überraschen, wenn unsere fleischliche Vernunft die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben zwar annimmt, dann aber die verkehrtesten Folgerungen daraus zieht. Wir können aber deshalb nicht ablassen, die Wahrheit zu bezeugen und dürfen von Christus nicht stille schweigen, weil er für viele ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses ist. Denn derselbe Christus, welcher den Gottlosen zum Fall wird, ist den Frommen zum Auferstehen gesetzt. Immerhin muss man unzeitigen Fragen zuvor kommen, damit nicht der Verdacht bestehen bleibt, dass die christliche Lehre Torheiten in sich schließe. Der Apostel beschäftigt sich nun mit dem geläufigsten Einwurf gegen die Predigt der göttlichen Gnade; nämlich: wenn es wahr wäre, dass Gottes Gnade den größten Raum für ihre Verzeihung findet, wo die größte Last der Sünde ist, so könne man ja nichts Nützlicheres ausdenken, als immer tiefer zu fallen und mit immer neuen Sünden Gottes Zorn zu reizen. Dabei müssten wir ja wohl am reichlichsten Gnade erfahren. Wie der Apostel diese Torheit widerlegt, werden wir alsbald sehen.
V. 2. Das sei ferne! Es könnte scheinen, als wollte dieser Ausruf den frevelhaften Unsinn ohne weitere Widerlegung einfach als solchen kennzeichnen. Andere Stellen aber (Röm. 3, 6; 9, 14; Gal. 2, 17; 3, 21) zeigen, dass Paulus diese Redewendung auch gebraucht, wo er keineswegs auf einen mitunter sehr ausführlichen Beweis verzichtet. So wird er auch hier alsbald den verleumderischen Einwurf gründlich widerlegen. Zunächst aber soll der Ausdruck des Abscheus dem Leser eine Empfindung davon erwecken, wie ungereimt es ist, dass Christi Gnade, die doch unsere Ungerechtigkeit heilen will, uns im Laster bestärken solle!
Wie sollten wir in der Sünde wollen leben, der wir abgestorben sind? Ein Beweis aus der Behauptung des Gegenteils. Wer nämlich sündigt, der lebt unbestreitbar der Sünde. Wir aber sind durch Christi Gnade der Sünde gestorben. Also ist es falsch, der Sünde, die Christus austilgt, noch eine Lebenskraft zu belassen. Denn der Tatbestand liegt so: wenn Gott die Gläubigen mit sich versöhnt, so schenkt er ihnen stets auch ein neues Leben. Ja, es ist der Zweck der Rechtfertigung, dass wir dann dem Herrn in Reinheit unseres Lebens dienen. Wenn uns Christus mit seinem Blute wäscht und durch sein Sühneopfer einen gnädigen Gott schafft, so gibt er uns zugleich Anteil an seinem Geiste, welcher die Erneuerung zu heiligem Leben schafft. Es würde also eine schlimme Verkehrung des Werkes Gottes bedeuten, wenn die in Christus geschenkte Gnade Gelegenheit bieten sollte, der Sünde neue Kräfte zuzuführen. Die Arznei nährt die Krankheit nicht, gegen welche sie gegeben wird. Übrigens müssen wir im Gedächtnis behalten, was schon früher kurz festgestellt wurde (zu 2, 11), dass Paulus hier nicht davon redet, in welchem Zustand uns Gott zur Gemeinschaft seines Sohnes beruft, sondern wie wir werden müssen, nachdem die freie Gnade uns zu Kindern Gottes angenommen hat.
3 Wisset ihr nicht, dass alle, die wir in Jesum Christum getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? 4 So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf dass, gleichwie Christus ist auferweckt von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln.
V. 3. Wisset ihr nicht usw. Der zuletzt ausgesprochene Gedanke, dass Christus in den Seinen der Sünde ein Ende mache, empfängt nun eine weitere Bestätigung durch den Nutzen der Taufe, welche uns in den Glauben an Christus einführt. Denn das ist ja außer Frage, dass wir in der Taufe Christus anziehen, und dass wir die Taufe empfangen, um mit Christus eins zu werden. Dazu fügt Paulus den andern Grundsatz, dass wir wahrhaft mit Christi Leib zusammenwachsen, wenn sein Tod in uns seine Frucht bringt. Und er lehrt, dass man bei der Taufe ganz besonders diese Gemeinschaft des Todes ins Auge fassen soll: denn dort wird uns nicht bloß die Abwaschung, sondern auch die Abtötung und das Sterben des alten Menschen vorgestellt. So ist offenbar, dass, sobald wir in Christi Gnade aufgenommen werden, die Wirkung seines Todes alsbald sich zeigen muss. Was aber diese Gemeinschaft mit dem Tode Christi bedeutet, folgt sofort.
V. 4. So sind wir ja mit ihm begraben. Jetzt beginnt der Apostel, vorläufig, wenn auch noch nicht vollständig, darzulegen, worauf unsere Taufe auf Christi Tod abzielt: dass wir nämlich uns selbst absterben und neue Menschen werden. Denn von der Gemeinschaft des Todes führt eine notwendige Verbindung zur Teilnahme am Leben hinüber: der alte Mensch wird durch Christi Tod vernichtet, damit seine Auferstehung Gerechtigkeit begründe und uns zu neuen Kreaturen mache. Ward uns Christus zum Leben geschenkt, was sollte es dann nützen, mit ihm zu sterben, wenn wir nicht mit ihm zu besserem Leben auferstünden? Was in uns sterblich ist, tötet Christus nur dadurch, dass er uns wahrhaft neues Leben schenkt. Weiter gilt es festzustellen, dass der Apostel hier nicht eine einfache Ermahnung zur Nachfolge Christi ausspricht, als wäre Christi Tod ein bloßes Beispiel zur Nacheiferung für alle Christen. Die Meinung des Apostels geht viel tiefer: er trägt eine Lehre vor, aus welcher sich erst später die Ermahnung entfaltet. Diese Lehre lautet: Christi Tod hat Kraft, unser sündliches Fleisch niederzuhalten und zu töten, Christi Auferstehung aber, das neue Leben einer besseren Natur zu erwecken -, und die Taufe gibt uns Anteil an solcher Gnade. Damit erst ist ein festes Fundament gewonnen, auf welchem die Ermahnung Platz findet, dass die Christen ihres Berufes würdig wandeln sollen. Dass die beschriebene Kraft nicht in allen Getauften wirkt, verschlägt nichts: denn da Paulus zu Gläubigen spricht, so denkt er, wie er es immer tut, mit dem äußeren Zeichen dessen Wesen und Wirkung zusammen. Denn wir wissen ja, dass eben der Glaube zu Bestand und Geltung bringt, was Gott in sichtbarem Zeichen anbietet. In Summa: Paulus lehrt, was die recht empfangene Taufe wahrhaftig nützt. So heißt es auch Gal. 3, 27 ganz allgemein: „Wie viel euer auf Christus getauft sind, die haben Christus angezogen.“ So lässt sich mit Recht reden, wo Gottes Ordnung und der Glaube der Frommen aufeinander treffen. Leere und bloße Zeichen sind nur da, wo unsere Undankbarkeit und böser Wille das Wirken der göttlichen Gnade hindert.
Durch die Herrlichkeit des Vaters, d. h. durch seine unvergleichliche Kraft, durch welche er seine Herrlichkeit und Majestät offenbart. In dieser erhabenen Weise rühmt die Schrift häufig Gottes Macht, die in Christi Auferstehung kundgeworden ist. Es bedarf für uns eines so eindrücklichen Hinweises auf Gottes einzigartige Kraft, damit der Glaube nicht nur an die letzte Auferstehung, welche alles Begreifen übersteigt, sondern auch an die übrigen Früchte der Auferstehung Christi gestärkt werde.
5 So wir aber samt ihm gepflanzt werden zu gleichem Tode, so werden wir auch seiner Auferstehung gleich sein, 6 dieweil wir wissen, dass unser alter Mensch samt ihm gekreuzigt ist, auf dass der sündliche Leib aufhöre, dass wir hinfort der Sünde nicht dienen.
V. 5. Gepflanzt werden zu gleichem Tode. Der bisher vorgetragene Beweis wird mit deutlicheren Worten weitergeführt. Das jetzt gebrachte Gleichnis schließt jede Unsicherheit aus: wo von „Einpflanzung“ die Rede ist, handelt es sich nicht bloß um Vorbild und Nachfolge, sondern um eine geheimnisvolle Verbindung, vermöge deren wir mit Christus so zusammenwachsen, dass sein Geist als unser Lebenssaft seine Tugenden in uns wirksam werden lässt. Der Nachdruck liegt nicht darauf, dass wir mit eigner Anstrengung leisten sollen, was Gott von uns fordert, sondern auf dem, was Gott tut, wenn er mit eigner Hand die Einpflanzung vollzieht. Wie das Pfropfreis mit dem Baume, in welchen man es eingesenkt, Tod und Leben teilt, so verstehen wir, dass wir in gleicher Weise an Christi Leben und Tod teilhaben. Sind wir mit Christus gepflanzt zu gleichem Tode und ist Christi Tod nicht ohne Auferstehung geblieben, so wird auch unserm Tode die Auferstehung nicht fehlen. Übrigens können die Worte in doppelter Weise verstanden werden. Entweder: Christus eingepflanzt, so dass dabei eine Ähnlichkeit mit seinem Tode zustande kommt; oder, was ungezwungener dem griechischen Wortlaut entspricht: eingepflanzt zur, d. h. in die Ähnlichkeit seines Todes, mit derselben zusammengewachsen. Sachlich bedeutet dies aber keinen Unterschied. Von Ähnlichkeit oder Gleichgestalt des Todes soll nach einigen Auslegern hier ganz in dem Sinne die Rede sein, wie es (Röm. 8, 3; Phil. 2, 1) von Christus heißt, er sei in der Gestalt des Fleisches oder gleich wie ein anderer Mensch erschienen. Ich glaube jedoch, dass der Sinn des Wortes hier noch eine besondere Schattierung aufweist. Das Wort „Ähnlichkeit“ deutet an, dass nicht eine volle Übereinstimmung, sondern nur eine gewisse Parallele zwischen Christi leiblichem Tode und unserm Sterben mit ihm obwaltet: wie Christus in dem Fleische starb, welches er von uns genommen hat, so sterben wir in uns, um in ihm zu leben. Es ist nicht derselbe, sondern ein ähnlicher Tod: eine gewisse Gleichartigkeit zwischen dem Absterben des zeitlichen Lebens und der geistlichen Erneuerung soll ins Auge gefasst werden. Übrigens ist es unerlaubt, den Vergleich bis in seine letzten Konsequenzen durchzutreiben. Wollte man dies versuchen, so würde sich alsbald ein bedeutender Unterschied zwischen dem Pfropfen der Bäume und unserer geistlichen Einpflanzung in Christus ergeben. Natürlicherweise zieht das Pfropfreis seine Nahrung aus der Wurzel, behält aber die Eigenart seiner ursprünglichen Früchte. Geistlicherweise aber ziehen wir aus Christus nicht bloß Kraft und Lebenssaft, sondern wir gehen aus unserer Natur in die seinige über. Der Apostel wollte nur im Allgemeinen die Wirkungskraft des Todes Christi beschreiben, welche in dem Absterben unseres Fleisches zur Erscheinung kommt, wie auch die Macht der Auferstehung, die neue geistliche Natur zu erwecken.
V. 6. Dass unser alter Mensch usw. Vom „alten“ Menschen, wie auch vom „Alten“ Bunde, spricht man im Gegensatz zum Neuen. Der alte Mensch fängt an alt zu werden, wenn die beginnende Erneuerung ihn allmählich ums Leben bringt. Gemeint ist unser ganzes natürliches Wesen, welches uns vom Mutterleibe her anhängt, welches so wenig in Gottes Reich eingehen kann, dass es in demselben Maße vergehen muss, als das wahre Leben in uns wächst. Dieser alte Mensch ist mit Christus gekreuzigt, weil er durch Christi Kraft und namentlich durch die Gemeinschaft seines Todes den Todesstoß empfängt. „Gekreuzigt“ schreibt ja der Apostel nicht etwa, um weniger zu sagen als „getötet“, und um auszudrücken, dass in irgendeinem Grade der alte Mensch noch lebt. Das würde einen an sich ganz richtigen, aber im vorliegenden Zusammenhange völlig unpassenden Gedanken ergeben. Der sündliche Leib, von welchem Paulus redet, kommt nicht in Betracht, sofern er Fleisch und Bein ist, sondern nach seiner Naturart: der seiner Natur überlassene Mensch ist ein Gebilde von lauter Sünde. Als Zweck der Abtötung wird verzeichnet: dass wir hinfort der Sünde nicht dienen. Daraus ergibt sich die Folgerung, dass, solange wir Kinder Adams und nichts als natürliche Menschen sind, wir dermaßen in der Knechtschaft der Sünde stehen, dass wir nicht anders können, als sündigen. Erst die Einpflanzung in Christus befreit uns von diesem elenden Zwang -, nicht als ob alle Sünde sofort ein Ende hätte, aber so, dass wir doch endlich den Sieg gewinnen werden.
7 Denn wer gestorben ist, der ist gerechtfertigt von der Sünde. 8 Sind wir aber mit Christo gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, 9 und wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod wird hinfort über ihn nicht herrschen. 10 Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben zu einem Mal; was er aber lebt, das lebt er Gott. 11 Also auch ihr, haltet euch dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott in Christo Jesu, unserm Herrn.
V. 7. Denn wer gestorben ist usw. Der Beweis gründet sich auf die Natur und Wirkung des Todes. Wenn der Tod alle Regungen des Lebens still stellt, so müssen wir, die wir der Sünde gestorben sind, von den Regungen frei sein, welche dieselbe verspüren ließ, solange sie noch lebte. Gerechtfertigt heißt soviel wie freigesprochen und von der Knechtschaft erlöst. Denn wie der Freispruch des Richters den Angeklagten aller weiteren Last entledigt, so befreit uns der Tod von allen Verbindlichkeiten dieses Lebens, von welchen er uns loslöst. Das, was der Apostel hier schildert, findet sich nun freilich erfahrungsgemäß nirgends vollkommen vor. Dennoch hören wir hier keineswegs bloß eine leere Spekulation. Auf der andern Seite dürfen wir auch nicht verzagen, wenn wir nicht finden können, dass unser Fleisch schon völlig gekreuzigt sei. Denn dieses Werk Gottes wird nicht am ersten Tage, an welchem es anhebt, alsbald auch zu Ende geführt, sondern es wächst allmählich und erreicht in täglicher Zunahme sein Ziel. Als Ergebnis wollen wir demgemäß festhalten: wer ein Christ ist, an dem müssen Anzeichen seiner Gemeinschaft mit dem Tod Christi sichtbar werden, deren Frucht ist, dass wir unser Fleisch gekreuzigt haben samt den Lüsten und Begierden. Im Übrigen wollen wir diese Gemeinschaft nicht deshalb als nicht vorhanden ansehen, weil wir spüren, dass die Reste des Fleisches sich noch regen. Vielmehr sollen wir eifrigst auf Fortschritte bedacht sein, bis wir das Ziel erreicht haben. Es ist gut, dass unser Fleisch fortwährend getötet werde, und es ist kein geringer Fortschritt, wenn es sein Herrschaftsgebiet mehr und mehr dem Heiligen Geist abtreten muss. Es gibt auch noch eine andere Gemeinschaft des Todes Christi, von welcher Paulus öfters, namentlich 2. Kor. 4 redet: das Tragen des Kreuzes, welchem die Gemeinschaft des ewigen Lebens folgt.
V. 8. Sind wir aber mit Christus gestorben usw. Diesen Gedanken wiederholt der Apostel, um eine Anknüpfung für den V. 9 folgenden Ausspruch zu gewinnen, dass Christus, einmal von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt. Damit soll eingeprägt werden, dass das Streben nach einem neuen Leben einen Christen sein ganzes Leben lang beherrschen muss. Denn wir sollen Christi Bild an uns tragen sowohl in der Abtötung des Fleisches als auch im Leben des Geistes: die erstere muss einmal für alle Zukunft geschehen sein, das letztere muss in aller Zukunft Bestand behalten. Nicht, wie wir schon gesagt haben, als ob unser Fleisch in einem Augenblick stürbe: aber wir dürfen in der Abtötung desselben nicht wieder rückwärts gehen. Denn wenn wir wieder in unsern Unflat versinken, verleugnen wir Christus. Seine Genossen können wir nur durch ein erneuertes Leben sein, wie er denn selbst ein unvertilgliches Leben besitzt: der Tod wird hinfort über ihn nicht herrschen. Darin scheint zu liegen, dass der Tod einmal über Christus geherrscht habe. Und in der Tat ist der Herr, als er sich in den Tod dahingab, demselben in gewisser Weise gewichen und ist seiner Macht unterworfen gewesen, doch so, dass des Todes Schmerzen ihn nicht halten oder verschlingen konnten. Er hat selbst den Tod verschlungen ewiglich, da er sich seiner Herrschaft für einen Augenblick unterwarf. In Summa: Christus, der jetzt seine Gläubigen mit seinem Geiste lebendig macht und ihnen sein Leben durch geheimnisvolle Kraft vom Himmel her einflößt, hat durch seine Auferstehung die Herrschaft des Todes überwunden, um alle die Seinen vom Tode frei zu machen.
V. 10. Er ist der Sünde gestorben zu einem Mal. Wenn es soeben hieß, dass Christi Vorgang uns für immer vom Joch des Todes befreit habe, so wird diese Wahrheit jetzt in den Dienst des eigentlichen Hauptgedankens gestellt, dass wir mit der Knechtschaft der Sünde fortan nichts mehr zu schaffen haben. Zum Beweise für diesen Hauptgedanken dient nämlich die Erinnerung an den Zweck des Todes Christi: Christus ist gestorben, um der Sünde ein Ende zu machen. Die Form der Rede müssen wir nun so verstehen, wie es in Rücksicht auf Christus allein möglich ist. Der Apostel kann nicht sagen wollen, Christus sei der Sünde gestorben, so dass er nun zu sündigen aufhöre. Dergleichen würde nur auf uns zutreffen. In Bezug auf Christus haben wir daran zu denken, dass er den Tod erlitten hat um der Sünde willen, damit er mit seinem Lösegeld Kraft und Recht der Sünde zunichte mache. Sagt der Apostel nun: Christus ist gestorben zu einem Mal -, so denkt er daran, dass er mit einem Opfer eine ewige Erlösung erworben und mit dem Vergießen seines Blutes die Gläubigen in Ewigkeit geheiligt hat (Hebr. 10, 12.14). Und dieses „zu einem Male“ soll auch in unserm neuen Leben zur Erscheinung kommen. Mag das geistliche Absterben in uns immerhin in allmählichem Fortschritt vor sich gehen -, die eigentliche Entscheidung fällt doch zu einem Male, wenn Christus, der mit seinem Blute uns dem Vater versöhnt, uns durch die Kraft seines Geistes zugleich die Wiedergeburt zum neuen Leben schenkt.
Was er aber lebt, das lebt er bei oder in Gott. Mag man die eine oder die andere Verdeutlichung vorziehen, der Sinn ist in jedem Falle: Christus lebt in Gottes ewigem und unvergänglichem Reiche ein über jeden Tod erhabenes Leben, dessen Abglanz in dem wiedergeborenen Leben der Frommen zu Erscheinung kommen muss. Dabei handelt es sich abermals nicht um bloße Nachahmung Christi, sondern um das Wirken seiner Gnade. Der Apostel sagt nicht: ihr seid mit Christus gestorben, also müsst ihr auch mit ihm leben. Sondern er redete V. 8 vom Glauben. Und der Glaube stützt sich immer auf göttliche Zusagen. So sollen die Frommen glauben: Sind wir durch Christi Gnade dem Fleische abgestorben, so wird derselbe Christus die Erneuerung unseres Lebens auch zu Ende führen. Heißt es aber (V. 8): Wir werden mit Christus leben, so will diese Zukunftsform uns nicht etwa bloß auf die letzte Auferstehung vertrösten, sondern uns den stetigen Fortschritt unseres Lebens für alle Zukunft vor Augen stellen.
V. 11. Haltet euch dafür usw. Jetzt kommt unsere Gleichgestaltung mit Christi Tod und Leben zu besonders deutlichem Ausdruck. Ist Christus einmal der Sünde gestorben und lebt er nun in Ewigkeit für Gott, so wendet der Apostel diese beiden Stücke auf uns an und zeigt, wie wir in diesem Leben sterben können, wenn wir der Sünde entsagen. Und auch dies vergisst Paulus nicht zu betonen, dass, wenn unser Glaube nur einmal Christi Gnade ergriffen hat, die Macht der Sünde einen derartigen Stoß empfing, dass das von Gott geschenkte geistliche Leben in alle Zukunft Bestand behalten muss. Mag dabei immerhin die Abtötung des Fleisches nur anfangs weise vorhanden sein. Hätte aber Christus die Sünde in uns nicht ein für allemal getötet, so würde es seiner Gnade an Kraft und Beständigkeit fehlen. Die Worte wollen uns zurufen: Haltet dafür, dass auch in euch geschehen sei, was Christus erfahren hat! Er ist einmal gestorben zur Vernichtung der Sünde: so seid auch ihr gestorben, so dass ihr nun ablasset, der Sünde zu dienen. Also müsst ihr in der begonnenen Abtötung täglich fortfahren, bis die Sünde gänzlich getilgt ist. Wie Christus erweckt ward zu unvergänglichem Leben, so seid auch ihr durch Gottes Gnade in ein neues Leben hinein geboren, welches ihr nun in Heiligkeit und Gerechtigkeit führen sollt: denn die Kraft des Heiligen Geistes, die euch erneuert hat, ist ewig und unverwelklich. Diese Erneuerung ist geschehen in Christus Jesus, nicht bloß durch ihn. Wir sollen dessen gedenken, dass wir in Christus eingepflanzt und dadurch mit ihm eins geworden sind.
12 So lasset nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, ihr Gehorsam zu leisten in seinen Lüsten. 13 Auch begebet nicht der Sünde eure Glieder zu Waffen der Ungerechtigkeit, sondern begebet euch selbst Gott, als die da aus den Toten lebendig sind, und eure Glieder Gott zu Waffen der Gerechtigkeit.
V. 12. So lasset nun die Sünde nicht herrschen. Jetzt erst beginnt die eigentlich ermahnende Rede, die sich nunmehr wie von selbst aus der vorgetragenen Lehre von unserer Lebensgemeinschaft mit Christus ergibt: mögen die Reste der Sünde noch in uns sein, so wäre es doch ungereimt, dass die Sünde noch ihre ungebrochene Herrschaft ausüben sollte. Die Kraft der Heiligung muss ihrer Herr werden, damit man an unserm Leben spüren kann, dass wir wahre Glieder Christi sind. Dass bei dem sterblichen Leibe nicht an Fleisch, Haut und Knochen zu denken ist, sondern an das gesamte sündige Menschenwesen, daran ist oben schon erinnert worden (V. 6). Hier wird dies vollends deutlich; denn das zweite Satzglied nimmt vom Leibe den Übergang zur Seele. Paulus beschreibt das Wesen des alten Menschen, als ob er ganz Fleisch wäre: so groß ist das Verderben unserer Natur, dass nichts übrig blieb, was ihres ersten Ursprungs aus Gott noch würdig wäre. So lässt auch Gottes Spruch 1. Mose 6, 3, welcher darüber klagt, dass die Menschen Fleisch geworden wie das unvernünftige Vieh, uns nur noch irdische Bestandteile übrig bleiben. Eben dahin zielt Christi Wort (Joh. 3, 6): „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch.“ Wollte man demgegenüber sagen, dass wir uns doch immerhin noch im Besitze einer höher gerichteten Seele befänden, so bedeutet dies nichts. Denn in unserm gegenwärtigen Verderben ist unsere Seele derartig an die Erde gebunden und dem Leibe untertan, dass sie ihres ursprünglichen Vorzugs verlustig ging. Auch deshalb heißt die Menschennatur „Leib“, weil sie ohne die göttliche Gnade nur ein trügerischer Schatten, ein vergängliches Nebelgebilde ist. Dazu bezeichnet Paulus solchen Leib verächtlich als „sterblich“: So wird vollends anschaulich, wie unsere ganze Natur zu Tod und Vergänglichkeit neigt. Unter der Sünde, die nicht herrschen soll, wird die angeborene Verkehrtheit des Gemütes verstanden, die uns zum Sündigen treibt und aus welcher recht eigentlich alle Übeltaten und Laster hervorquellen. Zwischen ihr und uns stehen die Lüste des Leibes: die Sünde ist die Königin, die Lüste sind ihre Erlasse und Befehle.
V. 13. Auch begebet nicht eure Glieder usw. Wo die Sünde einmal die Herrschaft über die Seele gewonnen hat, da werden alle unsere Glieder fortwährend in ihren Dienst gezogen. Deshalb beschreibt der Apostel hier die Herrschaft der Sünde nach ihren Folgen, um uns eine desto bessere Anleitung zu geben, ihr Joch abzuwerfen. Wenn unsere Glieder „Waffen“ heißen, so ist dies Gleichnis dem Kriegswesen entlehnt: Wie der Soldat seine Waffen stets bereit hält, um sie zu brauchen, wann der Feldherr es befiehlt, und wie er sie ohne dessen Anordnung niemals braucht -, so müssen die Christen alle ihre Glieder als Waffen in einem geistlichen Kriege ansehen. Missbrauchen sie irgendein Glied zu verkehrtem Wesen, so dienen sie der Sünde. Sie haben aber Gott und Christus den Fahneneid geleistet; daran sind sie gebunden. Folglich müssen sie jeden Verkehr mit dem Feldlager der Sünde abbrechen. Wie schändlich missbrauchen also den christlichen Namen, die ihre Glieder als Satans Buhldirnen allezeit bereithalten, jegliche Scheußlichkeit auszuüben! Demgegenüber verlangt der Apostel, dass wir uns völlig dem Herrn zur Verfügung stellen sollen. Wir sollen unserm Sinn und Geist alle Abschweifungen versagen, zu welchen die Lüste des Fleisches uns verleiten wollen, und allein auf Gottes Wink schauen, bereit, seine Befehle zu empfangen, gerüstet, seinen Willen zu tun. Unsere Glieder sollen dem Dienste Gottes geweiht und geheiligt sein, so dass alle Kräfte Leibes und der Seele nichts anderes suchen als Gottes Ehre. Dafür gibt der Apostel noch einmal den Grund an: als die da aus den Toten lebendig sind. Denn nicht vergeblich hat Gott unser altes Leben getötet und uns zu einem neuen erweckt, welches ja nicht ohne Lebensbewegungen bleiben kann.
14 Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr nicht unter dem Gesetze seid, sondern unter der Gnade. 15 Wie nun? Sollen wir sündigen, dieweil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind? Das sei ferne! 16 Wisset ihr nicht: welchem ihr euch begebet zu Knechten in Gehorsam, des Knechte seid ihr, dem ihr gehorsam seid, es sei der Sünde zum Tode oder dem Gehorsam zur Gerechtigkeit? 17 Gott sei aber gedankt, dass ihr Knechte der Sünde gewesen seid, aber nun gehorsam geworden von Herzen dem Vorbilde der Lehre, welchem ihr ergeben seid. 18 Denn nun ihr frei geworden seid von der Sünde, seid ihr Knechte geworden der Gerechtigkeit.
V. 14. Die Sünde wird nicht herrschen usw. Das ist ein Trost für die Gläubigen und eine Ermunterung, um der Erfahrung ihrer Schwachheit willen nicht im Eifer der Heiligung nachzulassen. Der Apostel hatte uns ermahnt, alle Kräfte für den Dienst der Gerechtigkeit einzusetzen. Da aber die Reste des Fleisches uns umgeben, kann es nicht ausbleiben, dass wir einigermaßen hinken. Damit wir nun unter dem Bewusstsein der Schwachheit nicht den Mut verlieren, kommt uns das Trostwort zu rechter Zeit zu Hilfe: Gott fordert nicht mehr Werke nach dem strengen Maßstabe des Gesetzes, sondern er nimmt gnädig und nachsichtig an, was wir bringen, weil die anhaftende Unreinigkeit unter der Vergebung steht. Das Joch des Gesetzes kann man nicht tragen, ohne sich daran zu stoßen und zu reiben: so bleibt nichts übrig, als dass die Gläubigen zu Christus fliehen, ihrem Erlöser aus der Knechtschaft. Er erweist sich als der Erlöser. Denn er ward unter das Gesetz getan, dem er doch sonst nicht verpflichtet war, um die zu erlösen, die unter dem Gesetze waren (Gal. 4, 5). Die Gnade, unter der wir stehen, begreift die beiden Teile der Erlösung in sich: die Vergebung der Sünden, kraft deren uns Gott Gerechtigkeit zurechnet, und die Erneuerung durch den Heiligen Geist, welche uns zu guten Werken tüchtig macht. Diese Gnade steht im Gegensatz zum Gesetz; weil wir unter ihr stehen, sind wir nicht mehr unter dem Gesetz. Nun liegt der Sinn des Satzes klar: Die Gläubigen dürfen bei aller Unvollkommenheit nicht verzagen und müde werden, Gutes zu tun. Mag uns die Sünde mit ihren Stichen noch verwunden: überwinden kann sie uns nicht, weil Gottes Geist uns den Sieg gibt und weiter, weil wir, durch Gnade gedeckt, frei sind von den harten Drohungen des Gesetzes. Dabei erscheint ohne weiteres vorausgesetzt, dass alle, welche nicht im Besitz der göttlichen Gnade sich befinden, unter dem Druck und der Verdammnis des Gesetzes liegen. Und daraus lässt sich wiederum schließen, dass, solange die Menschen unter dem Gesetze sind, sie auch von der Sünde beherrscht werden.
V. 15. Wie nun? usw. Wieder muss der Apostel einem Einwand begegnen: denn die Weisheit des Fleisches hängt nur zu leicht ihre Missverständnisse an Gottes Geheimnisse. Ist das Gesetz als Regel des sittlichen Lebens den Menschen zur Zucht gegeben, so scheint mit seiner Abschaffung alle Zucht zu fallen, jede Schranke zu weichen und der Unterschied von Gut und Böse zu verschwinden. Aber es ist eben ein Irrtum, zu glauben, dass mit der Abschaffung des Gesetzes auch die Gerechtigkeit nicht mehr gelte, welche Gottes Gesetz fordert. Die Gebote zum rechten Leben bleiben in Geltung: Christus hat sie nicht beseitigt, sondern feierlichst bestätigt. Die Lösung der Schwierigkeit liegt darin, dass nur der Fluch des Gesetzes aufgehoben ward, welchem außerhalb des Bereichs der Gnade alle Sterblichen unterliegen. Diese Lösung gibt Paulus nicht rund und klar -, er lässt sie nur auf Umwegen erschlossen werden.
Das sei ferne! V. 16. Wisset ihr nicht usw. Zu der entrüsteten Abweisung des frevelhaften Gedankens fügt Paulus auch einen Beweis dafür, dass Christus und der Dienst der Sünde in Widerstreit stehen und man nicht Christus und die Sünde zugleich haben kann. Sündigen wir, so begeben wir uns zu Knechten in den Gehorsam der Sünde. Nun aber sind die Gläubigen im Gegenteil erlöst von der Tyrannei der Sünde, damit sie Christus dienen: also ist es für sie eine Unmöglichkeit, an die Sünde gefesselt zu bleiben. Doch es wird nützlich sein, den einzelnen Sätzen dieser Beweisreihe nach Anleitung des Apostels genauer nachzudenken.
Des Knechte seid ihr, dem ihr d. h. weil ihr ihm gehorsam seid. Der Gehorsam liefert den Beweis dafür, dass der, welcher solchen Gehorsam erzwingt, ein Recht zum Befehlen hat. Sind wir Knechte der Sünde, so muss die Herrschaft wohl der Sünde zukommen. Oder dem Gehorsam zur Gerechtigkeit. Eine ungenaue Redeweise. Streng genommen hätte der Apostel sagen müssen: der Gerechtigkeit zum Leben. So erst wäre der Gegensatz scharf gewesen. Da aber der Gedanke auch so verständlich bleibt, wollte der Apostel mit dem Worte „Gehorsam“ zugleich daran erinnern, worin eigentlich die Gerechtigkeit besteht. „Gehorsam“ schlechthin, ohne genauere Bestimmung, kann dabei gesagt werden, weil die Gewissen zuletzt an Gott allein gebunden sind und es einen andern Gehorsam als gegen Gott schließlich nicht gibt.
V. 17. Gott sei aber gedankt usw. Der Apostel erinnert nicht einfach daran, dass die Christen nicht mehr Knechte der Sünde sind, sondern er fügt eine Danksagung hinzu, um einzuprägen, dass diese Veränderung nicht auf eignem Verdienst, sondern auf dem besonderen Erbarmen Gottes ruht. Solcher Dank soll uns Gottes Wohltat umso besser erkennen und deshalb die Sünde umso tiefer verabscheuen lehren. Nicht deshalb werden wir aus der Knechtschaft des Gesetzes entlassen, damit wir hinfort sündigen dürften. Denn das Gesetz verliert seine Herrschaft erst, wenn uns die Gnade Gottes, welche in uns Gerechtigkeit schaffen will, zu ihrem Eigentum nimmt. Deshalb können wir unmöglich der Sünde dienen, wenn Gottes Gnade in uns herrscht. Haben wir doch oben schon ausgesprochen, dass diese Gnade den Geist der Erneuerung in sich birgt.
Aber nun gehorsam geworden von Herzen usw. Damit enthüllt Paulus den Gegensatz zwischen dem äußerlich fordernden Buchstaben und dem verborgen wirkenden Geist. Es ist als wollte er sagen: Viel besser als das Gesetz mit seinem Drohen und Zwingen weiß Christus die Herzen innerlich zu gestalten. Er gestaltet sie, nicht, wie einige übersetzen, nach der Form, sondern nach dem Vorbild der Lehre. Damit ist das ausgeprägte Bild eines gerechten Lebens gemeint, welches Christus in unserm Herzen erweckt. Dies entspricht der Vorschrift des Gesetzes, nach welcher alle unsere Handlungen sich bilden müssen, wenn sie weder zur Rechten noch zur Linken abweichen sollen.
V. 18. Nun ihr frei geworden seid von der Sünde usw. Es ist ungereimt, nach der Freilassung noch im Stande der Knechtschaft zu verharren. Es gilt, den Stand der Freiheit, den wir empfangen haben, festzuhalten. Wer durch Christi Erlösung frei geworden ist, der darf sich nicht wieder unter die Herrschaft der Sünde zwingen lassen. Dieser Beweis ergibt sich aus der erfolgten Tatsache der Freilassung. Ein weiterer Beweis wird aus deren Zweck und Absicht hergeleitet: ihr seid von dem Sündendienst erlöst, um in das Reich der Gerechtigkeit versetzt zu werden; also müsst ihr die Sünde gänzlich vergessen und euren ungeteilten Sinn zur Gerechtigkeit kehren, unter deren Herrschaft ihr getreten seid. Hier lässt sich beobachten, dass niemand der Gerechtigkeit dienen kann, er wäre denn zuvor durch Gottes Macht und Gabe aus der Knechtschaft der Sünde erlöst. So bezeugt ja auch Christus selbst (Joh. 8, 36): „So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.“ Wie nichtig sind unsere Anstrengungen aus Kraft des freien Willens, wo doch die Grundlage alles Guten jene Freilassung ist, die allein Gottes Gnade vollbringt!
19 Ich muss menschlich davon reden um der Schwachheit willen eures Fleisches. Gleichwie ihr eure Glieder begeben habet zum Dienst der Unreinigkeit und von einer Ungerechtigkeit zu der andern, also begebet auch nun eure Glieder zum Dienst der Gerechtigkeit, dass sie heilig werden.
V. 19. Ich muss menschlich davon reden. Der Apostel will sagen: Wenn ich den Wert der Gerechtigkeit und der Sünde miteinander vergleichen wollte, so könnte ich zeigen, dass die Gerechtigkeit eine viel eifrigere Nachfolge verdient als die war, mit welcher wir uns an die Sünde hängten. Aber um eurer Schwachheit einigermaßen nachzugeben, will ich solchen Vergleich unterlassen. Indessen muss ich auch bei der äußersten Nachgiebigkeit die gewiss berechtigte Forderung stellen, dass ihr der Gerechtigkeit wenigstens nicht lauer und lässiger dienet als einst der Sünde. Immerhin bedeutet dieser ganze Einleitungssatz nur eine rednerische Form, welche den Anschein erweckt, als solle weniger gesagt werden wie nachher tatsächlich gesagt wird. Denn in Wirklichkeit will Paulus allerdings die Mahnung erteilen, dass wir der Gerechtigkeit um eben so viel eifriger gehorchen sollen, als sie unseres Dienstes würdiger ist als die Sünde.
Gleich wie ihr eure Glieder begeben habet usw. D. h. als ehemals alle eure Glieder zum Gehorsam der Sünde bereit standen, musstet ihr schmerzlich erfahren, wie die Verkehrtheit eures Fleisches euch gefangen und geknechtet hielt. Deshalb seid jetzt ebenso schnell und bereit, euch Gottes Herrschaft zu unterwerfen! Euer Eifer, Gutes zu tun, sei nicht geringer als einst euer Eifer, zu sündigen! Der Gegensatz zwischen den beiden Reihen des Bösen und des Guten wird nicht scharf innegehalten. Doch ist der Sinn klar. In die erste Reihe setzt der Apostel zwei Stücke: Unreinigkeit und Ungerechtigkeit. Die erstere ist das Gegenteil von Keuschheit und heiligem Wandel (vgl. auch 1. Thess. 4, 7). Bei der andern haben wir an das Unrecht zu denken, welches man dem Nächsten zufügt. Dabei steht das Wort „Ungerechtigkeit“ zweimal in verschiedenem Sinne. Zuerst bezieht es sich auf Räuberei, Betrug, Meineid, überhaupt auf die verschiedenartigsten ungerechten Handlungsweisen im Einzelnen. Dann aber bezeichnet es den verderbten Gesamtzustand des Lebens. Es ist, als ob dastünde: Ihr habt eure Glieder dazu hergegeben, ungerechte Taten zu vollbringen -, deshalb musste die Ungerechtigkeit in euch das Regiment gewinnen. Gerechtigkeit bezeichnet demgegenüber Gesetz und Regel rechten Lebens, welche darauf zielt, dass wir heilig werden, d. h. uns dem reinen Dienste Gottes weihen.
20 Denn da ihr der Sünde Knechte waret, da waret ihr frei von der Gerechtigkeit. 21 Was hattet ihr nun zu der Zeit für Frucht? Welcher ihr euch jetzt schämet; denn ihr Ende ist der Tod. 22 Nun ihr aber seid von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden, habt ihr eure Frucht, dass ihr heilig werdet, das Ende aber das ewige Leben. 23 Denn der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserm Herrn.
V. 20. Da ihr der Sünde Knechte waret usw. Der Apostel wiederholt den bereits beschriebenen Unterschied zwischen dem Joch der Gerechtigkeit und der Sünde. Beide stehen in so scharfem Gegensatz, dass, wer der einen sich hingibt, der andern notwendig den Rücken kehren muss. Die Einzelbetrachtung, welche die Natur der Sünde und der Gerechtigkeit gesondert ins Auge fasst, lässt nun ein besonders scharfes Licht darauf fallen, was man von einer jeden erwarten kann und was aus ihr erwächst. Dabei wollen wir im Gedächtnis halten, dass der Beweis des Apostels sich auf die Hinstellung des Gegenteils gründet: Solange ihr der Sünde Knechte waret, da waret ihr frei von der Gerechtigkeit; jetzt aber seid ihr in umgekehrter Lage: ihr müsst der Gerechtigkeit dienen, weil ihr vom Joch der Sünde frei geworden seid.
Frei von der Gerechtigkeit ist, wer jeden Zügel des Gehorsams gegen die Gerechtigkeit abgeworfen hat. Solche Freiheit des Fleisches entfernt uns von Gottes Reich und lässt uns zum Eigentum des Satans werden. Elende und fluchwürdige Freiheit, welche mit zügellosen, rasenden Sprüngen in Verderben stürmt!
V. 21. Was hattet ihr nun zu der Zeit für Frucht? Eindrücklicher konnte der Apostel nicht sagen, was ihm am Herzen lag. Er greift seinen Lesern ans Gewissen und legt ihnen in den Mund, dass sie sich selbst ihrer vorigen Sünden schämen. Denn sobald die Frommen durch Christi Geist und die Predigt des Evangeliums erleuchtet werden, erkennen sie leicht ihr ganzes vergangenes Leben ohne Christus als verdammlich an. Es vergeht ihnen jede Entschuldigung, und Scham steigt auf. Ja, sie streichen die Erinnerung an diese ihre Schande geflissentlich nicht durch, um sich der wahren, schamhaften Demut vor Gott zu erhalten. Und nicht umsonst sagt der Apostel: Welcher ihr euch jetzt schämet. Damit erinnert er leise an die blinde Selbstliebe, in der wir wohl stecken mussten, da wir in der tiefen Finsternis der Sünde den gewaltigen Schmutz gar nicht bemerkten. Nur Gottes Licht kann unsere Augen öffnen und uns einen Blick in die unerkannte Verdorbenheit unseres Fleisches tun lassen. Der christlichen Lebensweisheit Anfang steht darin, dass wir ernstlich uns selbst missfallen und eine heilige Abscheu vor unserer Erbärmlichkeit fassen. Noch deutlicher zeigt ein Blick auf das Ende, wie sehr wir uns unserer Sünde schämen müssen: denn ihr Ende ist der Tod. Wir standen schon am Abgrund des Todes und des Verderbens, ja die Pforten des Todes würden sich schon hinter uns geschlossen haben, wenn Gottes Erbarmen uns nicht zurückgerissen hätte.
V. 22. Nun … habt ihr eure Frucht, dass ihr heilig werdet. Der doppelten Frucht der Sünde entspricht eine doppelte Frucht der Gerechtigkeit. Die Sünde zeitigt in diesem Leben die Qualen des bösen Gewissens, danach den ewigen Tod. Der Gerechtigkeit gegenwärtige Frucht ist die Heiligung, für die Zukunft erhoffen wir von ihr das ewige Leben. Der Blick auf diese Früchte wird bei einem nicht völlig abgestumpften Menschen Schauder und Hass gegen die Sünde und dagegen Liebe und Sehnsucht nach der Gerechtigkeit entzünden.
V. 23. Denn der Tod ist der Sünde Sold. Damit geißelt der Apostel die blinde Begierde, mit welcher die Sünder sich in die Lockspeise verbeißen wie der Fisch in die Angel. Wahrlich, eine reiche Löhnung, welche die Sünde den Verworfenen für ihre Dienste zahlt: der Tod! Unser Satz bildet den nachdrücklichen Abschluss des vorigen. Absichtlich sagt der Apostel mit veränderten Worten noch einmal dasselbe: Verdoppelte Furcht soll uns die Sünde umso verhasster machen. Aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben. Wie die Sünde den Tod gebiert, so bringt Gottes Gnadengabe, die Gerechtigkeit und Heiligkeit, das Glück des ewigen Lebens mit sich. Wie die Sünde zur Ursache des Todes wird, so gibt uns die Gerechtigkeit, mit welcher Christus uns beschenkt, das ewige Leben wieder. Der Ausdruck des Apostels weist mit voller Sicherheit darauf hin, dass unser Heil ganz auf Gottes freier Gnade und Gabe ruht. Paulus hätte ja auch sagen können: der Lohn der Gerechtigkeit sei das ewige Leben. Dann hätte sich eine vollkommene gegensätzliche Übereinstimmung der beiden Satzglieder ergeben. Aber es sollte noch deutlicher werden, dass das Mittel zur Erlangung des ewigen Lebens nicht unser Verdienst, sondern Gottes Gabe ist. Dahin weist auch der Zusatz: in Christus Jesus, unserm Herrn. Nicht in unserer Würdigkeit, sondern in ihm liegt der Grund der doppelten Gottesgabe: der Gerechtigkeit, mit der wir zur Versöhnung mit Gott bekleidet werden, und der Kraft des Geistes, welche unser Leben zu Heiligkeit erneuert.
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Der Römerbrief - Kapitel 7
Johannes Calvin
1 Wisset ihr nicht, liebe Brüder (denn ich rede mit solchen, die das Gesetz wissen), dass das Gesetz herrscht über den Menschen, solange er lebt? 2 Denn ein Weib, das unter dem Manne ist, ist an ihn gebunden durch das Gesetz, solange der Mann lebt; so aber der Mann stirbt, so ist sie los vom Gesetz, das den Mann betrifft. 3 Wo sie nun eines andern Mannes wird, solange der Mann lebt, wird sie eine Ehebrecherin geheißen; so aber der Mann stirbt, ist sie frei vom Gesetz, dass sie nicht eine Ehebrecherin ist, wo sie eines andern Mannes wird. 4 Also seid auch ihr, meine Brüder, getötet dem Gesetz durch den Leib Christi, dass ihr eines andern seid, nämlich des, der von den Toten auferweckt ist, auf dass wir Gott Frucht bringen.
Obgleich die Frage von der Abschaffung des Gesetzes hinreichend, wenn auch kurz, behandelt schien, so greift Paulus dieselbe doch noch einmal ausführlicher an. Denn sie ist an sich schwierig und birgt mancherlei weitere Fragen in sich. Des Weiteren zeigt der Apostel, wie das Gesetz zu unserm Besten abgeschafft ward: denn solange es uns, ohne Christi Gemeinschaft, gebunden hält, kann es nur Verdammnis bringen. Damit nun daraus dem Gesetz selbst kein Vorwurf erwachse, werden die entsprechenden fleischlichen Einwürfe abgewehrt. Bei dieser Gelegenheit empfangen wir eine ausgezeichnete Abhandlung über den rechten Gebrauch des Gesetzes.
V. 1. Wisset ihr nicht usw. Als feststehende Voraussetzung des Beweises gilt, dass das Gesetz lediglich gegeben sei, um das gegenwärtige Leben zu regeln, dass es also auf die Toten kein Anrecht mehr besitze. Darauf gründet sich dann der Untersatz: Wir aber sind durch den Leib Christi dem Gesetze abgestorben. Diesen Beweis hat der Apostel in die Form der Frage gekleidet, um die Zustimmung der Leser desto sicherer zu gewinnen. Kann er doch andeuten, dass, was er sagt, keinem unter ihnen etwas Neues und Unerhörtes, sondern etwas ganz Selbstverständliches ist: ich rede mit solchen, die das Gesetz wissen. Paulus kann voraussetzen, dass Kenner des Gesetzes ihm ohne weiteres Recht geben werden. Dabei könnte man an jegliches Gesetz denken: wirklich gemeint ist aber das Gesetz Gottes, um welches sich ja die ganze Frage dreht. Einige meinen nun, Paulus schreibe den Römern eine Kenntnis des Gesetzes zu, weil ihre Herrschaft und ihr Recht fast den ganzen Erdkreis umspannte. Doch das ist töricht. Denn Paulus redet teils zu Juden und andern Fremden, teils zu niedrig gestellten und unbekannten Leuten. Hier nimmt er nun vornehmlich Rücksicht auf die Juden, mit denen die Frage nach der Abschaffung des Gesetzes natürlich in erster Linie zur Verhandlung kommen musste. Sie sollen nicht durch irgendeine undurchsichtige Beweisführung gefangen, sondern auf den Grund eines, allgemein bekannten und ihnen von Kindheit an, geläufigen Satzes gestellt werden.
V. 2. Denn ein Weib, das unter dem Manne ist usw. Dies Gleichnis soll beweisen, dass wir vom Gesetz so völlig frei sind, dass seine Herrschaft und sein Anrecht uns weiter nicht bindet. Dafür passte das Bild der Ehe vortrefflich. Freilich könnte man sich daran stoßen, dass die einzelnen Glieder des Gleichnisses und seiner Deutung nicht scharf aufeinander passen. Streng genommen hätte es heißen müssen: das Weib wird durch den Tod des Mannes vom Bande der Ehe frei: Nun ist das Gesetz, an welches wir wie an einen Ehegatten gebunden waren, für uns gestorben -, also stehen wir nicht mehr unter seiner Macht. Aber diesen harten Ausdruck, das Gesetz sei gestorben, wollte der Apostel den Juden lieber ersparen. So wendet er in etwas die Redeweise und sagt: wir sind dem Gesetz gestorben. Demgemäß ergibt sich folgende Beweiskette:
Die Frau ist gesetzmäßig an den Mann gebunden, solange derselbe lebt, und darf sich nicht einem andern ergeben. Nach dem Tode des Mannes ist sie von der gesetzlichen Pflicht gegen ihn frei und darf mit einem beliebigen andern Mann eine neue Ehe schließen.
Daraus die Anwendung:
-
Das Gesetz war unser Ehemann, unter dessen Joch wir gehalten wurden, bis es uns endlich starb.
-
Nach dem Tode des Gesetzes hat Christus uns angenommen. Er hat mit uns eine neue Ehe geschlossen, nachdem wir vom Gesetz frei waren.
-
Also müssen wir dem von den Toten erweckten Christus, unserm Ehegemahl, allein anhängen. Und da Christi Leben nach der Auferstehung ein ewiges ist, so gibt es mit dieser Ehe in Zukunft keine Veränderungen mehr.
Wenn übrigens Paulus von Abschaffung des Gesetzes redet, so denkt er nur an diejenige Seite desselben, welche mit dem Dienste des Mose im eigentlichen Sinne zusammenhängt. Insofern Gott in den 10 Geboten unserm Leben eine Regel gab, kann von Abschaffung des Gesetzes keine Rede sein. Von der Gerechtigkeit, welche das Gesetz lehrt, werden wir unter keinen Umständen frei, sondern nur von der drohenden Forderung und dem darauf folgenden Fluch. Vom Gesetz fällt nur, was der in Christus geschenkten Freiheit zuwider ist.
V. 4. Durch den Leib Christi. Christus hat durch das hocherhobene Siegeszeichen des Kreuzes über die Sünde triumphiert. Dies konnte aber nur so geschehen, dass die Handschrift, die uns verschuldet hielt, zerrissen ward. Diese Handschrift ist das Gesetz, welches, solange seine Herrschaft währt, uns in der Schuldhaft der Sünde festhält. Deshalb heißt es die Kraft der Sünde (1. Kor. 15, 56). Diese Handschrift ist nun vernichtet, und wir sind frei; sie wurde mit Christi Leib ans Kreuz geheftet (Kol. 2, 14). Doch der Gedanke des Apostels vollzieht noch einen weiteren Fortschritt: Nicht deshalb ward das Band des Gesetzes gelöst, damit wir nun nach unserm eignen Willen leben könnten, wie die Witwe ihre eigne Herrin ist, solange sie ehelos bleibt. Vielmehr sind wir bereits an einen andern Mann gebunden; wir sind von einer Hand in die andere gegangen, vom Gesetz zu Christus gekommen. Auf diese Weise mildert sich die Härte des Gedankens: Frei vom Joch des Gesetzes hat uns Christus doch nur deshalb gemacht, um uns als Glieder in seinen Leib zu pflanzen. Nun hat Christus sich zwar dem Gesetz auf Zeit freiwillig unterworfen, aber das Gesetz konnte nicht in Wirklichkeit sein Herr werden. So teilt er die ihm eigne Freiheit auch seinen Gliedern mit. Es begreift sich leicht, dass er diejenigen dem Joche des Gesetzes entnimmt, welche er durch ein heiliges Band an sich bindet, damit sie mit ihm zusammen ein Leib seien.
Der von den Toten auferweckt ist. Dass Christus an die Stelle des Gesetzes tritt, haben wir schon gesagt: außerhalb seiner Gemeinschaft darf man keine Freiheit suchen, und den Ehebund mit dem Gesetz darf niemand brechen, der sich selbst noch nicht gestorben ist. Übrigens stellt uns der Apostel durch eine Umschreibung die Ewigkeit des Lebens vor Augen, welches Christus durch die Auferstehung erlangt hat. So sollen die Christen wissen, dass ihr Ehebund in Ewigkeit währt. Ausführlicher handelt Eph. 5, 22 ff. über die geistliche Ehe Christi mit der Gemeinde.
Auf dass wir Gott Frucht bringen. Immer wieder bringt Paulus den Zweck der Erlösung zum Ausdruck, damit niemand die Befreiung von der Knechtschaft des Gesetzes zum Anlass nehme, der Zügellosigkeit des Fleisches und den Begierden nachzugeben. Denn Christus hat uns mit sich dem Vater geopfert, und er schenkt uns deshalb ein neues Leben, damit wir Gott Frucht bringen. Wir kennen die Früchte, welche der himmlische Vater an uns sucht, nämlich die der Heiligkeit und Gerechtigkeit. Dass wir dem Herrn dienen, schmälert unsere Freiheit nicht. Vielmehr, wenn wir den vollen Genuss von Christi Wohltat erleben wollen, muss unser ganzer Sinn auf die Förderung der Ehre Gottes gerichtet sein, um derentwillen Christus uns zu eigen genommen hat. Sonst bleiben wir Knechte, nicht bloß des Gesetzes, sondern der Sünde und des Todes.
5 Denn da wir im Fleisch waren, da waren die sündlichen Lüste, welche durchs Gesetz sich erregten, kräftig in unsern Gliedern, dem Tode Frucht zu bringen. 6 Nun aber sind wir vom Gesetz los und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt, also dass wir dienen sollen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens.
V. 5. Denn da wir im Fleisch waren. Der Gegensatz zeigt noch deutlicher, wie töricht die fanatischen Ansprüche sind, mit welchen die Gläubigen noch immer unter dem Gesetze sollen festgehalten werden. Denn solange der gesetzliche Buchstabendienst ohne Christi Geist lebt und herrscht, werden die Lüste des Fleisches nicht eingedämmt, sondern brechen immer stärker hervor. Das Königreich der Gerechtigkeit wird erst aufgerichtet, wenn Christus die Sklaverei unter dem Gesetz bricht. Zugleich lässt uns Paulus ersehen, welche Werke denen ziemen, die vom Gesetz frei geworden sind: Gesetzesknechtschaft führt zum Tode, der Dienst der Gerechtigkeit zum Leben. Doch halten wir uns genau an die Worte des Apostels! Wenn er die Zeit beschreiben will, da wir noch unter der Herrschaft des Gesetzes standen, sagt er: Wir waren im Fleische. Daraus wird klar, dass alle, welche unter dem Gesetz sind, nur äußerlich durch den Geist desselben berührt werden; eine innere Frucht und Wirkung wird nicht erzielt. Denn es fehlt der innerliche Anteil am Geist Gottes. Solche Leute bleiben im Innersten sündhaft und verkehrt, bis ein besseres Heilmittel ihre Krankheit vertreibt. Beachtenswert erscheint diese geläufige Redeweise der Schrift, laut welcher alle diejenigen „im Fleische“ sind, welche nur die Gaben der Natur besitzen, aber noch nicht die besondere Gnade, welche Gott seinen Auserwählten schenkt. Wenn der ganze Zustand unseres Lebens in dieser Weise von Sünde durchtränkt ist, so bleibt von Natur kein Teil unserer Seele unberührt, und der freie Wille kann keine andere Fähigkeit besitzen, als in alle Teile unseres inneren Lebens sündige Begierden wie Pfeile zu schießen.
Die sündlichen Lüste, welche durchs Gesetz sich erregten. Das Gesetz steigerte nur die sündlichen Begierden, welche ihren Samen ringsum in die Seele streuten. Alles an uns diente der bösen Lust. Solches schafft das Gesetz, wenn nicht die innere Leitung durch den Geist hinzukommt; es erregt die Begierden des Herzens, so dass sie nur lebhafter aufquillen. Und der Apostel fügt noch einmal hinzu, dass, solange die sündlichen Lüste unter dem Gesetz uns beherrschen, nichts erreicht wird, als dass wir dem Tode Frucht bringen. So wenig vermag das Gesetz für sich allein. Welche Torheit also, sich und andere von neuem unter dieses Joch zu beugen!
V. 6. Nun aber sind wir vom Gesetz los. Vermochte das Gesetz so wenig das Fleisch zu zügeln, dass es sogar die Sünde noch mehr reizte, so mussten wir von ihm befreit werden, wenn anders die Sünde gebrochen werden sollte. Sind wir aber von der Gesetzesknechtschaft befreit, um Gott zu dienen, so ist es falsch, aus der Erlösung eine Freiheit zum Sündigen abzuleiten, und eine verkehrte Rede, wenn man sagt, dass die Gnade den Zügel der bösen Lust locker mache. Wir prägen uns vielmehr ein, dass die Befreiung vom Gesetz lediglich so stattfindet, dass auf der einen Seite das harte Drängen und der Fluch dahin fällt, auf der andern Seite aber Gottes Geist uns zum Wandel in seinen Wegen leitet. Und ihm abgestorben. Diese Wendung beschreibt die Weise unserer Erlösung vom Gesetz: Es kann uns mit seiner Last nicht mehr drücken, weder mit seiner unerbittlichen Strenge, noch mit seinem Fluch.
Im neuen Wesen des Geistes. Der Geist ist das Widerspiel des Buchstabens; denn ehe der Heilige Geist unsern Willen nach Gottes Willen bildete, haben wir am Gesetz lediglich einen äußerlichen Buchstaben, welcher vielleicht den äußerlichen Handlungen einen Zügel anlegen, aber keineswegs die brennende Begierde in Schranken halten kann. Ein „neues“ Wesen wird dem Geiste beigemessen, weil das Geistesleben an die Stelle des alten Menschen tritt. So spricht Paulus auch vom alten Wesen des Buchstabens, weil die Erneuerung des Geistes dasselbe zerstört.
7 Was wollen wir denn nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde erkannte ich nicht, außer durchs Gesetz. Denn ich wusste nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht hätte gesagt: „Lass dich nicht gelüsten!“ 8 Da nahm aber die Sünde Ursache am Gebot und erregte in mir allerlei Lust.
V. 7. Was wollen wir denn nun sagen? Da wir soeben vernahmen, dass eine Erlösung vom Gesetz stattfinden muss, wenn anders der neue Gottesdienst im Geiste zustande kommen soll, so könnte es scheinen, als wäre das Gesetz an sich fehlerhaft, wenn es uns gewissermaßen zur Sünde treibt. Solcher Gedanke wäre nun über die Maßen abgeschmackt und muss gänzlich abgeschüttelt werden. Die Frage, ob das Gesetz Sünde sei, hat den Sinn: ob es in einer solchen Weise Sünde hervorbringt, dass die Schuld davon auf das Gesetz selbst zurückfalle?
Aber die Sünde erkannte ich nicht usw. Also hat die Sünde ihren Sitz in uns, nicht im Gesetz. Denn sie geht aus der bösen Lust hervor, und diese lernen wir erst durchschauen, wenn uns das Gesetz Gottes Gerechtigkeit klar enthüllt. Natürlich muss man nicht glauben, dass, abgesehen vom Gesetz, die Menschen den Unterschied von Gut und Böse überhaupt nicht kennen. Doch sind wir so schwachsichtig, dass unser verkehrtes Wesen uns nur zu leicht verborgen bleibt, und unsere Selbstbespiegelung lässt uns immer stumpfer werden. Denn ich wusste nichts von der Lust usw. Diese Aussage dient zur Erläuterung des vorigen Satzes: dass der Mensch die Sünde nicht kannte, lag darin, dass er seine böse Lust nicht durchschaute. Bei dieser Wurzel der Sünde verweilt der Gedanke noch etwas, weil hier die Heuchelei und mit ihr Nachlässigkeit und Trägheit am leichtesten Eingang findet. Gegenüber den äußeren Werken begibt man sich ja nicht so schnell des Urteils. Selbst verbrecherische Anschläge und dergleichen Absichten erscheinen den Menschen verdammenswert, und umgekehrt empfängt ein guter Wille sein Lob. Aber der Fehler der bösen Lust sitzt tiefer und verborgener. Darum kommt er den Menschen nicht in den Sinn, solange sie nach ihrem eigenen Maßstabe urteilen. Allerdings will Paulus nicht sagen, dass ihm dieser Fehler überhaupt nicht bewusst gewesen sei, sondern nur, dass seine allzu große Nachsicht gegen sich selbst des im Herzen verborgenen Schadens nicht geachtet habe. Zuzeiten lebte er in der Selbsttäuschung, gerecht zu sein trotz der bösen Lust. Endlich musste er doch seine Sündhaftigkeit erkennen, als er sah, dass das Gesetz die Lust verbietet, von welcher doch niemand frei ist. Augustin sagt, dass Paulus in diesem einen Gebot das ganze Gesetz mit begriffen habe. Das ist richtig, wenn man es recht versteht. Denn das Gebot der Lust, welches die zweite Tafel von den Pflichten gegen den Nächsten abschließt, will ohne Zweifel auf alle zuvor gegebenen Einzelgebote bezogen sein. Freilich liegt auch schon in den Einzelgeboten jedes Mal ein entsprechendes Verbot böser Erwägungen und Absichten in dem bezeichneten Stücke. Aber zwischen einem bewussten Willen und den Lustregungen, die uns durchzittern, ist doch noch ein Unterschied. So fordert denn dieses letzte Gebot ausdrücklich eine solche Vollkommenheit, die noch ganz abgesehen von der Zustimmung des Willens jedes Aufsteigen einer verkehrten Lust zum Bösen ausschließt. So erhebt sich Paulus mit diesem letzten Gebot über alle gemeinen Begriffe der Menschen. Mögen bürgerliche Gesetze zuweilen aussprechen, dass sie die Absicht und nicht den Erfolg einer Handlung ins Auge fassen. Mögen Philosophen noch feiner den Sitz des Lasters und der Tugend im Gemüte finden: Gott dringt mit diesem Gebot bis zur letzten Regung der Lust hindurch, welche noch hinter dem Willen steht, und welche deshalb nicht für sündhaft gehalten zu werden pflegt. Auch die Papisten lehren ja, dass der Wiedergeborene sündlos sei, weil sie eben die auch ihm anhaftende böse Lust nicht als Sünde gelten lassen. Paulus dagegen erklärt, dass gerade diese verborgene Krankheit ihn seiner Schuld überführt habe. Darauf folgt, dass, die an dieser Krankheit leiden, unentschuldbar sind, wenn nicht Gott ihre Schuld verzeiht. Immerhin bleibt noch jener Unterschied bestehen zwischen bösen Begierden, welche bis zur Zustimmung des Willens sich auswachsen, und der Lust, welche das Herz durchzieht und berührt, dann aber auf halbem Wege stehen bleibt.
V. 8. Da nahm aber die Sünde Ursache usw. Der wirkliche Ursprung alles Bösen liegt in der Sünde und der Verderbnis des Fleisches. Das Gesetz bietet nur weitere Ursache und Anlass zum Hervorbrechen. Dabei ließe sich möglicherweise an den tatsächlichen Anreiz denken, mit welchem das Gesetz unsere Lust bis zu wahnsinnigem Widerspruch steigert. Besser aber bezieht man den Ausspruch nur auf die Erkenntnis der Sünde: Das Gesetz deckte in mir die Lust auf, welche, solange sie zugedeckt blieb, kaum zu existieren schien. Ich will zwar durchaus nicht leugnen, dass das Fleisch sich durch das Gesetz zu entschiedener widerstrebender Lust angestachelt fühlt. Auch Paulus hat davon eine Erfahrung besessen. Aber was ich bezüglich der klareren Offenbarung für die Erkenntnis gesagt habe, dürfte doch besser in den Zusammenhang passen. Denn nun fährt Paulus fort:
8 Denn ohne Gesetz ist die Sünde tot. 9 Ich aber lebte weiland ohne Gesetz; da aber das Gebot kam, ward die Sünde wieder lebendig, 10 ich aber starb; und es fand sich, dass das Gebot mir zum Tode gereichte, das mir doch zum Leben gegeben war. 11 Denn die Sünde nahm die Ursache am Gebot und betrog mich und tötete mich durch dasselbe Gebot. 12 Das Gesetz ist ja heilig, und das Gebot ist heilig, recht und gut.
Denn ohne Gesetz ist die Sünde tot. Dieser Satz macht den Sinn der bisherigen Ausführungen vollends klar. Paulus hätte auch schreiben können: ohne das Gesetz liegt die Erkenntnis der Sünde begraben. Wir haben hier einen allgemeinen Grundsatz, welcher alsbald durch das eigene Beispiel des Paulus einen Beleg empfängt. Man darf also durchaus nicht in der Vergangenheitsform übersetzen: „war“ die Sünde tot. Denn offensichtlich ist hier die Rede noch allgemein und geht nun erst zu dem besonderen persönlichen Beispiel über:
V. 9. Ich aber lebte weiland ohne Gesetz. Paulus will zu verstehen geben, dass es eine Zeit gab, zu welcher die Sünde in ihm wie erstorben war. Nicht als ob zu irgendeiner Zeit er tatsächlich über das Gesetz erhaben gewesen wäre -, vielmehr hat das „ich lebte“ einen eigenen Beigeschmack. Dieses „Leben“ ging daraus hervor, dass für ihn das Gesetz nicht vorhanden war. D. h. trotz seines inneren Todes spiegelte ihm das hochmütige Selbstvertrauen auf seine Gerechtigkeit vor dass er lebe. Um deutlicher zu sein, muss der Satz folgendermaßen aufgelöst werden: Als ich einst ohne Gesetz war, da lebte ich. Der Sinn ist: Wenn ich auch, solange ich die Erkenntnis des Gesetzes beiseite schob, in Sünden steckte, so war doch die für nichts geachtete Sünde dermaßen eingeschlafen, dass sie fast tot schien. Ich aber, da ich mich nicht für einen Sünder hielt, hatte Ruhe in mir und meinte Leben zu besitzen. Denn der Tod der Sünde bedeutet Leben für den Menschen, und wiederum bedeutet ein Lebendigwerden der Sünde für den Menschen Tod. Nun fragt sich aber, welches die Zeit war, während welcher Paulus kraft seiner Unkenntnis oder (wie er selbst sagt) der Abwesenheit des Gesetzes kühnlich glaubte, Leben zu besitzen? Denn er wurde doch ohne Zweifel von Jugend auf im Gesetz unterwiesen. Doch das war nur eine Wissenschaft des Buchstabens, welche ihre Jünger nicht in die Demut leitete. So heißt es ja auch 2. Kor. 3, 14, auf der Juden Augen habe eine Decke gelegen, so dass sie das Licht des Gesetzes nicht sehen konnten. In dieser Weise waren die Augen des Paulus gehalten, solange er Christi Geist noch nicht besaß, so dass er an seiner Maske äußerlicher Gerechtigkeit Gefallen haben konnte. Das Gesetz war ihm fern, obgleich er es vor Augen hatte; denn es traf sein Herz nicht mit einer Empfindung des göttlichen Gerichts. So sind die Augen der Heuchler verbunden, dass sie nicht sehen, was das Gebot will: „Lass dich nicht gelüsten!“
Da aber das Gebot kam usw. D. h. da ich eine wahre Einsicht in seine Bedeutung erlangte. Jetzt erweckte das Gesetz die Sünde gleichsam aus dem Tode. Denn es deckte die Finsternis der verborgenen Winkel seines Herzens auf und tötete damit ihn selbst.
V. 10. Und es fand sich usw. Zweierlei lehrt dieser Satz. Erstens: das Gesetz zeigt uns den Weg des Lebens in Gottes Gerechtigkeit. Es ist gegeben, die, welche es halten, zum ewigen Leben zu leiten; und es würde dies Ziel erreichen, wenn ihm nicht die allgemeine Sündhaftigkeit im Wege stünde. Darum zweitens: weil keiner unter uns dem Gesetz gehorcht, vielmehr wir alle mit Händen und Füßen auf den Weg drängen, von welchem es uns abhalten will, so kann das Gesetz tatsächlich nur den Tod bringen. Es gilt also, wohl zu unterscheiden, was aus der Natur des Gesetzes und was aus unserer Sündhaftigkeit sich ergibt. Daraus folgt, dass es nur eine Nebenwirkung ist, wenn das Gesetz uns die Todeswunde schlägt, so wie etwa eine unheilbare Krankheit durch ein an sich gutes Mittel verschlimmert werden kann. Freilich ist diese Nebenwirkung unlöslich mit dem Gesetz verknüpft, so dass es im Gegensatz zum Evangelium ein „Amt des Todes“ heißen kann (2. Kor. 3, 7). Dies aber bleibt bestehen, dass das Gesetz nicht vermöge seiner Natur uns schadet, sondern weil unsere Verkehrtheit seinen Fluch verdient und herbeizieht.
V. 11. Die Sünde betrog mich. Es ist zwar richtig, dass die Menschen längst betrogen sind und ihr ganzes Leben ein Irrweg ist, weil sie Gottes Willen nicht kennen und ihnen die Erleuchtung der Wahrheit fehlt. Aber dieser Betrug der Sünde wird erst durch das Gesetz deutlich enthüllt, wenn der Herr uns mit vernehmlicher Stimme anruft. Es ist also wiederum nicht an die Sache selbst, sondern nur an die Erkenntnis zu denken. „Betrügen“ könnte man umschreiben: vom Wege aufschrecken und abdrängen. Den einst in Sicherheit dahingehenden Sünder packt ein Ekel vor sich selbst, wenn das Gesetz ihm die Hässlichkeit seines Wesens zeigt. Nun sieht er, dass sein Weg schnurstracks ins Verderben führt. Bei dieser Gelegenheit wiederholt (vgl. V. 8) Paulus den Ausdruck: Die Sünde nahm die Ursache. So wird uns noch einmal eingeprägt: Dass das Gesetz zum tödlichen Gift geworden, liegt nicht in seiner Natur, sondern in Umständen, die von außen hinzukamen.
V. 12. Das Gesetz ist ja heilig usw. Nachdrücklich steht zuerst „das Gesetz“, dann noch einmal „das Gebot“. Das Gesetz selbst und alle seine Vorschriften sind durch und durch heilig, und man muss ihm die tiefste Ehrfurcht entgegenbringen. Es ist recht: also darf man keine Ungerechtigkeit darin finden wollen. Es ist gut: also von jedem Fehler frei und rein. So hält der Apostel jeden Vorwurf vom Gesetz fern: Niemand darf Gottes Gesetz anklagen, wenn ihm selbst Güte, Gerechtigkeit und Heiligkeit mangelt.
13 Ist denn, das da gut ist, mir zum Tod geworden? Das sei ferne! Aber die Sünde, auf dass sie erscheine, wie sie Sünde ist, hat sie mir durch das Gute den Tod gewirkt, auf dass die Sünde würde überaus sündig durchs Gebot.
V. 13. Ist denn, das das gut ist usw. Die bisherige Verteidigung des Gesetzes ließ den einen Punkt noch im Unklaren, ob dasselbe nicht doch die Ursache des Todes sei. Gegen diesen Einwand wendet sich der Apostel jetzt und zeigt, dass das Gesetz den Tod nicht hervorbringt, sondern der Sünde nur den Anlass bietet, uns in den Tod zu stürzen. Indessen scheint diese Auskunft in Widerspruch mit der früheren Aussage zu stehen (V. 10): „Es fand sich, dass das Gebot mir zum Tode gereichte, das mir doch zum Leben gegeben war.“ Doch es scheint nur so. Denn damals meinte der Apostel, dass unsere Verkehrtheit uns das Gesetz gegen seine eigene Natur zum Verderben gebrauchen lässt. Und hier bestreitet er, dass es in einer solchen Weise die Grundlage des Todes sei, dass die Schuld im strengen Sinne ihm zufalle. Allerdings nennt Paulus 2. Kor. 3, 7 das Gesetz ungescheut eine Veranstaltung zum Tode. Aber er nennt es so, wie dies der Verlauf eines Disputs leicht mit sich bringt, nicht in Anbetracht seiner eignen Natur, sondern in Rücksicht auf die falsche Meinung des Gegners.
Aber die Sünde usw. Bevor das Gesetz die Sünde aufdeckt, erfährt diese gewissermaßen noch eine Rechtfertigung. Wenn aber das Gesetz sie unverhüllt zeigt, erscheint sie wahrhaft als Sünde. Und sie erscheint umso abscheulicher und, dass ich das Wort gebrauche, sündiger, weil sie die Güte des Gesetzes in ihr Gegenteil verkehrt und zu unserm Verderben wendet. Denn ein Gegenstand, der ein an sich heilsames Ding in Gift verwandelt, muss schon stark gifthaltig sein. Der Sinn ist: es musste durch das Gesetz die Scheußlichkeit der Sünde enthüllt werden; denn wenn die Sünde nicht völlig zur Reife getrieben wird, erkennt man sie nicht als Sünde. Hier verwandelt nun gar das Übermaß der Sünde Leben in Tod. Damit fällt jede Entschuldigung.
14 Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich bin aber fleischlich, unter die Sünde verkauft. 15 Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern, was ich hasse, das tue ich. 16 So ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, dass das Gesetz gut sei. 17 So tue nun ich dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnt.
V. 14. Denn wir wissen, dass das Gesetz usw. Damit stellt der Apostel das Gesetz und die menschliche Natur noch schärfer einander gegenüber, um noch deutlicher zu machen, woher der verhasste Tod stammt. Dann stellt er uns das Beispiel eines sogar bereits wiedergeborenen Menschen vor Augen: in demselben streiten die Reste des Fleisches noch immer wider Gottes Gesetz, wenn auch der Geist demselben gern gehorcht. Doch zunächst handelt es sich lediglich um den Kontrast unserer Natur und des Gesetzes. Nichts in der Welt kann härter miteinander streiten als Geist und Fleisch. Nun ist aber das Gesetz geistlich, der Mensch fleischlich. Beides ist ebenso widereinander wie Licht und Finsternis. „Geistlich“ heißt nun das Gesetz nicht bloß darum, weil es außer Händen und Füßen und äußerlichen Werken die Regungen des Geistes und Herzens beherrschen und eine innerlich aufrichtige Furcht Gottes einprägen will. Vielmehr will der Apostel einen viel durchgreifenderen Gegensatz von Geist und Fleisch bilden. Der Zusammenhang und frühere Stellen zeigen, dass unter „Fleisch“ die gesamte Natur verstanden werden soll, die wir von Mutterleibe her an uns tragen. So, wie die Menschen geboren werden und ihren Geist und Sinn behalten, so sind sie „Fleisch“. Denn dieser Sinn des Fleisches ist nur auf grobsinnliche, irdische Dinge gerichtet. „Geist“ ist dagegen die Erneuerung der verderbten Natur, welche Gott nach seinem Bilde gestaltet. Dieser Sprachgebrauch schreibt sich daher, weil Gottes Geist die Erneuerung bewirkt. So steht die göttliche Vollkommenheit der Lehre des Gesetzes der Natur des Menschen gegenüber. Und der Sinn ist: das Gesetz fordert eine überirdische, himmlische Gerechtigkeit ohne Makel und Flecken; ich aber als fleischlicher Mensch vermag nichts, als mich damit in Widerspruch zu setzen!
Unter die Sünde verkauft. Dieser Ausdruck zeigt, was das Fleisch in sich selbst vermag. Von Natur ist der Mensch ganz ebenso ein Knecht der Sünde, wie erkaufte Sklaven ihrem Herrn gehören und von demselben genau wie Ochsen und Esel nach Belieben missbraucht werden. So hängen wir ganz vom Willen der Sünde ab: der ganze Sinn, das ganze Herz, alle einzelnen Handlungen stehen unter ihrer Herrschaft. Nur von Zwang und Widerwilligkeit ist bei dieser angebornen Knechtschaft keine Rede: denn wir sündigen aus freien Stücken, die eigne Beteiligung des Willens gehört zum Begriff der Sünde. Aber wir sind derartig in der Sünde verfangen, dass unser freier Wille gar nicht anders kann als sündigen: dahin treibt uns die böse Verkehrtheit, welche in uns die Herrschaft führt.
V. 15. Denn ich weiß nicht, was ich tue. Jetzt wendet sich der Apostel zu dem besonders eindrücklichen Beispiel des bereits wiedergeborenen Menschen, welches uns zwei Stücke ganz anschaulich vor Augen stellt: wie groß der Gegensatz zwischen dem Gesetz Gottes und der Natur des Menschen ist, und dass das Gesetz keineswegs die Schuld am Tode trägt. Wenn den natürlichen Menschen die böse Lust unter voller freudiger Beteiligung seines Willen zur Sünde treibt, so entsteht der Anschein, er sündige mit einem derartig freien Willen, dass er es auch in der Macht habe, sich zurückzuhalten. So ist ja auch ganz allgemein die verderbliche Ansicht aufgekommen, dass der Mensch ohne Hilfe der göttlichen Gnade vermöge seiner natürlichen Veranlagung zwischen Gut und Böse wählen könne. Dagegen, wenn der Wille des gläubigen Menschen durch den Geist Gottes zum Guten getrieben wird, so drängt sich die Verderbtheit unserer Natur der Erkenntnis förmlich auf: denn diese Natur widerstrebt noch immer und sucht den Menschen nach der andern Seite zu ziehen. So enthüllt der Blick auf den wiedergeborenen Menschen den Widerstreit zwischen unserer Natur und der vom Gesetz geforderten Gerechtigkeit am schärfsten. Auch für das zweite Stück liegt hier ein deutlicherer Beweis, als wenn wir nur die Natur des Menschen an sich ins Auge fassen wollten. Denn weil bei dem noch ganz fleischlichen Menschen das Gesetz nur Tod hervorbringt, so fällt von hier aus auf dasselbe leicht ein falscher Schein: der letzte Ursprung des Schadens lässt sich nicht ohne weiteres unterscheiden. Im wiedergeborenen Menschen aber zeitigt das Gesetz heilsame Früchte: so wird klar, dass nur das Fleisch seine Leben bringende Wirkung hemmte, und dass es aus sich selbst durchaus nicht den Tod hervorbringt. Um aber die ganze zur Verhandlung stehende Frage in gesundem und richtigem Sinne aufzufassen, müssen wir feststellen, dass jener innere Kampf, von welchem der Apostel redet, nicht eher im Menschen anhebt, als bis der Geist Gottes ihn geheiligt hat. Denn der seiner Natur überlassene Mensch wird ohne inneren Widerstreit durch seine Lüste umgetrieben. Immerhin fühlen auch die Gottlosen den Stachel des Gewissens und können sich in ihren Fehlern nicht derartig schmeicheln, dass ihnen jeder bittere Nachgeschmack erspart bliebe. Aber daraus lässt sich doch nicht schließen, dass sie das Böse wirklich hassen und das Gute wirklich lieben. Gott sendet ihnen solche Qual nur, um sie ihre Verdammnis einigermaßen fühlen zu lassen, nicht um in ihnen Liebe zur Gerechtigkeit oder Hass gegen die Sünde zu erwecken. Zwischen ihnen und den Frommen besteht also folgender Unterschied: die Gottlosen sind niemals so blind und verhärtet in ihrem Sinn, dass ihr eignes Gewissen nicht zustimmen müsste, wenn man ihnen ihre Untaten vorhält. Es ist ja nicht jede Einsicht in den Unterschied von Gut und Böse erloschen. Zuweilen packt sie sogar ob des Gefühls ihrer Bosheit ein Schauder, und sie empfangen schon in diesem Leben einen Vorgeschmack der Verdammnis. Trotzdem haben sie ein ungebrochenes Wohlgefallen an der Sünde, und sie hegen dieselbe ohne wirklichen Widerstreit ihres Gefühls. Ihre Gewissensbisse entspringen mehr dem Widerspruch gegen das Gericht als aus einer innerlich widerstrebenden Willensrichtung. Die Frommen dagegen, in welchen die Erneuerung aus Gottes Kraft begonnen hat, sind innerlich in der Weise geteilt, dass die eigentliche Sehnsucht ihres Herzens zu Gott aufstrebt, die himmlische Gerechtigkeit sucht und sich hasserfüllt wider die Sünde kehrt; aber die Reste ihres fleischlichen Wesens ziehen sie wieder zur Erde zurück. In diesem inneren Kampfe tun sie deshalb ihrer Natur Gewalt an und erleiden umgekehrt Gewalt von ihr. Denn, dass sie die Sünde verwerflich finden, entspringt nicht bloß dem Urteil ihrer Vernunft, sondern kommt daher, dass sie dieselbe von ganzem Herzen hassen und sich in derselben missfallen. Das ist der Kampf des Christen, welchen Paulus Gal. 5, 17 beschreibt, der Kampf zwischen Geist und Fleisch. Demgemäß ist es recht geredet, dass der natürliche Mensch mit voller Zustimmung und Einwilligung des Gemüts sich in die Sünde stürzt, und dass der innere Zwiespalt erst anhebt, wenn die Berufung Gottes und die Heiligung durch seinen Geist einsetzt. Denn die Erneuerung geschieht in diesem Leben nur anfangs weise: ein Überrest des Fleisches bleibt, folgt immer seinen Begierden und erregt dadurch den Kampf wider den Geist. Unerfahrene Leute freilich, welche nicht beachten, welche Frage der Apostel erörtert und welche Ordnung sein Gedankengang einhält, lassen ihn hier die Natur des Menschen beschreiben. Nun findet sich ja eine derartige Beschreibung des menschlichen Geistesvermögens bei den Philosophen. Aber die Schrift hegt viel tiefere Gedanken; sie weiß, dass im Herzen des Menschen nur verkehrtes Wesen blieb, seit Adam das Ebenbild Gottes verlor. Die römischen Kirchenlehrer berufen sich auf unsere Stelle, wenn sie den freien Willen erläutern und die Kraft unserer Natur klarmachen wollen. Aber Paulus redet gar nicht von der bloßen Natur des Menschen, sondern beschreibt an dem Beispiel seiner eigenen Person Art und Umfang der Schwachheit der Gläubigen. Ich lege ein starkes Gewicht darauf, diese Tatsache festzustellen.
Ich weiß nicht. Dieser Ausdruck will besagen, dass Paulus die Taten, welche ihm die Schwachheit seines Fleisches aufdrängt, nicht als die seinen anerkennt; denn er hasst sie. Man könnte fast übersetzen: Ich billige nicht, was ich tue. Wir sehen also, dass die Lehre des Gesetzes in einem solchen Grade bei einem gesunden Urteil Zustimmung findet, dass die Gläubigen eine Übertretung des Gesetzes als etwas ganz Unerhörtes empfinden. Dabei versteht Paulus unter Gesetzesübertretung jeden Fehler der Frommen, neben welchem doch die Furcht Gottes und die allgemeine Absicht, gut zu handeln, noch bestehen bleibt. Er sagt: Ich tue nicht, was das Gesetz und was eigentlich auch ich selbst will -, weil er nicht alles vollkommen erfüllt, sondern mitten auf gutem Wege oft müde wird.
Denn ich tue nicht, was ich will. Das will nicht so verstanden sein, dass Paulus zu keiner Zeit habe irgendetwas Gutes ausrichten können. Vielmehr klagt er nur darüber, dass er nicht ausführen kann, was er sich vorsetzt, d. h. dass ihm die ersehnte Leichtigkeit fehlt, Gutes zu tun, weil er sich sozusagen gebunden sieht; und auf der andern Seite, dass er einen Fall tut, wo er nicht will, weil er vermöge der Schwachheit des Fleisches nur hinken kann. Eine fromme Seele tut das Gute nicht, das sie will, weil ihr die gehörige Festigkeit fehlt; sie tut das Böse, das sie nicht will, weil sie gern stehen möchte und doch zum Fallen oder wenigstens ins Wanken kommt. Also dieses „Wollen“ und „Nichtwollen“ schreibt Paulus dem Geiste zu, der in den Gläubigen die Führung hat. Freilich besitzt auch das Fleisch seinen „Willen“. Aber als Willen im eigentlichsten Sinne bezeichnet der Apostel nur das, worein er die entscheidende Zustimmung des Herzens legte. Was damit streitet, davon sagt er, dass er es nicht wolle. Aus alledem wird noch einmal deutlich, was wir schon ausführten, dass dem Paulus hier die Gläubigen vorschweben, in welchen die Gnadenwirkung des Geistes in irgendeinem Grade lebendig ist und das Zusammenstimmen eines gesunden Sinnes mit der Gerechtigkeit des Gesetzes zur Geltung bringt. Denn im Fleische schlägt solcher Hass gegen die Sünde keine Wurzel.
V. 16. So ich aber das tue usw. Wenn in der beschriebenen Weise mein Herz nach dem Gesetz sich ausstreckt und an seiner Gerechtigkeit Wohlgefallen hat (was doch entschieden der Fall ist, wenn ihm die Übertretung hassenswert erscheint), so muss es ja fühlen und zugestehen, dass das Gesetz gut ist. So wird erfahrungsmäßig festgestellt, dass man dem Gesetz nichts Böses zuschreiben darf, ja dass dasselbe sogar den Menschen heilsam sein würde, wenn sie es nur mit rechtem und reinem Herzen aufnehmen wollten.
V. 17. So tue nun ich dasselbe nicht. Das soll keine Entschuldigung sein, wie viele Schwätzer allerdings ihre Untaten gedeckt glauben, wenn sie dieselben auf das Fleisch abwälzen. Vielmehr will Paulus bezeugen, wie weit sich sein geistlich gerichteter Wille von der Bahn des Fleisches entfernt. Denn die Gläubigen haben einen brennenden Eifer, Gott zu gehorchen: deshalb verleugnen sie ihr Fleisch. Dieser Ausspruch beweist von neuem, dass Paulus nur von bereits wiedergeborenen Frommen redet. Denn solange der Mensch sich selbst gleich bleibt, mag er so groß werden wie er will, er bleibt doch durch und durch mit Sünde erfüllt. Paulus behauptet aber hier, dass ihn die Sünde nicht gänzlich ausfülle, ja er will sich über ihren Dienst erheben. Nur in einem Winkel des Herzens hat die Sünde noch ihren Sitz, der Mensch selbst streckt sich mit ernster, herzlicher Begier der Gerechtigkeit Gottes entgegen und beweist tatsächlich, dass er Gottes Gesetz im Herzen trägt.
18 Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht. 19 Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. 20 So ich aber tue, was ich nicht will, so tue ich dasselbe nicht, sondern die Sünde die in mir wohnt.
V. 18. Denn ich weiß usw. Der Apostel sagt, dass in ihm, wenn man seine Natur ansieht, nichts Gutes wohnt. Er hätte auch sagen können: Aus mir selbst habe ich nichts Gutes. Dieser erste Ausdruck, dass „in mir“ nichts Gutes wohnt, spricht ein unbegrenztes Verdammungsurteil. Dann aber lässt Paulus eine Art von Berichtigung folgen, um nicht undankbar gegen die Gnade Gottes zu erscheinen, welche doch auch in ihm wohnte, nur nicht in seinem Fleische. Dergleichen kann wiederum nicht von jedem beliebigen Menschen, sondern nur von einem Gläubigen gesagt werden, der wegen der Reste des Fleisches und der Gnadenwirkung des göttlichen Geistes in sich selbst geteilt erscheint. Denn was sollte jene Verbesserung, wenn nicht irgendein Teil vorschwebte, der von der Sünde frei und nicht Fleisch ist? Unter „Fleisch“ versteht der Apostel stets die gesamte Naturanlage des Menschen, den gesamten Inhalt seines Wesens -, abgesehen von der durch Gottes Geist gewirkten Heiligung. Dementsprechend ist der „Geist“, welcher nach sonst geläufigem Sprachgebrauch das Widerspiel des Fleisches bildet, ein Teil der Seele, welchen Gottes Geist vom Bösen gereinigt und so neu gebildet hat, dass in demselben Gottes Bild wieder aufleuchtet. Sowohl das „Fleisch“ als der „Geist“ greift also in die Seele hinein, der letztere, sofern sie wiedergeboren ist, das erstere, sofern sie noch ihre natürliche Art behalten hat.
Wollen habe ich wohl. Das soll nicht heißen, dass der Fromme lediglich eine ganz unwirksame Sehnsucht nach dem Guten hegt, sondern nur: die Ausführung der Tat bleibt immer hinter dem Wollen zurück; denn das Fleisch hemmt uns und hängt unserm Tun allerhand Unvollkommenheiten an. So will auch der alsbald folgende Satz (V. 19) verstanden sein: Das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Denn das Fleisch verzögert den Lauf der Gläubigen nicht nur, sondern drängt ihn auch durch mancherlei Hindernisse in eine falsche Bahn. Wir können kein vollkommen schuldfreies Werk tun. Paulus redet nicht von einzelnen zufälligen Fehlern der Frommen, sondern allgemein von ihrer ganzen Lebensführung. Daraus müssen wir schließen, dass auch unsere besten Werke mit einem sündigen Beisatz befleckt sind und keinen Lohn zu erwarten haben, wenn sie Gott nicht mit seiner Verzeihung deckt.
21 So finde ich mir nun ein Gesetz, der ich will das Gute tun, dass mir das Böse anhangt. 22 Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. 23 Ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern.
Hier ist in vierfachem Sinne vom „Gesetz“ die Rede. Im eigentlichen Sinne gebührt dieser Titel nur dem Gesetz Gottes als der allein wahren Regel der Gerechtigkeit, nach welcher unser Leben sich gestalten soll. Damit verknüpft der Apostel das Gesetz im Gemüte, d. h. die Hinneigung der gläubigen Seele zum Gehorsam gegen das göttliche Gesetz, die eine gewisse Anpassung unseres Wesens an das Gesetz Gottes bedeutet. Auf der andern Seite steht ein Gesetz der Ungerechtigkeit, welches aus der Herrschaft des verkehrten Wesens sowohl im unwiedergeborenen Menschen als auch im Fleische des wiedergeborenen entspringt. Heißen doch auch die Rechtsordnungen der Tyrannen, so ungerecht sie sein mögen, missbräuchlicher weise „Gesetze“. Diesem Gesetz der Sünde entspricht das Gesetz in den Gliedern d. h. die böse Lust, die an unsern Gliedern ihre beste Anknüpfung findet.
V. 22. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz. Hier tritt uns die innerliche Zerteilung im Gläubigen deutlich vor Augen, aus welcher jener Kampf zwischen Geist und Fleisch hervorgeht, welchen Augustinus einmal sehr schön „das Ringen der Christenseele“ nennt. Gottes Gesetz ruft den Menschen zu wahrer Frömmigkeit, seine verkehrte Art aber, die wie ein tyrannisches Gesetz Satans ihn regiert, treibt zu nichtswürdigen Taten. Der Geist zieht zum Gehorsam gegen das göttliche Gesetz, das Fleisch zieht nach der entgegen gesetzten Seite. So wird der Mensch zwiespältig, zwischen verschiedenen Strömungen des Willens umgetrieben. Aber weil der Geist das Übergewicht behalten soll, so betrachtet sich Paulus nach diesem vorzüglichsten Teile seines Wesens: er fühlt sich von seinem Fleische gefangen, weil er die noch immer wirksamen bösen Lüste im Hinblick auf den ganz anders gerichteten Geistestrieb als einen fremdartigen Zwang empfindet. Als inwendigen Menschen bezeichnet der Apostel nicht etwa einfach die Seele, sondern den von Gott geistlich erneuerten Teil des Menschenwesens. Für den übrig bleibenden Teil sagt er dann: Glieder (V. 23). Denn wie die Seele der vorzüglichere Teil des Menschen ist, der Leib der mehr untergeordnete, so ist der „Geist“ mehr als das „Fleisch“. Unter diesem Gesichtspunkte, dass der Geist die Stelle einnimmt, welche die Seele im Menschen hat, das Fleisch aber d. h. die verderbte und sündig-verkehrte Seele, die Stelle des Leibes; unter diesem Gesichtspunkte heißt der erstere „der inwendige Mensch“, der letztere „die Glieder“. In einem ganz andern Sinne ist 2. Kor. 4, 16 vom äußerlichen Menschen die Rede. Hier aber führt der Zusammenhang notwendig auf unsere Auslegung. Der Geist ist der inwendige Mensch, weil in seinem Besitze sich das Herz und die tiefsten Willensregungen befinden, während die Neigungen des Fleisches keine bleibende Wurzel schlagen können und mehr an der Außenseite des Menschen hängen. Hier ist ein Unterschied wie zwischen Himmel und Erde. „Glieder“ sagt der Apostel etwas verächtlich zur Beziehung alles dessen am Menschen, was äußerlich sichtbar ist. Im Gegensatz dazu entgeht die verborgene Erneuerung unsern Sinnen und übersteigt alle unsere Begriffe; man muss sie im Glauben fassen. Wenn nun unter dem „Gesetz im Gemüte“ eine gute Ausrichtung unserer Willensregungen verstanden wird, so merken wir von neuem an, dass dergleichen im noch unwiedergeborenen Menschen keinen Raum findet; dieser hat nach der Lehre des Paulus die rechte Gesinnung verloren, weil seine Seele die Bahn der Vernunft verließ.
24 Ich elender Mensch! wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? 25 Ich danke Gott durch Jesum Christum, unsern Herrn. So diene ich nun mit dem Gemüte dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleische dem Gesetz der Sünde.
V. 24. Ich elender Mensch! Ein leidenschaftlicher Ausruf schließt diese ganze Erörterung: wir sollen eben nicht bloß mit unserm Fleische ringen, sondern mit stetem Seufzen bei uns und vor Gott unser Unglück beklagen. Natürlich will der Apostel nicht im Ernst fragen, wer uns erlösen soll, wie die Ungläubigen, welche den einigen Erlöser nicht kennen, sondern wir hören hier die Stimme eines keuchenden und fast schon zusammenbrechenden Mannes, welcher keine hinreichende Hilfe in der Nähe sieht. Deshalb lautet auch das Wort, welches wir mit „erlösen“ wiedergeben, besonders kräftig. Es heißt eigentlich: „Wer wird mich herausreißen?“ Zu solcher Erlösung gehört eine ganz besondere Gotteskraft. Leib dieses Todes nennt der Apostel die sündige Masse oder den Stoff, aus welchem der ganze Mensch zusammengesetzt ist, welcher uns in seinen Banden hält. Manche Ausleger übersetzen nicht wie wir: „Dieser Leib des Todes“, sondern „der Leib dieses Todes“. Das muss als zulässig gelten, ändert aber wenig am Sinn. In jedem Falle will Paulus zeigen, dass die Kinder Gottes offene Augen haben, um die Verderbnis ihrer Natur und den daraus entspringenden Tod deutlich als einen Widerspruch gegen das Gesetz Gottes zu erkennen. „Leib“ steht hier in demselben Sinne, wie zuvor (V. 23) die Glieder oder der äußere Mensch. Denn Paulus sieht den Ursprung der Sünde darin, dass der Mensch von dem ihm schöpfungsmäßig eingeprägten Gesetz abfiel und dadurch fleischlich und irdisch wurde. Mag er noch immer besser sein als die unvernünftigen Tiere, so ist sein eigentlicher Vorzug doch dahin, und was davon blieb, ist voll von zahllosen Mängeln, und man mag wohl sagen, dass seine Seele, sofern sie sich selbst untreu wurde, ganz Leib geworden ist. So spricht Gott (1. Mo. 6, 3): „Mein Geist soll nicht weiter mit den Menschen streiten, denn sie sind Fleisch.“ Der Mensch hat die Erhabenheit seines Geistes verloren und ist dem Vieh gleich geworden.
Dieser bedeutsame Ausspruch des Apostels schlägt allen Ruhm des Fleisches nieder. Denn er lehrt uns, dass auch die Vollkommensten, solange sie in diesem Fleische wohnen, dem Elend und dem Tode unterworfen sind. Wenn sie sich durch und durch erforschen, werden sie in ihrer Natur nichts als Elend finden. Der gequälte Seufzer des Paulus soll uns nun eine Mahnung sein, nicht unserer Stumpfheit nachzugeben, und ein Antrieb, uns, solange wir auf Erden wallen, dem Tode entgegen zu sehnen, dem einzigen Heilmittel unseres Schadens. Hier wird aber der allein rechte Grund bezeichnet, der unsere Hoffnung auf den Tod richten soll. Auch Weltmenschen treibt ja oft die Verzweiflung, dass sie den Tod herbeisehnen: der Grund dafür ist aber mehr Lebensüberdruss als Ekel vor ihrer Sündhaftigkeit. Weiter werden gläubige Menschen, wie sehr sie auch ihrem Ziele entgegen eilen, sich doch nicht mit ungezügelter Heftigkeit den Tod wünschen; sie unterwerfen sich dem Willen des Gottes, dem wir leben und sterben sollen. Darum hört man aus ihrem Munde auch kein unwilliges Murren wider Gott, vielmehr schütten sie ihre Ängste betend in seinen Schoß aus. Der Gedanke an ihr Elend hält sie nicht so gefangen, dass sie darüber der empfangenen Gnade vergäßen; Freude mildert ihren Schmerz, wie es ja nun heißt:
V. 25. Ich danke Gott usw. Mit solchem Danke bricht der Apostel seine Klage ab, um nicht den Anschein zu erwecken, er wolle trotzig wider Gott reden. Wissen wir doch, wie nahe auch dem gerechten Schmerze der Absturz ins Murren und in die Ungeduld liegt! Paulus beklagt sein Schicksal und sehnt mit Seufzen dessen Ende herbei. Aber zugleich bekennt er sich zur Gnade Gottes, auf welcher seine Seele ausruht. Es ziemt den Heiligen nicht, wenn sie ihre Mängel prüfend betrachten, die bereits von Gott empfangene Gnade zu übersehen. Um die Ungeduld zu zügeln und den Frieden zu mehren, ist es ein treffliches Mittel, dass wir bedenken: Wir sind aufgenommen in Gottes Hut und können nie mehr verloren gehen, wir haben die Erstlinge des Geistes empfangen und dürfen darauf die gewisse Hoffnung unseres ewigen Erbes gründen. Genießen wir noch nicht die verheißene Herrlichkeit des Himmelreichs, so können wir uns doch mit der schon erreichten Stufe für jetzt zufrieden geben; denn es fehlt uns nie der Grund zur Freude.
So diene ich nun usw. Dies zusammenfassende Schlusswort lehrt, dass die Gläubigen, solange sie in ihrem Fleische wohnen, das Ziel der Gerechtigkeit niemals völlig erreichen. Sie sind in der Pilgerschaft, bis sie den Leib ausziehen. Unter dem Gemüte versteht der Apostel wiederum nicht einen Teil des menschlichen Geisteswesens, wie es von Natur ist, sondern den Geist des Menschen, wie er von Gott erleuchtet ward, um das Rechte zu empfinden und zu wollen. Paulus weiß sich als Gottes Eigentum und ihm ergeben -, ausgenommen die zahlreichen Flecken der Sünde, die ihn verunreinigen, da er noch auf der Erde kriechen muss. Eine bemerkenswerte Aussage, welche die auch heute wieder auftauchende verderbliche Irrlehre widerlegt, als ob der Mensch schon hier auf Erden sündlos werden könne!
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Der Römerbrief - Kapitel 8
Johannes Calvin
1 So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. 2 Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. 3 Denn was dem Gesetz unmöglich war (sintemal es durch das Fleisch geschwächt ward), das tat Gott und sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches und der Sünde halben und verdammte die Sünde im Fleisch, 4 auf dass die Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist.
Der Kampf, welchen die Frommen stetig wider ihr Fleisch zu führen haben, bietet nun dem Apostel erneuten Anlass, den nötigen Trost zu spenden; mag die Sünde noch immer an uns haften, so sind wir doch bereits der Macht des Todes und jeglichem Verdammungsurteil entnommen -, wenn anders wir nicht im Fleisch wandeln, sondern im Geist. Drei Stücke also treffen hier zusammen: die Unvollkommenheit, an welcher die Gläubigen noch immer leiden, Gottes Güte, die nicht müde wird, zu vergeben und zu verzeihen, und die Erneuerung durch den Geist. Dies letzte kommt hinzu, damit niemand mit dem Irrtum sich betrüge, dass er voller Sicherheit dem Fleische etwas nachgeben dürfe, da ja kein Verdammungsurteil mehr besteht. Der fleischlich gesinnte Mensch, welcher Gottes Gnade zum Vorwand nimmt, ohne Besserung seines Lebens an eine Verzeihung zu glauben, wird sich betrogen sehen. Aber die erschreckten Gewissen der Frommen finden die unüberwindliche Zuflucht: solange wir in Christus bleiben, droht uns keine Gefahr der Verdammnis. Nunmehr wird es nützlich sein, die Worte im Einzelnen zu erwägen. Nach dem Geist wandeln heißt nicht: gar keine Anfechtung mehr vom Fleische erfahren und ein überirdisches Leben voller Vollkommenheit führen -, sondern: Fleiß tun, das Fleisch zähmen und zu töten und merken lassen, dass wir von ernster Gottesfurcht regiert sein wollen. Die solches tun, wandeln nicht nach dem Fleisch,, weil wahre Gottesfurcht die Herrschaft der Sünde bricht, wenn auch noch einzelne Gebrechen bleiben.
V. 2. Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht usw. Dieser Satz dient zur Begründung des vorigen. Um aber den inneren Zusammenhang zu verstehen, gilt es zunächst die Worte zu erklären. „Gesetz des Geistes“ heißt uneigentlicher weise Gottes Geist, welcher unsere Seele mit Christi Blut besprengt, nicht bloß um die Schuld der Sünde zu tilgen, sondern auch sie wahrhaftig rein und heilig zu machen. Dieser Geist, so fügt der Apostel hinzu, macht lebendig, woraus sich abnehmen lässt, dass, wer den Menschen unter dem Buchstaben des Gesetzes festhalten will, ihn dem Tode ausliefert. Auf der andern Seite steht das Gesetz der Sünde und des Todes d. h. die Herrschaft des Fleisches und die daraus folgende Tyrannei des Todes. In der Mitte würde Gottes Gesetz zu stehen kommen, welches zwar Gerechtigkeit lehrt, aber nicht schaffen kann, sondern uns nur fester an die Knechtschaft der Sünde und des Todes binden muss. Nun wird der Sinn deutlich: dass das Gesetz Gottes den Menschen Verdammnis bringt, kommt daher, dass, solange sie ihm verpflichtet bleiben, das Joch der Sünde und demgemäß der Fluch des Todes sie drückt. Der Geist Christi aber, welcher die unordentlichen Begierden des Fleisches bessert und so das Gesetz der Sünde in uns bricht, befreit uns zugleich von dem Rechtsanspruch, welchen der Tod an uns hat. Nun scheint allerdings der Einwand nahe zu liegen, dass auf diese Weise die Vergebung, welche unsere Sünden begräbt, von der Erneuerung des Lebens abhängig wird. Doch es ist leicht einzusehen, dass Paulus hier nicht angibt, auf welchen Grund sich die Sündenvergebung stützt, sondern unter welchen Umständen sie sich vollzieht. Und er lehrt, dass wir durch die äußeren Vorschriften des Gesetzes nichts erreichen; erst wenn Gottes Geist uns ermuntert, erfahren wir zugleich die Rechtfertigung aus freier Gnade, welche das auf der Sünde ruhende Verdammungsurteil aufhebt. Kurz gesagt: die Gnadengabe der Erneuerung lässt sich von der Zurechnung der Gerechtigkeit niemals trennen.
V. 3. Denn was dem Gesetz unmöglich war. Jetzt muss der eben ausgesprochene Begründungssatz selbst erläutert und begründet werden: Gott konnte uns nur durch freie Gnade in Christus rechtfertigen -, denn dies zu vollbringen war für das Gesetz unmöglich. Damit deutet der Apostel auf den Mangel des Gesetzes: Gott musste selbst ein anderweitiges Heilmittel schaffen. Das Gesetz fordert mehr, als wir leisten können. Deshalb konnte es uns keine Gerechtigkeit bringen: Christus erst hat die Sünden durch seinen Tod gesühnt. Unsere Verse handeln nämlich nicht etwa von der Erneuerung, die uns Christus schenkt, sondern lediglich von der Rechtfertigung aus Gnaden, von der Verzeihung, kraft deren Gott uns mit sich versöhnt. Dies geht daraus hervor, dass Paulus für nötig hält, zuletzt (V. 4) noch einmal hinzuzufügen: „Die wir nun nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist.“ Denn wenn die eigentliche Ausführung bereits hätte sagen wollen, dass der Geist der Erneuerung uns Kraft zum Niederkämpfen der Sünde gibt, so wäre dies ein ganz überflüssiger Zusatz, eine bloße Wiederholung. Ist aber von der Vergebung aus freier Gnade die Rede, so passt es trefflich, dass Paulus nun nachträglich diese Vergebung nur auf die Leute beschränkt, welche zum Glauben die Buße fügen und Gottes Gnade nicht in fleischlicher Zügellosigkeit missbrauchen. Sintemal es durch das Fleisch geschwächt ward. Der eigentliche Fehler liegt also nicht im Gesetz, sondern in unserm Fleische. Wenn jemand das Gesetz vollkommen halten könnte, würde er gerecht vor Gott dastehen. Die Lehre des Gesetzes ist tadellos und gibt uns die vollkommene Regel der Gerechtigkeit. Weil aber unser Fleisch diese Gerechtigkeit nicht zu erreichen vermag, wandelt sich die ganze Kraft des Gesetzes in Schwachheit. Und diese „Schwachheit“ ist nicht etwa bloß ermäßigte Kraft, sondern völliges Unvermögen. Das Gesetz kann zu unserer Rechtfertigung gar nichts beitragen. Jede Gerechtigkeit aus Werken fällt dahin: in Christus müssen wir die Gerechtigkeit suchen, die wir in uns nicht finden. Dies ist ein Hauptgrundsatz der christlichen Wahrheit; denn wir können nicht eher mit Christi Gerechtigkeit bekleidet werden, als bis wir unsere eigne Blöße klar erkannt haben. Das „Fleisch“, durch welches das göttliche Gesetz seine Segenskraft verliert, so dass es uns den Weg der Gerechtigkeit zeigen, aber nicht vom tödlichen Absturz zurückhalten kann -, sind wir selbst.
Sandte seine Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches. Damit zeigt der Apostel, in welcher Weise der himmlische Vater uns durch seinen Sohn die Gerechtigkeit geschaffen hat: er hat in Christi eignem Fleische der Sünde das Verdammungsurteil gesprochen, d. h. er hat den Schuldschein zerrissen und damit die Schuld getilgt, die uns vor Gott gebunden hielt. Ist die Sünde verurteilt, so werden wir gerecht und frei: die Schuld ist getilgt, und Gott sieht uns an, als wären wir gerecht. Zuerst heißt es nun mit Nachdruck, dass Christus gesandt worden sei: also liegt die Gerechtigkeit keineswegs in uns, sondern will bei ihm geholt sein; umsonst vertrauen die Menschen auf ihre Verdienste, denn sie haben nur eine geschenkte Gerechtigkeit. Sie empfangen ihre Gerechtigkeit durch die Sühne, welche Christus in seinem Fleische vollbracht hat. Christus kam „in der Gestalt des sündlichen Fleisches“. Zwar hingen keine Flecken der Sünde an dem Fleische Christi, doch glich dasselbe unserm sündlichen Fleische, denn es trug die Strafe unserer Sünden. Es war dem Tode unterworfen, und der ließ an ihm alle seine Kraft aus. Und da unser Hoherpriester durch eigne Erfahrung lernen musste, was es heißt, ein Heiland der Schwachen sein -, so wollte Christus alle unsere Schwachheit tragen, um desto inniger mit uns zu fühlen (Hebr. 2, 18; 4, 15): auch darauf will es bezogen sein, dass Christus in der Gestalt des sündlichen Fleisches erschienen ist. Und verdammte die Sünde. D. h. die Sünde behielt Unrecht in dem Rechtsstreit. Gott lässt ihr hinfort kein Anrecht auf diejenigen, welche durch Christi Opfer Verzeihung empfangen haben. Das Reich der Sünde, das uns gefangen hielt, ist zerbrochen. Denn Christus nahm auf sich, was unser war, um uns zu schenken, was ihm gehörte. Er trug unsern Fluch und gab dafür seinen Segen. Paulus fügt hinzu: im Fleisch. Damit stärkt er unsere Zuversicht und macht uns gewiss, dass die Sünde im Bereiche unserer eignen Natur besiegt und beseitigt ward. So gewinnt unsere Natur Anteil an Christi Sieg.
V. 4. Auf dass die Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, in uns erfüllt würde. Wenn man hier ausgesprochen findet, dass wir selbst, durch Christi Geist erneuert, das Gesetz erfüllen -, so trägt man einen dem Paulus ganz fremden, irreführenden Gedanken in den Text ein. Solange die Gläubigen auf der irdischen Pilgerschaft sich befinden, erreichen sie nie eine Vollkommenheit, auf die ihre Gerechtigkeit sich gründen ließe. Man muss vielmehr auch hier an die Vergebung denken: wenn Gott den Gehorsam Christi als für uns dargebracht annimmt, so ist dem Gesetz Genüge geschehen, so dass wir als gerecht gelten können. Die vom Gesetz erforderte Gerechtigkeit ward eben deshalb in unserm Fleische geleistet, damit die Macht des Gesetzes, uns zu verurteilen, gebrochen würde. Weil aber Christus niemandem seine Gerechtigkeit mitteilt, ohne ihn zugleich durch das Band seines Geistes mit sich zu vereinigen, so deuten die letzten Worte des Verses auch auf die Erneuerung des Lebens: Christus soll nicht als Diener der Sünde dastehen -, wie ja viele nur zu gern die Lehre von Gottes väterlicher Gnade für die Zügellosigkeit des Fleisches ausbeuten, andere dagegen diese Lehre schmähen, als ob sie den Eifer für ein rechtes Leben ertöten müsste.
5 Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. 6 Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. 7 Denn fleischlich gesinnt sein ist eine Feindschaft wider Gott, sintemal das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag´ s auch nicht. 8 Die also fleischlich sind, können Gott nicht gefallen.
V. 5. Denn die da fleischlich sind usw. Diese Ausführungen über den Gegensatz von Fleisch und Geist haben einen doppelten Zweck. Zunächst sollen sie durch den Hinweis auf das Widerspiel zeigen (was der Apostel zuvor ausgesprochen), dass an Christi Gnade nur Teil haben kann, wer vermöge der Erneuerung des Geistes auf ein reines Leben sich bedacht zeigt. Zugleich sollen aber auch die Gläubigen einen Trost empfangen, wenn der Blick auf ihre vielfachen Schwachheiten ihnen den Mut rauben will. Denn wenn (vgl. V. 1) nur diejenigen der Verdammnis entrissen sein sollen, welche nach dem Geist wandeln, so könnte damit wieder allen Sterblichen die Heilshoffnung zu entschwinden drohen. Denn wer besitzt den Schmuck einer so engelgleichen Reinheit, dass er gar nichts mehr mit dem Fleische zu schaffen hätte? Deshalb musste der Apostel unbedingt noch weitere Auskunft darüber geben, was es heißen soll: fleischlich sein und nach dem Fleische wandeln. Wenn er sagt: die da fleischlich sind, richten ihr Sinnen und Trachten auf das, was des Fleisches ist -, so versteht man ja, dass er solche Leute, die sich nach der himmlischen Gerechtigkeit wahrhaft sehnen, nicht für fleischlich erklärt, sondern nur solche, welche sich ganz der Welt übergeben. Trotz aller fleischlichen Anhängsel mögen also die Gläubigen sich trösten. Sie sollen nur nicht ihren Begierden die Zügel schießen lassen, sondern sich der Leitung des Heiligen Geistes unterstellen. Nur denen wird die Gotteskindschaft abgesprochen, welche den Lockungen des Fleisches nachgeben und ihre Gedanken mit vollem Eifer an verderbte Begierden hängen. Andererseits: wo der Geist die Oberherrschaft hat, da ist dies ein Anzeichen der göttlichen Gnadenwirkung -, und da, wo die Herrschaft des Fleisches den Geist ganz erdrückt hat, findet Gottes Gnade keinen Raum mehr.
V. 6. Aber fleischlich gesinnt sein, ist der Tod usw. Obgleich der Grundtext diesen Satz mit „denn“ oder „nämlich“ anschließt, ist die Übersetzung „aber“ am passendsten; denn der Zusammenhang zeigt, dass die soeben beschriebene fleischliche Art bis in ihre letzten Konsequenzen verfolgt werden soll. So wird durch den Gegensatz bewiesen, dass, die im Fleische sind, Christi Gnade nicht ergreifen können, denn die ganze Richtung ihres Lebens zielt ja im Gegenteil auf den Tod. Dagegen lässt sich aus dem zweiten Satzgliede schließen, dass, wo nur irgendetwas in uns sich nach dem Leben ausstreckt, sich darin schon die Wirkung des Geistes offenbart; denn aus dem Fleische könnte man keinen einzigen Lebensfunken hervorlocken. Als das Ziel, worauf der Sinn des Geistes sich richtet, nennt der Apostel das Leben; denn der Geist spendet Leben oder führt zum Leben.
Der Friede begreift dann nach hebräischer Denkweise das Vollmaß des Glückes in sich. Denn alles, was Gottes Geist in uns wirkt, tut er zu unserer Seligkeit. Unser Satz darf nun nicht zu dem Irrtum verleiten, als gründe sich das Heil doch irgendwie auf die Werke. Denn wenn auch Gott Anfang und Fortgang des Heils dadurch in uns schafft, dass er uns nach seinem Ebenbilde erneuert -, so liegt der einzige Grund dafür doch in seinem Wohlgefallen, welches uns zu Gliedern Christi macht.
V. 7. Denn fleischlich gesinnt sein ist eine Feindschaft wider Gott. Jetzt folgt der Beweis für die vorige Behauptung, dass der Fleischessinn zum Tode führe: er tut dies, weil er wider Gottes Willen ankämpft. Gottes Wille ist ja der Maßstab dessen, was recht ist. Was ihm widerstreitet, ist unrecht. Was aber unrecht ist, wirkt immer tödlich. Ist Gott wider uns und unser Feind, so wird man vergeblich auf Leben hoffen. Denn seinem Zorne folgt der Tod auf dem Fuße nach. Sintemal das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist. Eine Erläuterung des vorigen Satzes, welche zeigt, wieso alle Gedanken des Fleisches wider Gottes Willen streiten: weil man nämlich den Willen Gottes nur dort erkennt, wo er ihn offenbart hat. In seinem Gesetz zeigt uns Gott, was er haben will. Wer also in Wahrheit prüfen möchte, ob er mit Gott einig ist, soll an diesem Maßstab sein Denken und Treiben messen. Denn es vermag´ s auch nicht. So steht es mit der Kraft des freien Willens, welche oberflächliche Moralprediger bis in den Himmel erheben! Gegenüber diesem geläufigen Irrtum sagt Paulus hier mit klaren Worten, dass wir unsere Triebe nicht zum Gehorsam gegen das Gesetz zu zwingen vermögen. Jene Moralprediger sagen, dass das Herz sich nach beiden Seiten hin entscheiden könne; wenn nur der Geist einen leisen Anstoß gebe, so stehe es in unserer Macht, zwischen Gut und Böse zu wählen; es gäbe demgemäß gute Regungen unserer Natur, welche als Vorbereitungen für den Empfang der Gnade zu gelten hätten. Paulus dagegen verkündet, dass unser Herz von Härtigkeit und ungezähmtem Widerspruchsgeist strotzt, so dass es natürlicherweise nie bereit sein wird, sich dem Joch des Herrn zu beugen. Dabei handelt es sich auch nicht um diese oder jene einzelne Neigung, sondern unterschiedslos um alle unsere Herzensregungen. Möge darum jener heidnisch-philosophische Satz vom freien Willen kein Christenherz vergiften! Wer sich selbst kennt, wird bekennen, dass er ein Knecht der Sünde ist, welchen erst Christi Gnade frei machen muss (Joh. 8, 34.36). Sich einer andern Freiheit zu rühmen ist vollendete Torheit.
V. 8. Die also fleischlich sind usw. Absichtlich habe ich das „aber“ des griechischen Textes durch „also“ wiedergegeben; denn das Wörtlein hat hier sicher einen folgernden Sinn. Der Apostel zieht den Schluss des ganzen Gedankenganges: Wer sich von den Begierden des Fleisches treiben lässt, ist dem Herrn verhasst. Damit ist der vollständige Beweis für die Behauptung geliefert, dass alle, die nicht nach dem Geiste wandeln, Christus fremd und vom Leben aus Gott ferne sind.
9 Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. 10 So aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. 11 So nun der Geist des, der Jesum von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird auch derselbe, der Christum von den Toten auferweckt hat, eure sterblichen Leiber lebendig machen um deswillen, dass sein Geist in euch wohnt.
V. 9. Ihr aber usw. Den bisher entwickelten allgemeinen Grundsatz wendet der Apostel nun auf seine Leser an. Dadurch soll die persönlich zugespitzte Rede nicht bloß eindrücklicher werden -, die Leser sollen auch einen Maßstab in die Hand bekommen, um festzustellen, ob sie zu der Zahl derer gehören, welche Christus vom Fluch des Gesetzes entlastet hat. Die Darlegung dessen, was Gottes Geist in den Auserwählten schafft und zeitigt, wird zugleich zu einer Mahnung, in einem neuen Leben zu wandeln. So anders Gottes Geist in euch wohnt. Diese Einschränkung der soeben vernommenen persönlichen Ansprache soll die Leser erinnern, sie möchten sich selbst prüfen, ob sie nicht Christi Namen vergeblich tragen. Hier steht nun das sicherste Kennzeichen, an welchem man die Kinder Gottes von den Kindern der Welt unterscheiden kann: Gottes Kinder sind durch Gottes Geist zu einem neuen, heiligen Leben wiedergeboren. Weiter lehrt unsere Stelle vollends deutlich, was wir schon mehrfach anmerkten, dass Paulus unter „Geist“ nicht Verstand oder Vernunft versteht, die vorzüglichste Seelenkraft im Menschen, welche vermöge des freien Willens die niederen Triebe beherrscht -, sondern eine besondere göttliche Gabe. „Geistlich“ sind nicht, die aus eignem Antrieb der Vernunft gehorchen, sondern welche Gott mit seinem Geist regiert. Beachtenswert erscheint endlich, dass es hier nicht heißt: welche vom Geist Gottes erfüllt sind (was in diesem Leben von niemandem gesagt werden kann), sondern: in welchen der Geist Gottes wohnt. Dabei mögen die Überbleibsel fleischlichen Wesens sich noch genug spürbar machen: Wo Gottes Geist wohnt, besitzt er doch die höhere Macht und bringt den Menschen in seine Gewalt.
Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. Dieser Zusatz soll zeigen, wie nötig für den Christen Verleugnung des Fleisches ist. Herrschaft des Geistes bedeutet den Untergang für das Fleisch. Leute, in welchen der Geist Gottes nicht regiert, gehören Christus nicht an. Wer dem Fleische dient, ist kein Christ. Wenn man den Herrn Christus von seinem Geist trennen will, so macht man ihn zu einem toten Schatten oder zu einem Leichnam. Des Apostels Absicht ist dagegen, die Vergebung der Sünden nie ohne die Erneuerung durch den Geist zu denken: wer beides trennen will, zerreißt den Herrn Christus. Freilich erklären es manche Leute für Hochmut, wenn wir zu sagen wagen, dass Christi Geist in uns wohne. Aber entweder muss man Christus verwerfen, oder bekennen, dass man durch seinen Geist ein Christ ist. Wie entsetzlich weit sind doch die Menschen von Gottes Wort abgekommen, dass sie behaupten, Christen zu sein, und wagen doch nicht zu sagen, dass sie den Heiligen Geist haben! Ja, sie verlachen uns gar, wenn unser Glaube sich dazu bekennt.
Übrigens will bemerkt sein, dass der Heilige Geist einmal als Geist Gottes, unmittelbar danach aber als Geist Christi bezeichnet wird. Dies geschieht nicht bloß deshalb, weil auf Christus als unsern Mittler und unser Haupt die ganze Fülle des Heiligen Geistes ausgegossen ward, um von ihm aus auf jeden von uns in seinem Maße weiter zu fließen -, sondern auch, weil derselbe Geist dem Vater und dem Sohne gehört, welche ja eines Wesens sind und die gleiche ewige Gottheit besitzen. Weil aber nur durch Christus uns ein Zugang zum Vater eröffnet ward, geht die Rede des Apostels sehr geschickt von dem Vater, der uns zunächst ferne zu stehen scheint, zu Christus über.
V. 10. So aber Christus in euch ist. Was soeben vom Geist gesagt wurde, gilt jetzt auch von Christus. So wird deutlich, in welcher Weise Christus in uns wohnt. Wie er uns nämlich durch den Geist zu seinem Tempel heiligt, so wohnt er auch durch denselben in uns. So ist der Leib zwar tot um der Sünde willen. Was wir schon mehrfach angedeutet fanden, steht hier mit ausdrücklichen Worten: die Kinder Gottes sind nicht deshalb „geistlich“, weil sie etwa schon in ausgereifter Vollkommenheit dastünden, sondern nur weil ein neues Leben in ihnen seinen Anfang genommen hat. Dies spricht der Apostel geflissentlich aus, um jedem Zweifel zuvorzukommen, der uns sonst leicht beunruhigen könnten. Denn wenn auch der Geist in uns Wohnung gemacht hat, so sehen wir doch einen andern Teil unseres Wesens noch immer unter der Gewalt des Todes. So prägt uns der Apostel ein: Der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen, und dieses Leben wird unsern Tod verschlingen. Wir dürfen geduldig warten, bis die Reste der Sünde vollends schwinden. Natürlich ist unter diesem „Geist“ wiederum nicht unsere Seele zu verstehen, sondern Gottes Geist, welcher die Erneuerung wirkt. Derselbe ist Leben: nicht bloß, weil er in uns lebt und webt, sondern weil seine Lebenskraft auch uns Leben schafft und uns endlich vollkommen erneuern wird, nachdem wir das sterbliche Fleisch ausgezogen. Im Gegensatz dazu bezeichnete Paulus als „Leib“ die noch unerneuerte gröbere Masse, welche der Geist Gottes noch nicht vom Erdenschmutz gereinigt hat. Denn dem Leibe im gewöhnlichen Sinne die Schuld der Sünde aufzubürden, wäre doch eine Torheit. Andererseits trägt auch die Seele nicht ein solches Leben in sich, dass sie an und für sich „Leben“ heißen dürfte. Der Sinn des Apostels ist also der: wenn auch die Sünde uns noch an den Tod bindet, sofern ja die Verderblichkeit der alten Natur uns noch anhaftet -, so wird doch Gottes Geist den Sieg behaupten. Haben wir auch nur die Erstlinge des Geistes empfangen, so ist doch schon ein Fünklein desselben ein Samenkorn des Lebens.
V. 11. So nun der Geist des usw. Eine Bestätigung des vorigen Satzes, die auf der beobachteten Kraft des Geistes fußt: wenn durch die Macht des Geistes Gottes Christus auferweckt ward, und der Geist solche Macht in Ewigkeit behält -, so wird er diese auch an uns beweisen. Dabei darf der Apostel ohne weiteres voraussetzen, dass in Christi Person ein Beweis der Kraft gegeben ward, welche dem ganzen Leibe der Gemeinde zugute kommen soll. Der Jesus von den Toten auferweckt hat. Diese Umschreibung passt besser für den vorliegenden Gedankengang, als wenn der Apostel einfach geschrieben hätte: Gottes. Ebenso wird die Kraft, Christus aufzuwecken, dem Vater zugeschrieben, nicht Christus selbst; so erforderte es die Absicht des Gedankens. Wäre von Christi eigener Kraft die Rede, so würde der Einwurf nahe liegen: Christus besaß eine Fähigkeit der Auferstehung, welche allen andern Menschen abgeht. Heißt es aber: Gott hat Christus auferweckt durch seinen Geist und hat von diesem Geist auch uns mitgeteilt -, so kann gegen diesen gewissen Grund der Auferstehungshoffnung kein Einwand mehr erhoben werden. Daneben behält Christi Wort (Joh. 10, 18) seine volle Wahrheit: „Ich habe Macht, mein Leben zu lassen, und habe Macht, es wieder zu nehmen.“ Denn Christi Auferstehung erfolgte sicher durch die ihm eigene Kraft. Aber wie überhaupt der Sohn alles auf den Vater zurückführt, was von göttlicher Kraft in ihm ist (z. B. Joh. 5, 26), so schreibt auch der Apostel hier nicht mit Unrecht dem Vater zu, was in Christus das am meisten kennzeichnende Werk des göttlichen Wesens war.
Als sterbliche Leiber bezeichnet Paulus, wie wir schon oft bemerkt (vgl. 7, 24), den Teil unseres Wesens, der noch dem Tode unterworfen bleibt. Daraus lässt sich abnehmen, dass er nicht kurzweg nur an die letzte Auferstehung denkt, welche in einem Augenblick geschieht, sondern an das fortwährende Wirken des Geistes, welches die Reste des Fleisches allmählich tötet und das himmlische Leben in uns wirken lässt.
12 So sind wir nun, liebe Brüder, Schuldner nicht dem Fleisch, dass wir nach dem Fleisch leben. 13 Denn wo ihr nach dem Fleisch lebet, so werdet ihr sterben müssen; wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tötet, so werdet ihr leben. 14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
V. 12. So sind wir nun, liebe Brüder usw. Nunmehr wird der Schluss aus den vorangehenden Ausführungen gezogen. Wenn es gilt, dem Fleische abzusagen, so dürfen wir nichts mehr mit demselben zu schaffen haben. Wiederum, wenn der Geist in uns regieren soll, so wäre es ja töricht, wenn wir nicht auf jeden seiner Winke achten wollten. Übrigens bringt die Rede dieses letzte Glied nicht förmlich zum Ausdruck. Aber nach seinem Gedankengange hätte der Apostel wohl fortfahren können: Wir sind vielmehr Schuldner dem Geiste, dass wir nach dem Geiste leben. Hinter dieser ganzen Folgerung birgt sich nur die Absicht, uns zu mahnen. So leitet ja der Apostel überall seine Ermahnungen aus der Lehre ab. Z. B. Eph. 4, 30: „Betrübet nicht den Heiligen Geist Gottes, damit ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung.“ Gal. 5, 25: „So wir im Geist leben, so lasset uns auch im Geist wandeln.“ Das geschieht aber, wenn wir den fleischlichen Begierden entsagen und uns der Gerechtigkeit Gottes zu Dienst stellen. Eben diesen Schluss müssen wir ziehen, nicht den entgegen gesetzten, wie einige Lästerer tun, die da faseln, man dürfe ruhig die Hände in den Schoß legen, da wir ja nichts vermöchten. Es heißt aber, wider Gott streiten, wenn man in solcher wegwerfenden Nachlässigkeit seine Gnade vergeblich empfängt.
V. 13. Denn wo ihr nach dem Fleisch lebet usw. Diese Drohung wird hinzugefügt, um die Trögen vollends aus ihrer Stumpfheit aufzurütteln. Hier empfangen auch solche Leute eine Widerlegung, welche sich der Rechtfertigung aus Glauben rühmen und doch vom Geiste Christi nichts wissen wollen. Allerdings wird ihr eignes Gewissen sie schon hinlänglich schlagen; denn wo nicht zugleich Liebe zur Gerechtigkeit ist, da kann auch keine Zuversicht zu Gott bestehen. Gewiss ist es richtig, dass wir allein durch Gottes Erbarmen in Christus Rechtfertigung empfangen. Aber ebenso wahr ist auch das andere, dass jeder, der die Rechtfertigung empfängt, vom Herrn berufen wird, um seiner Berufung würdig zu wandeln. Die Gläubigen mögen also lernen, bei Christus nicht bloß Gerechtigkeit, sondern auch Heiligung zu suchen; denn für beides ward er uns gegeben, und er will nicht um eines verstümmelten Glaubens willen sich auseinander reißen lassen.
Wo ihr aber durch den Geist usw. Jetzt ermäßigt Paulus seinen Spruch auch wieder, um nicht den Frommen, die sich noch mancher Schwachheit bewusst sind, allen Mut zu nehmen. Mögen wir noch immer nicht von unsern Sünden los sein, so spricht uns Paulus dennoch das Leben zu: nur dass wir eifrig fortfahren, die Geschäfte des Fleisches zu töten. Jetzt fordert Gott von uns nicht, dass das Fleisch schon gänzlich tot sei, sondern nur, dass wir mit ganzem Ernst seine Begierden zügeln.
V. 14. Denn welche der Geist Gottes treibt usw. Dieser Satz dient zum Beweise der letztvorangehenden Aussage. So ergibt sich folgende Schlusskette, deren mittleres Glied als eine selbstverständliche Wahrheit ergänzt werden muss; welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder; alle Kinder Gottes aber sind Erben des ewigen Lebens. Also können diejenigen des ewigen Lebens gewiss sein, welche der Geist Gottes treibt. Diese Erwägung ist geeignet, auf der einen Seite das hohle Vertrauen bloßer Namenschristen zu erschüttern, auf der andern Seite aber die Gläubigen anzuleiten, eine immer festere Gewissheit ihres Heils zu erringen. Übrigens soll angemerkt sein, dass der Geist Gottes in verschiedener Weise „treibt“. Es gibt ein allgemeines Geisteswirken, welches alle Kreaturen trägt und bewegt. Es gibt weiter auch in den Menschen die verschiedenartigsten Geisteswirkungen. Hier aber ist von der Heiligung die Rede, welche der Herr seinen Auserwählten schenkt, wenn er sie als seine Kinder annimmt.
15 Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater! 16 Derselbe Geist gibt Zeugnis mit unserm Geist, dass wir Kinder Gottes sind. 17 Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, so wir anders mit leiden, auf dass wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden. 18 Denn ich halte es dafür, dass dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden.
V. 15. Nun verweilt der Apostel dabei, wie diese Gewissheit des Glaubens, in welcher die Gläubigen ihre Ruhe finden sollen, eine weitere Stärkung empfängt: es geschieht durch eine besondere Wirkung des Geistes, der uns nicht gegeben ward, um uns in der Furcht hin und her zu werfen oder mit Ängstlichkeit zu quälen, sondern um alle Unruhe zu stillen, unserm Geist den Frieden zu schenken und uns zu freier und fröhlicher Anrufung Gottes zu erwecken. Der Apostel hält sich also weniger an das erste Glied seiner bisherigen Beweisführung, dass man ohne Gottes Geist kein Kind Gottes sein könne. Er verweilt vielmehr bei der Kehrseite und redet von Gottes väterlicher Liebe, welche den Seinen die noch anhaftende Schwachheit des Fleisches und ihre Fehler verzeiht. Den Glauben an diese Liebe gründet er auf den Geist der Kindschaft, welcher uns ja nicht Mut zu kindlichem Gebet einflößen könnte, wenn er uns nicht zugleich der freien, gnädigen Vergebung gewiss machte. Um nun in diesem Stück besonders deutlich zu sein, unterscheidet Paulus einen doppelten Geist: den Geist der Knechtschaft, den wir aus dem Gesetz schöpfen können, und den Geist der Kindschaft, welcher aus dem Evangelium stammt. Der erste ward einst gegeben, und man musste sich fürchten. Den andern empfangen wir jetzt, und unsere Seele wird stille. Es ist offensichtlich, wie dieser Gegensatz unsere Heilsgewissheit stärken muss. Desselben Kontrastes bedient sich auch der Verfasser des Hebräerbriefes (12, 18.22.24): Ihr seid nicht gekommen zu dem Berge Sinai, wo alles so schrecklich war, dass das Volk, wie von einer gegenwärtigen Predigt des Todes betroffen, bat, es möchte ihm nichts mehr gesagt werden, und Moses selbst gestehen musste, dass er sich fürchte; sondern ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, wo Jesus ist, der Mittler des Neuen Bundes usw. Aus dem „abermals“ schließen wir, dass Paulus an unserer Stelle das Evangelium dem Gesetz gegenüberstellen will: solche unschätzbare Wohltat verdanken wir dem Sohne Gottes, dessen Ankunft uns für alle Zukunft von der drückenden Herrschaft des Gesetzes frei machte. Doch darf man daraus weder schließen, dass vor Christi Ankunft noch niemand den Kindschaftsgeist besessen habe, noch dass alle, die das Gesetz vernahmen, lediglich Knechte und durchaus nicht Kinder gewesen seien. Paulus vergleicht nur im Allgemeinen die Ordnung des Gesetzes mit der Ordnung des Evangeliums, und er fragt gar nicht, wie es mit einzelnen Persönlichkeiten bestellt gewesen. Gewiss werden die Gläubigen hier auch erinnert, wie viel gnädiger Gott mit uns handelt als einst mit den Vätern unter dem Alten Bunde. Aber bei alledem hat der Apostel nur die äußere Ausbreitung des Evangeliums im Auge. Nur unter diesem Gesichtspunkte stehen wir höher als die Väter. Rein persönlich betrachtet war der Glaube eines Abraham, Moses oder David sicher weit größer als der unsrige; aber diese alle standen noch unter der erziehenden Vorbereitung und hatten deshalb die Freiheit, die uns eröffnet ist, noch nicht erlangt. Zugleich wird zu bedenken sein, dass Paulus diesen Unterschied zwischen den Knechten des Gesetzesbuchstabens und den Gläubigen, welchen der himmlische Meister Christus neben dem äußeren Schall des Wortes auch die innere wirksame Leitung des Geistes geschenkt hat, nur in Rücksicht auf die falschen Apostel und ihre gesetzliche Lehrweise so scharf betont. An sich birgt ja das Gesetz auch den Bund der Gnade in sich; aber diesen Inhalt denkt Paulus jetzt einmal hinweg. Er fasst im Gegensatz zum Evangelium jetzt nur das eigentlichste Wesen des Gesetzes ins Auge, welches darin besteht, zu befehlen und zu verbieten und die Übertreter in der Furcht des Todes gefangen zu halten. Das Gesetz kommt für ihn nach derjenigen Seite seines Inhalts in Betracht, in der es den Gegensatz zum Evangelium darstellt. Anders ausgedrückt: Paulus denkt an das bloße Gesetz, sofern Gott in demselben mit den Menschen einen Bund der Werke geschlossen hat. Bezüglich der einzelnen Persönlichkeiten also müssen wir bestimmt behaupten, dass im jüdischen Volke vor und nach Erlass des Gesetzes die Erleuchtung der Frommen durch einen und denselben Geist geschehen ist, welcher immer und überall derselbe bleibt. Auf das Siegel dieses Geistes, welcher das Angeld auf das ewige Leben ist, gründet sich allein die Hoffnung des Heils. Nur der Unterschied besteht, dass im Reiche Christi der Geist freigebiger und reichlicher ausgegossen ward. Sieht man namentlich die Offenbarung der Lehre an, so muss man sagen, dass erst Christi Erscheinung im Fleisch die volle Gewissheit des Heils brachte; denn so groß die Klarheit des Evangeliums ist, so dicht ist die Hülle der Dunkelheit, welche über dem Alten Testament liegt. Betrachtet man das Gesetz an sich, so kann es nichts, als die Menschen der Knechtschaft und dem Tode ausliefern. Denn es verheißt alles Gute nur bedingungsweise und droht allen Übertretern den Tod. Wie also unter dem Gesetz der Geist der Knechtschaft herrschte, welcher das Gewissen in Schrecken hielt, so herrscht unter dem Evangelium der Geist der Kindschaft, welcher unsere Seelen fröhlich macht durch das Zeugnis der Gnade.
Durch welchen wir rufen. Paulus geht aus der zweiten Person in die erste über: ihr habt den Geist empfangen, durch welchen wir rufen. So wird deutlich, dass ein und derselbe Geist in allen Gläubigen waltet. Abba, lieber Vater! Nachdrücklich, in doppelter Sprache, wird der Vatername den Gläubigen zweimal in den Mund gelegt. Denn Gottes Barmherzigkeit hat sich in der ganzen Welt kundgemacht und wir in allen Sprachen angerufen. So klingen die Stimmen aller Völker in eins. Es ist kein Unterschied mehr zwischen Juden und Griechen: beide sind Glieder desselben Leibes geworden. Denselben Gedanken gibt der Prophet Jesaja in fast entgegen gesetzter Form (19, 18) -, wenn er sagt, dass alle Völker sich der Sprache Kanaans bedienen werden. Er denkt ja dabei nicht an die äußere Form der Sprache, sondern daran, dass die Herzen einig sein werden, Gott zu preisen, und von dem gleichen Eifer erfüllt, ihm rein und wahr zu dienen. Das Gebet der Frommen nennt nun der Apostel ein „Rufen“. Denn sie beten ohne Zweifelmut, und wagen, furchtlos und hell ihre Stimme zum Himmel zu erheben. Zwar auch unter dem Gesetz haben die Gläubigen Gott als ihren Vater angerufen, aber noch nicht mit voller und freier Zuversicht, da der Vorhang ihnen noch den Zugang in Allerheiligste versperrte. Jetzt aber ward uns durch Christi Blut die Tür aufgetan; nun dürfen wir als Gottes Hausgenossen mit vollem Munde rühmen, dass wir Kinder Gottes sind. Daher stammt unser „Rufen“. Nun ist die Weissagung erfüllt (Hos. 2, 25): Ich will zu ihnen sagen: „Du bist mein Volk“ -, und sie werden antworten: „Du bist mein Gott.“ Denn je klarer die Gnadenverheißung, umso größer ist der Freimut des Gebets.
V. 16. Derselbe Geist gibt Zeugnis mit unserm Geist. Der Apostel sagt nicht einfach: „unserm Geist“, sondern „mit unserm Geist“. Er will dadurch zu verstehen geben, dass der Geist Gottes uns ein solches Zeugnis ablegt, welches unter seiner Führung und Leitung auch unsern Geist die gewisse Zuversicht fassen lässt, dass die Annahme zur Gotteskindschaft feststehe. Solcher Glaube würde aus unserm Geiste nicht erwachsen, wenn ihn Gottes Geistesleitung nicht in uns erweckte. Übrigens will unser Satz den vorangehenden erläutern und begründen: denn wenn der Geist uns bezeugt, dass wir Gottes Kinder sind, so erweckt er dadurch die Zuversicht, dass wir Gott als Vater anrufen. Wenn allein die Zuversicht uns den Mund öffnet, so wird ja die Zunge stumm zum Gebet sein, wenn nicht der Geist dem Herzen von der Vaterliebe Gottes Zeugnis gibt. Denn der Grundsatz steht durchaus fest, dass wir nur dann recht zu Gott beten, wenn wir ihn mit dem Munde Vater nennen und dabei im Herzen überzeugt sind, dass der Mund recht redet. Umgekehrt gibt es kein sichereres Kennzeichen für die Echtheit unseres Glaubens, als die Anrufung Gottes. Mit besonderem Nachdruck wollen wir endlich noch anmerken, dass unser Spruch eines der klarsten Zeugnisse für die Möglichkeit einer vollen und unbedingten Heilsgewissheit ist. Er gibt auch Antwort auf die ungläubige Frage, woher denn der Mensch wissen könne, was Gott über ihn beschlossen habe. Wir haben darüber nicht irgendwelche unsichere Vermutungen, sondern der Geist Gottes tut es uns kund. Genauer führt der Apostel diesen Gegenstand im ersten Brief an die Korinther aus (2, 9.10; 12, 3). Es steht also fest, dass niemand ein Kind Gottes sein kann, der es nicht fest glaubt. Und dieser Glaube ist eine vollkommene Gewissheit (1. Joh. 5, 19.20): „Wir wissen, dass wir von Gott sind.“
V. 17. Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben. Hier finden wir jetzt weiter den entscheidenden Beweis dafür, dass wir selig sind, weil Gott unser Vater ist. Kinder müssen einmal erben, und wenn Gott uns als Kinder angenommen hat, so ist uns auch eine Erbschaft von ihm ausgesetzt. Worin diese besteht wird alsbald angedeutet: sie ist himmlisch, also unvergänglich und ewig und wird uns in Christus mitgeteilt. So weicht alle Ungewissheit, und unser Besitz muss wohl über alle Maßen reich sein; denn wir erben zusammen mit Gottes eingeborenem Sohne. Eben diese Größe und Herrlichkeit unseres Erbes will Paulus uns ins Herz prägen, damit solche Aussicht uns zufrieden und tüchtig mache, die Lockungen der Welt zu verachten und alle Leiden dieser Zeit geduldig zu ertragen.
So wir anders mit leiden. Christi Miterben werden wir sein, wenn wir ihm auf dem Wege zu seiner Erbschaft folgen. Dass er hier von Christus spricht, das soll zur Ermahnung hinüberleiten. Der Gedankengang ist so: Gottes Erbe ist unser, weil er uns in Gnaden zu Kindern angenommen hat; um es dem Zweifel zu entziehen, hat er es Christus bereits als Besitz übertragen; wir haben an Christus und seinem Geschick Anteil: Da er aber durch das Kreuz zur Erlangung des Erbes kam, so ist das auch unser Weg. Dieser Gedanke will nun keineswegs die Meinung begünstigen, dass wir mit unserer mühevollen Anstrengung die selige Ewigkeit verdienen müssten. Paulus beschreibt weniger den Grund unserer Seligkeit, als vielmehr die Art und Weise, wie Gott uns zu derselben führt. Denn zuvor hatte er deutlich genug ausgeführt, dass mit der freien Gnade Gottes sich kein Verdienst der Werke verträgt. Wenn er uns nunmehr zur Geduld mahnt, so will er keine andere Lehre darüber vortragen, woher unser Heil stammt, sondern nur darüber, wie Gott das Leben der Seinen regiert.
V. 18. Denn ich halte es dafür usw. Die Ermahnung zur Geduld, welche schon der vorige Satz in sich barg, wird jetzt unverhüllter ausgesprochen und zugleich mit einem kräftigen Grund unterstützt. Wir dürfen es uns nicht verdrießen lassen, wenn der Weg zur himmlischen Herrlichkeit durch mancherlei Trübsal führt; denn diese Trübsal wiegt leicht gegen jene überschwängliche Herrlichkeit. Den Leiden dieser Zeit, welche also bald vorübergehen, steht die Herrlichkeit gegenüber, die an uns in alle Zukunft und Ewigkeit soll offenbart werden.
19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. 20 Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung. 21 Denn auch die Kreatur wird frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar.
V. 19. Denn das ängstliche Harren usw. Ein Beispiel für die Geduld, zu der wir ermahnt wurden, ist selbst die stumme Kreatur. Kein Bestandteil des Weltalls bleibt unberührt von der Sehnsucht, mit welcher unter dem Elend dieser Zeit sich alles der Auferstehung entgegen streckt. Dabei sagt der Apostel zweierlei: die Kreatur ängstet und müht sich -, aber sie hält sich noch in Hoffnung aufrecht. Ein neuer Beweis für die unermessliche Größe der ewigen Herrlichkeit: denn sie vermag das All zu brennender Sehnsucht zu erwecken! Die Ausdrucksweise ist ungewöhnlich: das Harren … wartet. Aber so wird uns förmlich vor Augen gemalt, mit welcher Ängstlichkeit und zitternder Sehnsucht die Kreatur dem Tage entgegen wartet, welcher die Herrlichkeit der Kinder Gottes völlig enthüllen wird.
Die Offenbarung der Kinder Gottes erfolgt nämlich, wenn wir Gott gleich sein werden. Wie Johannes sagt (1. Joh. 3, 2): „Wir sind nun Gottes Kinder, aber es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“
V. 20. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit. Welcher Kontrast gegen das Hoffnungsziel! Die Kreatur, die jetzt der Eitelkeit unterworfen ist, kann nicht eher befreit werden, als bis auch die Kinder Gottes ihre völlige Erlösung empfangen. Wenn sie auf die eigne Befreiung harrt, so schaut sie also nach dem Anbruch des Himmelreichs aus. Der Eitelkeit unterworfen ist aber die Kreatur insofern, als sie ihren festen und sicheren Bestand verloren hat und flüchtig und vergänglich schnellen Laufes vorübereilt. Diese „Eitelkeit“ steht im Gegensatz zur ursprünglichen Anlage der Natur. Ohne ihre Willen. Da die unvernünftige Kreatur einen eigentlichen Willen nicht besitzt, so haben wir an den inneren Lebenstrieb zu denken, der von Natur nicht auf die „Eitelkeit“, sondern auf Selbsterhaltung und Vollendung sich richtet. Der gegenwärtige Zustand der Vergänglichkeit tut der wahren Natur Zwang an. Die einzelnen Teile der Welt erscheinen hier in dichterischer Weise fast wie Personen, die über sich selbst hinausstreben. Wie übel steht da uns Menschen der Stumpfsinn, welchen kein Blick auf die flüchtige Vergänglichkeit der Welt auf höhere Gedanken bringt! Sondern um deswillen, der sie unterworfen hat. Die Kreaturen müssen uns ein Vorbild des Gehorsams liefern, und der Apostel fügt hinzu, dass solches auf Hoffnung geschieht, weil nur die Hoffnung, das Streben zu einem höheren Ziel, den Lauf der Welt noch in Gang erhält. Gottes Ordnung und Befehl, der jeglicher Kreatur ihr Amt gab, ist der Grund, dass Sonne und Mond und alle Sterne unermüdlich ihre Kreise ziehen, dass die Erde fleißig und gehorsam ihre Früchte hervorbringt, dass die Luft in unermüdlicher Bewegung bleibt, dass die Flüsse nicht stillstehen in ihrem Lauf. Doch in alledem wirkt nicht bloß ein bestimmter Befehl Gottes, sondern auch die Hoffnung, die einer neuen Welt entgegen strebt. Auch sie hat Gott der Kreatur eingestiftet. Denn wegen der traurigen Zerrüttung, die nach Adams Fall eintrat, hätte die Weltmaschine in jedem Augenblick zerbrechen können, hätten ihre Räder sofort stillstehen müssen, wenn nicht eine ganz andere starke Kraft um ihrer eignen verborgenen Zwecke willen sie noch zusammenhielte. Wie schmählich wäre es nun, wenn in den Kindern Gottes der Geist, den sie als Unterpfand einer seligen Zukunft empfangen haben, weniger kräftig wirken sollte als in toten Kreaturen ein verborgener Instinkt! Also: mag die Kreatur von Natur hierhin oder dorthin neigen -, weil es Gott gefallen hat, sie der „Eitelkeit“ zu unterwerfen, so muss sie sich dieser Ordnung beugen. Und weil Gott Hoffnung gibt für eine bessere Zukunft, so hält sie sich in ihrem gegenwärtigen Stande und schiebt ihre Sehnsucht auf, bis die verheißene Unvergänglichkeit offenbart wird. Wenn Paulus dabei der Kreatur eine „Hoffnung“ zuschreibt, so ist dies ebenso poetisch gedacht wie vorher das „Wollen“ und „Nichtwollen“.
V. 21. Denn auch die Kreatur usw. Dieser Satz gewährt einen genaueren Einblick darein, wieso die Kreatur „auf Hoffnung“ der Eitelkeit unterworfen ward. In Zukunft wird sie nämlich frei werden, wie schon Jesaja bezeugt und Petrus noch deutlicher ausgesprochen hat (Jes. 65, 17; 2. Petr. 3, 13). Hier mögen wir bedenken, wie schrecklich die Verdammnis sein muss, die wir verdient haben, wenn alle unschuldigen Kreaturen, von der Erde an bis zum Himmel, die Strafe für unsere Sünden mittragen müssen! Denn dass sie unter der allgemeinen Verderbnis leiden, ist unsere Schuld. Den Stempel von der Vermaledeiung des Menschengeschlechts tragen Himmel und Erde und alle Kreaturen. Andererseits erscheint auch die zukünftige Herrlichkeit der Kinder Gottes in hellem Lichte: denn um ihren Glanz zu erhöhen, sollen alle Kreaturen in einen neuen Stand gesetzt werden. Dabei behauptet der Apostel nicht, dass sie an der Herrlichkeit der Kinder Gottes teilhaben werden, sondern nur, dass sie eine Erhöhung und Befreiung nach ihrer Weise erfahren: Gott wird die jetzt in Verwirrung gestürzte Erde im Zusammenhange mit dem menschlichen Geschlecht wieder zu ihrer Ordnung bringen. Worin aber diese Wiederherstellung bestehen und wie sie sich an Tieren, Pflanzen und an der leblosen Natur zeigen wird -, das sind unnütze und vorwitzige Fragen, die schon deshalb keine Antwort finden können, weil wir jetzt auch nur sagen können, dass das wesentlichste Stück des verderbten Zustandes die Vergänglichkeit ist. Überscharfsinnige Menschen mögen sich mit endlosen Fragen den Kopf zerbrechen, etwa auch darüber, ob hinfort alle Tiere unsterblich sein sollen? Wir begnügen uns mit der einfachen Lehre, dass ein solches Maß und solche Ordnung die Welt durchwalten wird, welche jede Verunstaltung und alles nichtige Wesen ausschließt.
V. 22. Denn wir wissen usw. Der Apostel wiederholt seinen Gedanken noch einmal und fügt nur ein „mit uns“ hinzu, um zu unserer eignen Hoffnung zurückzulenken. So gewinnt die Rede einen in sich notwendigen Abschluss. Ist die Kreatur der Eitelkeit unterworfen, nicht nach der eignen Richtung ihrer Natur, sondern auf Grund einer besonderen Verfügung Gottes, und darf sie dabei auf endliche Erlösung hoffen, so gleicht sie einem Weibe in Geburtswehen, welches sich ängsten muss, bis das Ziel erreicht ist. Ein überaus treffender Vergleich, welchen die Worte des Paulus andeutungsweise enthalten! Jenes Sehnen und Ängsten wird nicht tot und vergeblich sein, sondern frohe und glückliche Frucht gebären. In Summa: die Kreatur fühlt sich nicht heimisch in ihrem Stande, und braucht doch auch nicht in aussichtsloser Sehnsucht sich zu verzehren. Sie liegt in den Wehen einer besseren Zukunft. So schließt sie sich mit uns zusammen: sie ängstet sich mit uns. Der Apostel fügt hinzu: noch immerdar. Dies Wort bringt Trost in das lange Warten. Hat die Kreatur Jahrtausende in ihrem Herzen sich ängsten müssen, warum wollen wir schon in dem kurzen Laufe dieses Lebens träge und müde werden, das doch wie ein Schatten vorüberzieht?
23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir haben des Geistes Erstlinge, sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unsers Leibes Erlösung. 24 Denn wir sind wohl selig, doch in der Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wir kann man des hoffen, das man sieht? 25 So wir aber des hoffen, das wir nicht sehen, so warten wir sein durch Geduld.
V. 23. Nicht allein aber usw. Manche Ausleger meinen, der Apostel wolle hier die Hoheit unserer zukünftigen Seligkeit dadurch ins Licht setzen, dass er auf die allgemeine Sehnsucht hinweist, mit welcher nicht bloß die unvernünftigen Kreaturen, sondern auch wir, die wir durch Gottes Geist wiedergeboren sind, ihr entgegen harren. Ich will diese Ansicht nicht für ganz ausgeschlossen erklären, ziehe aber vor, den Zusammenhang in anderer Weise zu deuten. Der Gedanke steigt von der niederen Stufe zur höheren empor: wenn schon auf die Bestandteile der irdischen Welt, welche doch weder Gefühl noch Verstand haben, der Glanz unserer künftigen Herrlichkeit eine solche Anziehungskraft ausübt, dass sie mit einer Art von Sehnsucht danach sich durchdrungen zeigen -, wie viel mehr müssen dann wir, die wir die Erleuchtung durch Gottes Geist besitzen, mit gewisser Hoffnung und angespanntem Eifer ein so überschwänglich großes Gut erharren und uns ihm entgegen strecken! Eine doppelte Stimmung will der Apostel im Herzen der Gläubigen hervorrufen: seufzenden Überdruss an dem Elend dieser Zeit, und dabei doch hoffende Geduld für die Erlösung. Die Erwartung der zukünftigen Seligkeit soll uns erheben und mit hohem Geiste die gegenwärtigen Beschwerden überwinden lassen. Denn wir sollen bedenken, nicht was wir sind, sondern was wir sein werden.
Wir selbst, die wir haben des Geistes Erstlinge. In der Gegenwart sind die Gläubigen nur mit einigen ersten Tropfen des Geistes besprengt, im besten Falle haben sie ein begrenztes Maß des Geistes empfangen und sind von seinem Vollmaße noch weit entfernt. Also spricht der Apostel von den „Erstlingen“ im Hinblick auf die noch ausstehende völlige Gabe. Haben wir nur die Erstlinge, so dürfen wir uns freilich nicht wundern, wenn noch Unruhe unser Herz durchzieht! Auch die Form des Satzes muss diese Unruhe zum Ausdruck bringen: zuerst durch die von der Sehnsucht eingegebene Wiederholung: wir selbst, die wir. Weiter lautet aber auch das Wort, welches unsere Übersetzung mit „sehnen“ wiedergibt, eigentlich stärker: wir seufzen nach der Kindschaft. So hart drückt uns das Gefühl des Elends.
Nach der Kindschaft. Uneigentlicherweise, und doch mit gutem Grunde bezeichnet Paulus hier als „Kindschaft“ nicht unsern gegenwärtigen Stand, sondern erst den Genuss des Erbes, zu welchem die Tatsache uns berechtigt, dass Gott uns zu seinen Kindern angenommen hat. Denn Gottes ewiger Rat, welcher uns vor Grundlegung der Welt zu seinen Kindern erwählte, welchen das Evangelium uns bezeugt und der Geist unserm Herzen versiegelt, würde vergeblich sein, wenn er uns nicht auch als letztes Ziel die gewisse Auferstehung verbürgen könnte. Denn warum anders ist Gott unser Vater, als weil er uns nach dem Laufe der irdischen Pilgrimschaft in das himmlische Erbteil aufnehmen will? Eben dahin zielt auch die weitere Aussage: und warten auf unsers Leibes Erlösung. Christus hat den Preis für unsere Erlösung gezahlt; aber noch immer hält uns der Tod gefangen, ja wir tragen ihn in uns. Das Opfer des Todes Christi muss also seine letzte Frucht, unsere Erneuerung zu himmlischem Wesen, noch bringen -, wo nicht, so wäre es fruchtlos und vergeblich gewesen.
V. 24. Denn wir sind wohl selig, doch in der Hoffnung. Die Mahnung zur Geduld wird mit einem weiteren Grunde gestützt. Wir müssen noch hoffen, also müssen wir auch noch sterben. Dass kein anderer Weg zur Seligkeit führen kann, liegt in der Natur der Sache. Hoffnung zielt überall auf die Zukunft; sie stellt die Bilder verborgener und ferner Dinge vor unsere Seele. Was man sieht und greift, kann nicht Gegenstand der Hoffnung sein. Dabei setzt Paulus als allgemein zugestanden voraus, dass wir allerdings nur in der Hoffnung selig sind, solange wir in dieser Welt wallen. Denn unsere Seligkeit ruht bei Gott, hoch erhaben über unsere Sinne. Der Ausdruck: die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung, ist etwas hart, aber wohlverständlich. Er birgt die einfache Wahrheit: da unsere Hoffnung sich auf ein zukünftiges, nicht auf ein gegenwärtiges Gut richtet, so können wir noch nicht völlig besitzen, was wir erhoffen. Wollen wir uns die Seufzer durchaus ersparen, so müssen wir schon Gottes Ordnung umstürzen; denn Gott lässt die Seinen keinen Triumph und Sieg erleben, er hätte sie denn zuvor im Kampfe der Leiden geübt. Hat Gott einmal beschlossen, unsere Seligkeit in der verborgenen Stille des Herzens zur Reife zu bringen, so kann es uns auf Erden nur gut sein, Mühen und Lasten zu tragen, Schmerz und Druck zu leiden, ja selbst bis zum Tode getrieben zu werden. Denn die eine sichtbare Seligkeit begehren, verwerfen das wahre Heil und stoßen die Hoffnung von sich, die Gott als Wächterin des Heils bestellt hat.
V. 25. So wir aber des hoffen usw. Jetzt wird in einem endgültigen Schluss dargelegt, was aus der bisher beschriebenen Hoffnung erwachsen muss: nämlich die Geduld. Es mag schwer sein, das Gut zu entbehren, nach welchem deine Seele sich sehnt: willst du aber den Trost der Geduld verschmähen, so wirst du vollends in Verzweiflung sinken. Die Hoffnung muss die Geduld zur steten Begleiterin haben. So legt uns der Apostel nachdrücklich das letzte Ergebnis vor: was das Evangelium von der Herrlichkeit der Auferstehung verheißt, wird unsern Händen entgleiten, wenn wir nicht in diesem Leben Kreuz und Anfechtung geduldig tragen. Ist das Leben unsichtbar, so muss das, was wir sehen, wohl Tod sein. Ist unsere Ehre unsichtbar, so mögen wir gegenwärtig ruhig Schande leiden. Dieser ganze Beweisgang des Apostels lässt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: Aller Frommen Seligkeit steht in der Hoffnung: zum Wesen der Hoffnung gehört es, sich auf zukünftige und ferne Güter zu richten; also ist die Seligkeit der Frommen eine verborgene. Nun hält sich die Hoffnung nur durch Geduld aufrecht: also erreicht die Seligkeit der Frommen ihr Ziel nur durch Geduld. Aus alledem entnehmen wir die wichtige Wahrheit, dass die Geduld die unzertrennliche Genossin des Glaubens ist. Das lässt sich leicht begreifen; denn wenn wir uns mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft trösten, so mildert und mäßigt sich das Gefühl des gegenwärtigen Elends, und dasselbe wird weit erträglicher.
26 Desgleichen auch der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich´ s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen. 27 Der aber die Herzen erforscht, der weiß, was des Geistes Sinn sei; denn er vertritt die Heiligen nach dem, das Gott gefällt.
V. 26. Desgleichen auch der Geist usw. Die Gläubigen sollen nicht fürchten und sagen, dass ihre Kraft nicht ausreicht, so große und harte Lasten zu tragen. Paulus erinnert daran, dass ihnen der Geist zur Seite steht: seine Kraft ist größer als alle Schwierigkeiten. Niemand darf klagen, dass ihm ein schwereres Kreuz auferlegt sei, als er tragen kann; denn himmlische Kraft will uns stärken. Welch reicher Trost liegt in dem Satz: der Geist hilft unsrer Schwachheit auf! Das griechische Wort, das wir übersetzen: „hilft … auf“ ist von gewaltiger Kraft; der Geist nimmt die Last, soweit sie uns zu schwer wird, auf sich. Auf diese Weise steht er uns nicht bloß zur Seite mit seiner Hilfe, sondern er trägt mit, als ob er sich selbst mit unter der Last beugte. Statt „Schwachheit“ sagt der Apostel wörtlich „Schwachheiten“; das dient zur Verstärkung; denn wenn Gottes Hand uns nicht aufrecht hält, droht uns allerdings ein Fall nach dem andern. Aber der Trost ist umso größer, wenn wir nur hören, dass für alle diese Schwachheiten, die uns jeden Augenblick zu Fall bringen können, Gottes Geist hinreichende Hilfe bereit hält, so dass nichts uns ins Wanken bringt und ganze Berge von Widerwärtigkeit uns nicht verschütten werden. Übrigens muss dieser Beistand des Geistes uns dessen noch gewisser machen, dass Gottes Ordnung es ist, die uns durch Seufzer und Klagen der völligen Erlösung entgegen führen will.
Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen. Schon früher (V. 15) hatte der Apostel gesagt, dass der Geist für unsere Gotteskindschaft Zeugnis gibt und dadurch die Zuversicht in uns erweckt, Gott als unsern Vater anzubeten. Jetzt wiederholt er diesen Satz: der Geist lehrt uns, wie und was wir beten sollen. Dieser Übergang von der inneren Angst und Sehnsucht der Frommen zum Gebet ist sehr nötig und passend; denn Gott sendet uns die Leiden nicht, damit wir im blinden Schmerz uns verzehren sollen, sondern damit wir zum Gebet uns aufraffen und darin unsern Glauben üben. Unter den verschiedenen Auslegungen dieser Stelle scheint mir nun diese am richtigsten und einfachsten zu sein: wir sind blind in unserm Gebet zu Gott, weil wir zwar unsere Leiden fühlen, aber unser verwirrter und verstörter Sinn nicht zu finden weiß, was heilsam ist und was zu bitten sich gebührt. Wollte man dagegen einwenden, dass doch Gottes Wort uns den rechten Weg auch für unser Gebet zeigt, so diene zur Antwort: dennoch bleibt unser inneres Leben von Finsternis umhüllt, die das Licht des Geistes uns erleuchtet.
Der Geist selbst vertritt uns. Wenn wir auch nicht sofort deutlich sehen können, ob Gott unsere Gebet erhört, so zieht doch Paulus den Schluss, dass schon ein inbrünstiges Gebet an sich ein Beweis für die Gegenwart und Wirksamkeit der göttlichen Gnade ist: ohne sie, aus eigner Erleuchtung, würde kein Mensch heilige und fromme Gebete zu Gott empor schicken. Freilich schwätzen auch die Ungläubigen ihre Gebete, aber sie spotten damit nur des Herrn; denn es ist keine Gewissheit, kein Ernst und kein richtiger Inhalt darin. Darum muss uns der Heilige Geist recht beten lehren. Das Seufzen, welches er in unserm Herzen erweckt, bezeichnet der Apostel als unaussprechlich, weil sein Inhalt weit über das hinausgeht, was wir fassen können. Dass der Geist uns vertritt, will nicht sagen, dass er im strengsten Sinne selbst sich zum Beten und Seufzen herbeilässt, sondern nur, dass er unserm Sinne eben die Bitten eingibt, auf welche unsern ganzen Eifer zu richten sich gebührt, und weiter, dass er unserm brünstigen Gebet eine solche Glut einhaucht, dass es bis zum Himmel dringen muss. Diese eigentümliche Ausdrucksweise will nicht den geringsten Zweifel darüber bleiben lassen, dass das Gelingen unseres Gebets allein auf der Gnadenwirkung des Geistes ruht. Uns wird geheißen: klopfet an! Aber niemand vermag aus eigner Kraft sich innerlich zu sammeln und nur eine einzige Silbe zu beten, wenn nicht Gottes geheime Geisteskraft zuvor bei ihm anklopft und die Tür des Herzens auftut.
V. 27. Der aber die Herzen erforscht usw. Ein herrlicher Grund zur Stärkung unserer Zuversicht! Gott muss uns erhören, weil wir durch seinen Geist beten. So kennt Gott den Inhalt unserer Bitten auf das allergenaueste, denn sie gehen aus dem Sinn seines eigenen Geistes hervor. Gott weiß, was des Geistes Sinn sei. Dieses „Wissen“ hat eine eigne Bedeutung. Es will sagen, dass Gott den Sinn des Geistes, weil dieser ihm nichts Neues und Unerhörtes bringt, durch und durch billigen muss und niemals verwerfen kann. Er erkennt vielmehr des Geistes Absicht als seine eigne an und nimmt sie mit gnädiger Zustimmung auf. Wie also Paulus zuvor sagen durfte, dass Gott unsere Hilfe ist und uns durch alle unsere Widerfahrnisse zu seiner Herde führen will, so kann er jetzt den weiteren Trost hinzufügen, dass unsere Gebete niemals vergeblich sein werden, weil Gott selbst sie lenkt und leitet. Dieser Grund wird zuletzt noch ausdrücklich angegeben: der Geist vertritt die Heiligen nach dem, das Gott gefällt. Er gestaltet unsern Sinn, wie Gott ihn haben will. Stimmt nun infolgedessen unser Gebet mit dem Willen dessen überein, der alles regieret, so kann es seine Wirkung nicht verfehlen. Daraus lernen wir, dass die Hauptsache im Gebet seine Übereinstimmung mit dem Willen des Herrn ist. Denn unser eigner Wille kann trotz aller brennenden Sehnsucht den Herrn nicht binden. Soll unser Gebet Erhörung finden, so müssen wir vor allen Dingen Gott bitten, dass er unser Gebet nach seinem Wohlgefallen gestalte.
28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind. 29 Denn welche er zuvor ersehen hat, die hat er auch verordnet, dass sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes, auf dass derselbe der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. 30 Welche er aber verordnet hat, die hat er auch berufen; welche er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht, welcher er aber hat gerecht gemacht, die hat er auch herrlich gemacht.
V. 28. Wir wissen aber. Jetzt zieht der Apostel die Folgerung aus den vorangehenden Sätzen: die Leiden dieses Lebens hemmen unsern Lauf zu Seligkeit so wenig, dass sie ihn ganz im Gegenteil fördern müssen. Dabei bedient sich indessen die Rede der merkwürdigen Fortsetzung mit einem „aber“. Das ist ein Zeichen, dass sie sich zugleich gegen einen geheimen Einwurf richtet. Klagt doch ein fleischlicher Sinn nur zu leicht darüber, dass Gott unsere Gebete nicht zu erhören scheint, weil alle unsere Leiden bleiben wie zuvor. Demgegenüber behauptet der Apostel: wenn Gott den Seinen auch nicht sofort äußerlich hilft, so verlässt er sie doch nicht. Denn seine verborgene Weisheit wendet zum Heil, was ein Schaden scheint. Mögen, äußerlich betrachtet, die gleichen Übel ohne Unterschied die Auserwählten wie die Verworfenen treffen, so besteht dennoch ein gewaltiger Gegensatz: denn seine Gläubigen erzieht Gott durch die Trübsal und führt sie dadurch zum Heil. Wir müssen nämlich festhalten, dass der Satz: alle Dinge müssen uns zum Besten dienen lediglich an Missgeschick und Widrigkeiten erinnern will. Gott lenkt alle Geschicke der Heiligen so, dass, was die Welt für Schaden achtet, doch in seinem Ausgang Nutzen und Segen sein muss. Augustinus geht freilich darüber noch hinaus, wenn er sagt, dass auch ihre Sünden nach Gottes Vorsehung den Heiligen so wenig schaden können, dass sie sogar ihr Heil fördern müssen. Dieser an sich richtige Gedanke passt aber nicht hierher, wo nur vom Kreuz die Rede ist. Wenn der Apostel sagt: denen, die Gott lieben -, so wollen wir daraus entnehmen, dass die Liebe zu Gott den Hauptinhalt der Frömmigkeit ausmacht. Sie ist der beherrschende Mittelpunkt alles Strebens nach Gerechtigkeit.
Denen, die nach dem Vorsatz berufen sind. Diesen Satz fügt der Apostel offensichtlich zur Abwehr eines Missverständnisses hinzu. Dass den Gläubigen eine so herrliche Frucht aus dem Unglück erwächst, wie sie soeben beschrieben wurde, haben sie nämlich nicht ihrer Liebe als einem eignen Verdienst zu verdanken. Wir wissen ja, dass in den Fragen des Heils die Menschen den Anfang nur zu gern in sich selbst suchen und an Vorbereitungen aus ihrem eignen Entgegenkommen glauben, auf welche Gottes Gnade sich dann gründen soll. Im Gegensatz dazu lehrt Paulus, dass die, welche Gott lieben, zuvor von ihm erwählt sind. Dass den Heiligen alles zum Besten dienen muss, dafür ist die erste und letzte Ursache ihre Annahme zur Gotteskindschaft aus freier Gnade. Die Heiligen können Gott nicht lieben, ehe sie nicht von ihm berufen sind. Wie es an einer andern Stelle (Gal. 4, 9) heißt: Die Christen konnten Gott erkennen, weil sie von ihm erkannt sind. Gewiss ist es wahr, dass nur denen alle Dinge zum Besten dienen, die Gott lieben. Aber ebenso wahr ist auch das Wort des Johannes (1. Joh. 4, 19), dass wir dann erst Gott lieben, wenn er uns zuvor geliebt hat. An unserer Stelle erinnert Paulus auch aus dem Grunde an Gottes ewige Erwählung, auf welcher unser ganzes Heil ruht, um den Übergang zu dem zu gewinnen, was er alsbald sagen will, dass nämlich der gleiche ewige Ratschluss Gottes auch die Leiden für uns bestimmt habe, die uns Christus gleich machen sollen. Denn es ist des Apostels Absicht, eine innerlich notwendige Verknüpfung zwischen unserer Seligkeit und dem Kreuze herzustellen, welches wir zu erdulden haben.
V. 29. Denn welche er zuvor ersehen hat. Jetzt muss also die zusammenhängende Kette der ewigen Gnadentaten Gottes den Beweis dafür liefern, dass alle Trübsal der Gläubigen nichts anderes ist als die Außenseite des verborgenen Gotteswirkens, welches uns in Christi Bild gestaltet. Dass wir durchaus in Christi Bild gestaltet werden müssen, hatte ja der Apostel schon früher gesagt (V. 17). So dürfen wir über der Bitterkeit und Last der Trübsal nicht müde werden. Oder wollten wir uns beklagen, dass Gott uns erwählt und zum ewigen Leben bestimmt hat? Wollen wir uns darüber betrüben, dass uns das Bild des Sohnes Gottes aufgeprägt werden soll, welches doch die Vorstufe der himmlischen Herrlichkeit bedeutet? Gottes „Zuvorersehung“, von welcher Paulus hier spricht, ist nun nicht ein bloßes Zuvorwissen, wie einige unerfahrene Geister behaupten, sondern der ewige Willensentschluss Gottes, kraft dessen er uns zu seinen Kindern ausersieht und für immer von den Verworfenen absondert. In demselben Sinne sagt Petrus (1. Petr. 1, 1.2), dass die Gläubigen erwählt seien zur Heiligung des Geistes „nach der Vorsehung Gottes“. Daraus zieht man vielfach den törichten Schluss, dass Gott diejenigen erwählt habe, von denen er voraussah oder voraus wusste, dass sie seiner Gnade würdig sein würden. Aber Petrus wollte doch unmöglich den Gläubigen eine Schmeichelei sagen, als ob sie auf Grund ihres eignen Verdienstes erwählt wären! Er wollte vielmehr ihnen alles Verdienst nehmen und sie auf den ewigen Gnadenrat Gottes weisen. Wenn Paulus nun fortfährt: die hat er auch verordnet, so wollen diese Worte zunächst nicht für eine allgemeine Theorie verwertet, sondern im engsten Zusammenhange mit ihrem Nachsatz verstanden sein: dass sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes. Der Apostel will sagen: Gott hat beschlossen und verordnet, dass, die er zu seinen Kindern machen will, auch das Bild Christi, seines Sohnes, tragen sollen. Darum heißt es auch nicht kurzweg: „Christus gleich“ -, sondern: „dem Bilde seines Sohnes“. So tritt Christi lebensvolle Gestalt anschaulich vor unsere Seele, wie sie allen Kindern Gottes zum Urbilde dienen soll. In Summa: Die gnädige Annahme zur Gotteskindschaft, in welcher unser Heil besteht, ist untrennbar mit dem andern Ratschluss Gottes verbunden, welcher bestimmt, dass wir das Kreuz tragen sollen. Niemand kann ein Himmelserbe werden, er wäre denn zuvor dem eingeborenen Sohne Gottes gleich gestaltet worden. Auf dass derselbe der Erstgeborene sei. Ist Christus unter allen Kindern Gottes der Erstgeborene, so müssen wir auf sein Vorbild schauen und dürfen uns nicht weigern, alles auf uns zu nehmen, was er doch willig getragen hat. Das folgt aus dem Recht und der Würdestellung, welche der himmlische Vater seinem Sohne übertragen hat. Mag nun die besondere Lage der Frommen eine durchaus verschiedene sein, wie ja auch die Glieder eines Leibes gar mannigfaltig sind, so hat doch jedes einzelne Glied seinen Zusammenhang mit dem Haupte. So ist auch Christus unser Haupt und hält uns unter seiner Herrschaft als Bruderschaft zusammen.
V. 30. Welche er aber verordnet hat, die hat er auch berufen. Der Apostel will mit vollster Deutlichkeit beweisen, dass tatsächlich die Gleichgestalt mit Christi Niedrigkeit uns zur Seligkeit führen muss. Deshalb führt er uns von diesem Tiefpunkte die Stufen zur Höhe empor. So müssen wir einsehen, dass mit der Berufung, Rechtfertigung und endlich mit der Verherrlichung die Genossenschaft des Kreuzes untrennbar verbunden ist. Um aber den Sinn unseres Satzes richtig zu verstehen, dürfen wir wiederum nicht vergessen, dass das Wort „verordnen“ nicht auf die Erwählung im Allgemeinen zielt, sondern auf jenen Rat und Beschluss Gottes, welcher den Seinen das Kreuz auferlegte. Wenn der Apostel sagt, dass die zum Tragen des Kreuzes bestimmten Auserwählten nun auch von Gott berufen seien, so sehen wir daraus, dass Gott seinen Ratschluss über sie nicht in sich verschlossen, sondern geoffenbart hat, damit sie nun das ihnen auferlegte Los mit ruhigem Gleichmut tragen könnten. Die Berufung wird nämlich mit der verborgenen Erwählung zusammengefasst und zugleich als ein von ihr abhängiges Stück von derselben unterschieden. Damit also niemand sagen könne, man wisse ja überhaupt nicht, welches Los Gott jedem Menschen zugedacht habe, so lehrt der Apostel, dass Gott durch die Berufung eine öffentliche Auskunft über seinen geheimen Ratschluss gibt. Dies Zeugnis besteht aber nicht bloß darin, dass Gott das Wort äußerlich predigen lässt: vielmehr begreift die „Berufung“ auch ein inneres Wirken des Geistes in sich. Denn hier ist von den Auserwählten die Rede, welche Gott nicht nur mit seinem Worte zu sich ruft, sondern auch innerlich zu sich zieht. Welche er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht. Dieses „Gerechtmachen“ ließe sich dem Zusammenhange nach recht wohl auf die gesamte Gnadenwirkung Gottes deuten, welche unser Leben von der Berufung bis zum Tode durchzieht. Weil aber Paulus das betreffende Wort im ganzen Brief für die gnädige Zurechnung der Gerechtigkeit braucht, so werden wir auch hier schwerlich von diesem Sinne abgehen dürfen. Ist doch die Absicht der ganzen Ausführung, uns einen kostbareren Ersatz zu bieten, um dessen willen wir die Leiden nicht mehr fliehen dürfen. Was aber ist kostbarer und wünschenswerter, als mit Gott versöhnt zu werden, so dass nun unser Elend nicht mehr ein Zeichen der Verdammnis ist und nicht mehr zum Verderben führt? Welche er aber hat gerecht gemacht, die hat er auch herrlich gemacht. Das gilt von denen, welche jetzt das Kreuz drückt! Sorge und Schande bedeutet also keinen Verlust mehr für sie. Diese Verherrlichung ist uns zwar nur erst in Christus, unserm Haupte, geschenkt; weil wir aber in ihm gewissermaßen die Erbschaft des ewigen Lebens schon wie mit Augen sehen, so erwächst daraus eine solche Gewissheit unserer Herrlichkeit, dass unsere Hoffnung schon als ein gegenwärtiger Besitz zu achten ist. So darf Paulus von der Zukunft bereits reden, als wäre sie Gegenwart. Mag vor der Welt mancherlei Leid den Glanz unserer Herrlichkeit verdunkeln: vor Gott und seinen Engeln strahlt er hell und klar. Diese ganze Steigerung will uns also einprägen, dass die Anfechtungen des Glaubens, welche uns jetzt demütigen, nur dazu dienen, uns zur Herrlichkeit des Himmelreichs und zum Auferstehungsleben des Christus hinanzuführen, mit welchem wir jetzt gekreuzigt werden.
31 Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? 32 Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? 33 Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. 34 Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns.
V. 31. Was wollen wir nun hierzu sagen? Jetzt ist die zur Verhandlung stehende Frage vollständig erörtert. Da drängen sich dem Apostel Freudenrufe auf die Lippen. Solche Geistesgröße ziemt den Frommen, wenn Widrigkeiten sie zur Verzweiflung treiben wollen! Hier lässt sich lernen, dass der Glaube an Gottes Gnade eine unbesiegliche Tapferkeit verleiht, welche alle Anfechtungen überwindet. Bilden sich die Menschen ihr Urteil über Gottes Liebe oder Hass gewöhnlich nur nach dem Befunde ihrer gegenwärtigen Erfahrungen, werden sie also im Unglück von Traurigkeit erfüllt und verlieren alle Zuversicht und jeden Trost -, so erhebt Paulus dagegen seine Stimme: höher empor! Es ergeben sich verkehrte Folgerungen, wenn wir unsere Gedanken bei dem Schauspiel des gegenwärtigen traurigen Kampfes verweilen lassen. Mag man mit Recht Gottes Züchtigungen sonst als Zeichen seines Zorns betrachten: weil aber Christus alles in Segen wandelt, darum sollen die Gläubigen doch vor allem andern Gottes Liebe darin greifen. Durch diesen Schild gedeckt, werden sie aller Übel spotten. Hier ist unsere eherne Mauer: ist Gott uns gnädig, so sind wir gegen alle Gefahren geschützt. Dabei sagt der Apostel nicht, dass kein Übel uns treffen werde -, aber er verheißt uns den Sieg über jeglichen Feind.
Ist Gott für uns. Das ist die wesentlichste, ja die einzige Stütze, die uns in jeder Versuchung aufrechterhält. Denn wenn wir keinen gnädigen Gott haben, so kann uns das größte Glück nicht zu fröhlicher Zuversicht verhelfen. Dagegen ist Gottes Gnade ein unerschöpflicher Trost in aller Trübsal, ein starker Schutz, der jedes Ungewitter aushält. Zahlreiche Sprüche der Schrift zeugen von diesem kühnen Vertrauen der Heiligen allein auf Gottes Kraft, welches ihnen Mut gibt, alles Widerstandes dieser Welt zu spotten. Ps. 23, 4: „Ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir.“ Ps. 56, 5: „Auf Gott will ich hoffen, und mich nicht fürchten; was sollte mir Fleisch tun?“ Ps. 3, 7: „Ich fürchte mich nicht vor viel Tausenden, die sich umher wider mich legen.“ Dazu viele andere Sprüche mehr. Es gibt ja keine Macht im Himmel und auf Erden, welche dem Arm des Herrn widerstehen könnte. Darum, wenn Gott für uns kämpft, so zittern wir vor keinem Angriff. Das eigentliche Zeichen wahren Gottvertrauens ist, dass wir, zufrieden mit seinem Schutze, nichts fürchten und nie den Mut verlieren. Erschüttert mag der Mut der Gläubigen oft werden, aber nie gebrochen. Alles in allem: der Apostel will uns einprägen, dass ein gläubiger Sinn sich am inneren Zeugnis des Heiligen Geistes aufrichtet und nicht von äußeren Widerfahrnissen abhängig macht.
V. 32. Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschont. Weil der Apostel uns eine völlige Liebe zu Gott und ein unerschütterliches Zutrauen zu seiner väterlichen Barmherzigkeit einflößen will, erinnert er an den Preis unserer Erlösung. So muss es ja wohl feststehen, dass wir einen gnädigen Gott haben. Welch einziger und leuchtender Beweis unermesslicher Liebe, dass Gott sich nicht bedacht hat, seinen Sohn für unser Heil zu opfern! Und hat Gott dies Teuerste, Kostbarste und Größte dahingegeben -, sollten wir nicht das viel Geringere von ihm erwarten dürfen, dass er auch in allen großen und kleinen Anliegen des Lebens für uns sorgt? Dieser Spruch stellt uns den ganzen Reichtum vor die Seele, welchen unser Herr Christus mit sich führt. Er ist das Unterpfand der unergründlichen Liebe Gottes gegen uns: darum hat ihn Gott nicht bloß und leer zu uns gesandt, sondern beladen mit allen Schätzen des Himmels. Wer ihn hat, dem wird nichts an seinem Glücke fehlen. Dahingegeben hat aber Gott seinen Sohn, nämlich in den Tod.
V. 33. Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Der entscheidende Grund, auf welchem Geduld und Sicherheit in allen Widerwärtigkeiten des Lebens ruht, ist die Gewissheit des Heils. Diesen Grund festzulegen schickt sich der Apostel nunmehr an, um die Gläubigen wider alle Fährlichkeit zu rüsten. Nun stürmen gegen unser Heil zuerst allerlei Anklagen an, und dann wird es durch die nachfolgende Verurteilung vollends vernichtet. Deshalb wendet sich die Rede zuerst gegen die gefährlichen Anklagen. Sie stellt uns vor Gottes Gericht; spricht er uns nun frei, so haftet keine Anklage mehr. Übrigens zeigt unsere Stelle mit unwidersprechlicher Klarheit, dass im Sinne des Paulus Gott die Sünder „gerecht macht“, wenn er sie mit richterlichem Urteil freispricht und für gerecht erklärt. Denn dieses „gerecht sprechen“ ist hier der Gegensatz zum „verdammen“ (V. 34). Gott schlägt also alle Anklagen wider uns nieder, weil er uns von der Schuld freispricht. Der Teufel, ja auch Gottes Gesetz und unser eigenes Gewissen klagen uns an; aber vor dem Richter, der uns freispricht, wird uns das alles nichts schaden. Kein Widersacher kann unser Heil in Frage stellen, geschweige denn uns völlig rauben. Dabei redet Paulus von den „Auserwählten Gottes“. Seine Leser sollen nicht zweifeln, dass sie zur Zahl dieser Auserwählten gehören. Das gehört zum Inhalt des Glaubens, wie ihn jeder Fromme haben soll. Gott begräbt den Erwählungsratschluss nicht in seinem Herzen, sondern tut ihn kund und lässt ihn lebendig werden: jeder berufene Gläubige darf und soll gewiss sein, dass er ein Auserwählter ist.
V. 34. Wer will verdammen? Wie keine Anklage mehr haftet, wo der Freispruch des Richters vorliegt, so erfolgt keine Verurteilung weiter, wo dem Gesetz Genüge geschehen und die Strafe gezahlt ist. Christus aber hat den Tod auf sich genommen, den wir zu sterben schuldig waren. Er ist an unsere Stelle getreten: so sind wir frei. Wer nun uns noch verdammen will, müsste Christus wieder in den Tod zurückversetzen. Er aber ist nicht bloß gestorben, ja vielmehr, er ist auch auferweckt, hat durch seine Auferstehung sich als Sieger erwiesen und hat einen Triumph gefeiert über den Tod. Und der Apostel sagt noch mehr: welcher ist zur Rechten Gottes. Also er hat das Regiment über Himmel und Erde angetreten und besitzt Gewalt und Macht über alle Dinge (vgl. auch Eph. 1, 20). Zuletzt heißt es: und vertritt uns. Deshalb sitzt er zur Rechten des Vaters, um in alle Ewigkeit für unser Heil ein Fürsprecher zu sein und uns zu vertreten. Wer also uns verdammen will, muss nicht bloß Christi Tod ungeschehen machen, sondern auch den Kampf aufnehmen mit seiner unvergleichlichen Kraft, welche der Vater ihm geschenkt hat, als er ihn in die Herrschaft über den Weltkreis einsetzte. Daher die fröhliche Heilsgewissheit der Frommen, mit welcher sie des Teufels, des Todes, der Sünde und der Pforten der Hölle spotten dürfen! Unser Glaube ist nichts, wenn wir nicht ganz gewiss sind, dass Christus uns gehört und wir durch ihn einen gnädigen Vater haben. Nichts ist also verderblicher und so tödlich für den Glauben, wie die weit verbreitete Lehre, dass man seiner Seligkeit nicht gewiss werden könne und dürfe. Dass Christus für uns eintritt, verscheucht alles Zittern vor seiner göttlichen Majestät. Der auf Gottes Thron sitzt und alles unter seine Füße tritt, ist doch unser Mittler und freundlicher Fürsprecher. Warum sollten wir uns fürchten? Übrigens muss man sich von dieser Fürbitte Christi keine fleischlichen Vorstellungen machen. Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass Christus mit ausgebreiteten Händen etwa vor dem Vater auf den Knien läge. Wir haben hier nur eine anschauliche Form für den Gedanken: Christus steht vor Gottes Angesicht mit seinem Tod und seiner Auferstehung; damit tritt er für uns ein und erzielt die Wirkung, dass wir nun einen versöhnten Gott haben, der unsere Gebete erhört.
35 Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? 36 wie geschrieben steht: „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.“ 37 Aber in dem allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat.
V. 35. Wer will uns scheiden usw. Nun überträgt sich die Gewissheit des Heils auch auf das irdische Leben. Denn wer gewiss sein darf, in Gottes Gnade geborgen zu sein, kann unter dem schwersten Druck aufrecht stehen. Nur darum ist ja das Unglück für die Menschen eine so entsetzliche Qual, weil sie nicht daran denken, dass Gottes Vorsehung es ihnen schickt oder weil sie es für ein Anzeichen des göttlichen Zornes halten, oder weil sie glauben, von Gott verlassen zu sein, oder weil sie kein gutes Ende absehen oder weil sie nicht nach einem besseren Leben trachten usw. Lässt aber die Seele alle solche Verkehrtheiten fahren, so wird bald Ruhe und Friede bei ihr einkehren. Paulus will also sagen. mag geschehen was will, so sollen wir in diesem Glauben feststehen, dass der Gott, der uns einmal seine Liebe zugewandt hat, nie aufhören wird für uns zu sorgen. Dabei heißt es nicht einfache: Es gibt nichts, was Gott von seiner Liebe zu uns abbringen könnte. Nein, er will, dass die lebendige Empfindung seiner Liebe in uns solche Kraft habe, dass sie in aller Finsternis der Trübsal als ein helles Licht Bestand behält. Wie der Nebel uns den klaren Anblick der Sonne entzieht, aber uns doch des Sonnenlichtes nicht ganz beraubt, so sendet Gott in Widerwärtigkeiten mitten durch das Dunkel die Strahlen seiner Gnade, damit die Anfechtung uns nicht in Verzweiflung stürze. Ja, unser Glaube hat gewissermaßen Gottes Verheißungen zu Flügeln zu nehmen und soll so durch allen Widerstand aufwärts bis in den Himmel dringen. Das Unglück, an sich betrachtet, ist gewiss ein Anzeichen des Zornes Gottes, aber wenn wir Verzeihung und Versöhnung empfangen haben, wird Gott ohne Zweifel seiner Gnade nicht vergessen, auch wenn er uns züchtigt. Er erinnert uns durch die Trübsal daran, was wir wohl verdient hätten, aber er zeigt doch zugleich, dass er für unsere Seligkeit besorgt ist, indem er uns zur Buße leitet. Der Apostel redet von der Liebe Christi, weil in ihm der Vater uns sein Herz erschlossen hat. Außer Christus ist die Liebe Gottes nicht zu suchen. Darum führt uns der Apostel an die rechte Quelle: in den Strahlen der Gnade Christi soll unser Glaube das freundliche Angesicht des Vaters schauen. Die Hauptsache ist also, dass in keinerlei Unglück der Glaube erschüttert werden kann: ist Gott uns gnädig, so ist uns nichts zuwider!
Einige Ausleger verstehen unter der „Liebe Christi“ unsere Liebe zu Christus; sie meinen also, Paulus wollte uns hier zu unüberwindlicher Tapferkeit anspornen. Aber der Zusammenhang macht dies Hirngespinst zunichte, und bald beseitigt Paulus jeden Anstoß, indem er noch deutlicher zeigt, was diese Liebe ist.
Trübsal oder Angst oder Verfolgung. Lauter unpersönliche Dinge, und doch hatte vorher die Frage persönlich gelautet: wer (nicht was) will uns scheiden? Diese Redeweise birgt einen eignen Nachdruck. Die Dinge, die wider uns stehen, werden gewissermaßen Personen: soviel Anfechtungen sich wider unsern Glauben erheben, soviel starke Helden wappnen sich gegen uns. Übrigens unterscheiden sich die drei genannten Stücke folgendermaßen: „Trübsal“ sind alle Beschwerden und Mühen. „Angst“ dagegen ist ein inneres Leiden, das quälende Gefühl der vollendeten Ratlosigkeit. Solche Angst war es zum Beispiel, welche den Abraham dazu trieb, sein Weib, den Lot dazu brachte, seine Töchter preiszugeben (1. Mose 12. 11 ff., 19, 8): denn sie sahen in der Verwirrung und Not keinen andern Ausweg. „Verfolgung“ ist die tyrannische Gewalt, welche die Gottlosen den Kindern Gottes ungerechterweise antun.
V. 36. Wie geschrieben steht. Dieses Schriftzitat aus Ps. 44 ist keineswegs überflüssig, sondern sehr treffend. Es gibt uns zu verstehen, dass solche Schrecken des Todes uns nichts Überraschendes sein dürfen: denn es ist überall das Geschick der Knechte Gottes, dass sie den Tod immer vor Augen haben müssen. Damit streitet nicht, wenn die bedrängten Heiligen in jenem Psalm darüber klagen, dass eine ganz ungewöhnliche und unerhörte Verfolgung sie bedrückt. Denn dieselben Heiligen bezeugen auch, dass alle diese Leiden sie unschuldig treffen (Ps. 44, 18 ff.). Daraus ergibt sich doch der Schluss, dass es uns nicht überraschen darf, wenn Gott seine Heiligen ohne ihre Schuld der Wut der Gottlosen ausliefert. Es geschieht dies aber ohne Zweifel zu ihrem Besten. Denn die Schrift lehrt, dass es nicht die Weise des gerechten Gottes ist, den Gerechten mit dem Gottlosen zu töten (1. Mose 18, 25), sondern dass es vielmehr bei Gott recht ist, zu vergelten Trübsal denen, die Trübsal auferlegen, denen aber, die Trübsal leiden, Ruhe zu geben (2. Thess. 1, 6-7). Und des Weiteren sagen die Heiligen im Psalmspruch: um deinetwillen. Also sie leiden für den Herrn. Christus aber preist selig, die um der Gerechtigkeit willen leiden (Matth. 5, 10). Die Wendung: wir werden getötet -, will sagen, dass der Tod ihnen fortwährend droht, so dass dies Leben schon fast dem Tode gleichkommt.
V. 37. In dem allem überwinden wir weit. D. h. wir siegen ob im Streit und tauchen empor aus der Flut. Es geschieht ja zuweilen, dass die Gläubigen zu unterliegen und ganz zerschmettert zu Boden zu sinken scheinen. Denn Gott schickt ihnen nicht bloß Übungen, sondern tiefe Demütigungen. Aber der Ausgang bleibt immer, dass sie den Sieg gewinnen. Woher diese unbesiegliche Kraft stammt, sagen die Worte: um deswillen, der uns geliebt hat. Die Liebe Christi, in welcher Gottes väterliches Erbarmen zur Erscheinung kommt, prägt sich so tief in unsere Herzen ein, dass sie uns aus der Unterwelt ans Licht des Lebens zieht und mit ihrer unverzehrbaren Kraft uns stetig aufrecht hält. Hier wird nun (vgl. Vers 35) völlig deutlich, dass der Apostel nicht von der Liebe redet, die uns hinreißt, Gott zu lieben. sondern von Gottes bzw. Christi Liebe zu uns.
38 Denn ich bin gewiss, dass weder Tod und Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn.
V. 38. Endlich bricht die Rede in einen überschwänglichen Triumphruf aus, um uns zu gleicher Siegesgewissheit fortzureißen. Was auch kommen mag im Leben oder im Tode, wovon man glauben könnte, dass es uns von Gott trennen müsste -, es wird nichts ausrichten! Ja, wenn selbst Engel sich mühen sollten, das Fundament unserer Seligkeit zu zerstören -, sie werden uns nichts anhaben! In der Tat sind ja freilich die Engel Gehilfen des Heiligen Geistes und ausgesandt zum Heil der Auserwählten (Hebr. 1, 14). Aber die majestätische Rede des Apostels setzt einmal das Unmögliche als möglich, wie dies auch Gal. 1, 8 geschieht. Daran mögen wir sehen, wie vor Gottes Herrlichkeit aller andere Glanz erbleichen muss. Nebenher werden die Engel als Fürstentümer und Gewalten bezeichnet. So heißen sie als die erhabenen Werkzeuge der Regierungsgewalt Gottes. Diese beiden Ausdrücke lassen die Rede voller und erhabener klingen, als wenn der Apostel kurzweg von Engeln geredet hätte. Weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges. Wir haben nicht bloß mit dem Schmerz zu ringen, welcher an das gegenwärtige Übel sich hängt, sondern auch mit der Furcht und Sorge, welche drohende Gefahren uns einflößen. Aber wir dürfen gewiss sein, dass auch die längste Dauer der Leiden uns den Glauben an unsere Gotteskindschaft nicht rauben wird. Freilich hört man vielfach die Rede, dass niemand wissen könne, ob er nicht schließlich doch vielleicht abfallen werde. Aber solche Rede zerstört den Glauben ganz und gar. Denn ein Glaube, der nur für die Gegenwart hilft, nicht aber bis zum Tode und über den Tod hinaus, ist kein Glaube. Wir sollen aber Gott zutrauen, dass er das gute Werk, welches er in uns angefangen, vollführen wird bis auf den Tag Christi (Phil. 1, 6).
V. 39. Von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist. Christus ist das Band der göttlichen Liebe. Er ist der geliebte Sohn, an welchem der Vater Wohlgefallen hat. Hängen wir also durch ihn mit Gott zusammen, so dürfen wir des unerschütterlichen und unermüdlichen Wohlwollens Gottes gegen uns unbedingt versichert sein. Hier unterscheidet Paulus deutlicher als zuvor, da er nur von Christi Liebe sprach (V. 35.37): der Vater ist der Liebe Quell, von Christus her aber fließt sie uns zu.
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Johannes Calvin
1 Ich sage die Wahrheit in Christo und lüge nicht, wie mir Zeugnis gibt mein Gewissen in dem Heiligen Geist, 2 dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. 3 Ich habe gewünscht, verbannt zu sein von Christo für meine Brüder, die meine Gefreundeten sind nach dem Fleisch; 4 die da sind von Israel, welchen gehört die Kindschaft und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen; 5 welcher auch sind die Väter, und aus welchen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.
Mit diesem Kapitel beginnt der Apostel einen Anstoß zu beheben, welcher die Gemüter der Menschen nur zu leicht von Christus abbringen konnte: nämlich, dass die Juden, für welche der Messias doch laut dem Bundschlusse des Gesetzes bestimmt war, denselben nicht bloß verwarfen, sondern geradezu verachteten, ja für einen Gräuel hielten. Aus dieser Tatsache schien eine doppelte Folgerung gezogen werden zu können: entweder, dass Gottes Verheißung durch den Ausgang der Sache Lügen gestraft worden sei -, oder dass der Jesus, welchen Paulus predigte, nicht der Christus des Herrn sei, dessen Verheißung vornehmlich den Juden galt. Diese doppelte Schwierigkeit lösen die folgenden Ausführungen in der trefflichsten Weise. Dabei befleißigt sich der Apostel den Juden gegenüber der größten Mäßigung, um ihre Empfindlichkeit nicht zu reizen. Andererseits vergibt er doch im ihretwillen der Würde des Evangeliums nicht das Geringste. Das jüdische Volk empfängt jede ihm gebührende Anerkennung, und zugleich bleibt Christus seine volle Ehre. Übrigens springt der Apostel auf diese ganze Erörterung völlig unvermutet über, ohne dass sich ein notwendiger Gedankenzusammenhang herstellen ließe. Und doch klingt der Anfang der Rede auch wieder so, als hätten wir es mit früher schon berührten Gegenständen zu tun. Innerlich erklärt sich dieser Tatbestand folgendermaßen: Nachdem die Lehre vollständig abgehandelt, richten sich die Gedanken des Paulus auf die Juden. Deren Unglaube erscheint ihm als ein beängstigendes Rätsel und erschüttert ihn tief: so bricht er plötzlich in eine beschwörende Beteuerung aus -, und das alles konnte er in eine Form kleiden, als ob längst davon die Rede gewesen wäre; denn jedem nachdenkenden Menschen musst allerdings längst der Einwurf auf den Lippen liegen: wenn diese ganze Lehre des Paulus wirklich mit Gesetz und Propheten übereinstimmt, wie erklärt sich dann dieser hartnäckige Widerstand der Juden? Auf der andern Seite war ja alles, was Paulus bisher vom Gesetz Moses und der Gnade Christi gesagt hatte, den Juden verhasst, so dass also von ihnen keine Zustimmung und insofern keine Stütze für den Glauben der Heiden zu erwarten war. Dies lag vor aller Augen und bereitete allerdings dem Glauben an das Evangelium ein Hindernis.
V. 1. Ich sage die Wahrheit in Christus. Paulus stand weithin in dem Rufe, ein geschworener Feind seines jüdischen Volkes zu sein. Selbst christliche Glaubensgenossen hegten den Verdacht, dass er den Abfall von Mose predigte. So muss vor Eintritt in die eigentliche Besprechung der Sache ein Vorwort dem Apostel das Vertrauen seiner Leser zu gewinnen suchen. Paulus reinigt sich von dem Verdacht, als wolle er seinem Volke nicht wohl. Er bedient sich dabei eines Schwures, denn die Sache war es wert, und eine bloße Behauptung wäre auch nicht kräftig genug gewesen, um das eingewurzelte Vorurteil zu überwinden. Hieraus (vgl. auch zu 1, 9) können wir lernen, wann auch für den Christen ein Eid am Platze ist: nämlich wenn es gilt, einer wichtigen Wahrheit die Anerkennung zu verschaffen, die sie auf andere Weise unmöglich gewinnen würde. In Christus heißt: wie es Christus erfordert. Der Apostel fügt noch einmal hinzu: und lüge nicht, um jeden Gedanken an Lug und Trug auszuschließen. Das Gewissen gibt dafür Zeugnis in dem Heiligen Geist. Paulus unterstellt es also dem Gerichte Gottes. Und er ruft nicht bloß Gott, sondern im Besonderen den Heiligen Geist als Zeugen an, um auszudrücken und zu bezeugen, dass sein Herz von jeder missgünstigen Nebenabsicht frei und rein ist, und dass er unter Führung und Leitung des Geistes Gottes nur der Sache Christi dienen will. Kommt es doch oft genug vor, dass jemand ohne Wissen und Willen, durch fleischliche Zu- und Abneigung verblendet, das Licht der Wahrheit verdunkelt. Das ist nun die rechte Weise, beim Namen Gottes zu schwören: dass man ihn als Zeugen anruft, um eine dem Zweifel unterzogene Sache glaubwürdig zu machen, und dass man sich für den Fall der Unwahrheit seinem Gerichte unterwirft.
V. 2. Dass ich große Traurigkeit usw. Mit einer Art von rednerischem Kunstgriff bricht Paulus den weiteren Verfolg des hier ausgesprochenen Gedankens ab. Er deutet nur an und sagt noch nicht deutlich, was denn der Anlass seiner Traurigkeit sei. Offen von dem Untergange des jüdischen Volkes zu reden wäre noch nicht am Platze gewesen. Übrigens zeigt sich auf diese Weise die Heftigkeit seines Schmerzes besonders erschütternd; denn es ist immer ein Zeichen tiefer Bewegung, wenn die Rede vor dem Schluss abbricht. Den Grund seines Schmerzes klar auszusprechen verschiebt der Apostel, bis er sicher sein kann, das Vertrauen der Leser wirklich gewonnen zu haben. Auffällig könnte es scheinen, dass der Untergang Israels dem Paulus eine solche innere Qual bereitet, wo der doch wusste, dass hier nur Gottes Rat und Wille geschehen sei. Wir ersehen daraus, dass die gehorsame Unterwerfung unter Gottes Vorsehung die Frommen keineswegs hindert, das Unglück derer aufrichtig zu beklagen, welche verloren gehen, wenn sie auch wissen, dass sich an ihnen ein gerechtes Gericht Gottes vollzieht. Ein und dasselbe Herz hat Raum für doppelte Stimmung: sehen wir auf Gott, so fügen wir uns willig darein, dass verloren geht, über wen er es verhängt hat; richtet sich aber der Gedanke auf die Menschen, so klagen wir mit ihnen über ihr Elend. Es ist ein großes Unrecht, wenn man von den Frommen verlangt, dass der Gehorsam gegen Gottes Ordnung sie stumpf und teilnahmslos machen soll.
V. 3. Ich habe gewünscht usw. Einen größeren Beweis seiner brennenden Liebe konnte Paulus nicht geben, als dieser Satz ihn enthält. Das ist vollkommene Liebe, wenn ein Mensch sich nicht weigert, für die Errettung des Freundes selbst den Tod zu leiden. Dazu zeigt die Form des Satzes, dass Paulus gar nicht bloß vom irdischen, sondern vom ewigen Tode spricht. Er will verbannt sein von Christus, abgeschnitten von ihm, also von jeder Hoffnung der Seligkeit ausgeschlossen. Unvergleichliche Liebe, die den Apostel unbedenklich die Verdammnis sich wünschen lässt, von welcher er die Juden bedroht sah, um sie zu befreien! Natürlich wusste er, dass sein Heil auf Gottes Erwählung ruhte, und dass er aus derselben nicht fallen konnte. Aber die Lebhaftigkeit seiner Empfindung treibt seine Gedanken nur auf einen einzigen Punkt. Darüber vergisst er jetzt alles andere: nur das Heil seines Volkes liegt ihm am Herzen. Wenn vielfach der Zweifel laut wird, ob der Apostel wirklich recht daran tat, einen derartigen Wunsch zu hegen, so diene folgendes zur Lösung: Die feste Grenze, zu welcher die Liebe vordringen, welche sie aber auch nicht überschreiten soll, ist Gottes Heiligtum. Lieben wir also in Gott und nicht neben Gott, so wird unsere Liebe niemals zu groß sein. So aber war es bei Paulus: da er sein Volk mit so viel Gaben Gottes geschmückt sah, so umfasste seine Liebe mit dem Volke Gottes Gaben und das Volk um der Gaben Gottes willen; mit der Liebe zu den Menschen verband sich der Eifer für Gottes Ehre. Es war recht eigentlich die Angst, dass Gottes Gaben dahinfallen und so Gottes Zuverlässigkeit und Wahrheit in ihrem Ansehen Schaden leiden könnten, welche dem bedrückten Gemüte des Paulus diesen Ruf auspresste.
Der Zusatz: meine Brüder, die meine Gefreundeten sind nach dem Fleisch, bringt nichts Neues, dient aber doch zur Charakteristik der Stimmung des Apostels. Er zeigt das menschliche Mitgefühl, welches von dem Untergang des eignen Fleisches und Blutes tief bewegt wird. So kann niemand glauben, dass es dem Apostel gleichgültig sei oder gar Freude mache, sich von seinem Volke getrennt zu sehen. Weiterhin bekennt sich Paulus auch darum unumwunden und ausdrücklich zu seinem Volke, weil das Evangelium, dessen Prediger er war, von Zion seinen Ausgang nehmen musste. Denn die Worte „nach dem Fleisch“ wollen hier nicht, wie dies aus ähnlichen Stellen geschlossen werden könnte (z. B. V. 8), die Verwandtschaft abschwächen, sondern sie vielmehr besonders betonen. Mochten die Juden sich von Paulus lossagen -, er selbst hat keinen Grund, seine Herkunft aus diesem Volk zu verleugnen: denn dieses Volkes Erwählung besaß in der Wurzel doch Lebenskraft, wenn auch ihre Zweige vertrocknet waren.
V. 4. Die da sind von Israel. Jetzt wird der Grund ganz klar ausgesprochen, weshalb den Paulus die Verwerfung seines Volkes so quälte, dass er bereit gewesen wäre, es durch sein eignes Verderben zu erlösen: sie waren von Israel! Unter der gleichen Angst stand Mose, als er aus dem Buche des Lebens gestrichen sein wollte (2. Mose 32, 32): dass doch nur Abrahams heiliges, auserwähltes Geschlecht nicht vernichtet werden möchte! Neben der menschlichen Zuneigung schlagen also andere Gründe durch, welche den Apostel an die Juden banden: Gott hatte ihnen besondere Vorzüge geschenkt und sie weit über die Stufe der übrigen Menschheit erhoben! So hören wir aus diesen anerkennenden Worten die Stimme der Liebe. Und obgleich Israel um seiner Undankbarkeit willen nicht mehr wert war, selbst nach diesen göttlichen Gaben beurteilt zu werden, so lässt ihm doch Paulus seine Würde. Wir lernen daraus, dass die Gottlosen niemals die guten Gaben Gottes derartig beschmutzen können, dass diese selbst nicht voller Lob und Ansehen bleiben müssten. Nur die Menschen, welche Gottes Gaben missbrauchen, empfangen deshalb größere Verdammnis. Wir dürfen, weil die Gottlosen selbst uns verhasst sind, nicht die Gaben für nichts achten, welche Gott ihnen verliehen hat. Und auf der andern Seite bedarf es großer Weisheit, dass wir um einer gerechten Schätzung und Anerkennung dieser Gaben willen die Gottlosen nicht gar zu sehr erheben oder dass unsere Anerkennung nicht gar als Schmeichelei erscheinen muss. Folgen wir vielmehr dem Beispiel des Paulus, welcher den Juden ihr Lob zuerkennt, um alsbald doch zu erklären, dass ohne Christus das alles nichts ist. Unter ihren Ruhmestiteln steht nun an der Spitze, dass sie Israeliten sind: denn das hatte sich Jakob als einen besonderen Segen erbeten, dass sein Name über seinen Kindern genannt werden solle (1. Mose 48, 16).
Welchen gehört die Kindschaft. Denn Gott hatte sie vor allen andern Völkern zu seinem Eigentum erwählt und zu seinen Kindern angenommen, wie er oft genug bei Moses und den Propheten davon Zeugnis gibt. Die Israeliten heißen sogar nicht bloß Kinder, sondern bald Gottes erstgeborene, bald seine geliebten Söhne. 2. Mose 4, 22: „Israel ist mein erstgeborener Sohn.“ Jer. 31, 9.20: „Ich bin Israels Vater, so ist Ephraim mein erstgeborener Sohn.“ „Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn und mein trautes Kind? Darum bricht mir mein Herz gegen ihn, dass ich mich sein erbarmen muss, spricht der Herr.“ Mit solchen Worten will der Herr nicht bloß seine Güte gegen Israel preisen, sondern auch die Herrlichkeit der Kindschaft aufzeigen, unter deren Bilde die Verheißung des himmlischen Erbes sich birgt.
„Herrlichkeit“ nennt Paulus den besondern Vorzug Israels vor den andern Völkern, welcher unter anderem vernehmlich darin bestand, dass Gottes Herrlichkeit unter seinem Volke wohnte. Deren besonderes Zeichen war die Bundeslade, an welcher Gott sein Volk lehrte und erhörte, um so seine Macht in dem Beistand zu erweisen, den er ihm gewährte. Unter diesem Gesichtspunkte hieß dasselbe geradezu „die Herrlichkeit Gottes“ (1. Sam. 4, 22). Weiter nennt der Apostel als zwei besondere Stücke den Bund und die Verheißungen. Ein „Bund“ wird mit besonderen und feierlichen Worten abgeschlossen und enthält gegenseitige Verpflichtungen. Gemeint ist hauptsächlich der Bund mit Abraham. „Verheißungen“ dagegen finden wir überall in der Schrift zerstreut. Gott gab sie seinem Volke, mit welchem er einmal den Bund geschlossen hatte, immer wieder. Sie hängen mit dem Bunde als ihrem zusammenhaltenden Mittelpunkte zusammen, wie die besonderen Durchhilfen, mit welchen Gott den Seinen seine Gnade bezeugt, aus dem einen Quell der Erwählung fließen. Das Gesetz war ja nichts anderes als die Erneuerung jenes Bundes. „Gesetz“ bezieht sich also wohl vornehmlich darauf, dass Gott selbst dieses Volkes Richter war. Denn es war eine besondere Zier des Volkes, dass Gott ihm das Gesetz gab. Rühmen sich andere des Solon oder des Lykurg wie viel mehr kann man sich des Herrn rühmen! (Vgl. 5. Mose 4, 32.33) Unter dem Gottesdienst wird derjenige Teil des Gesetzes verstanden, der sich mit der gesetzmäßigen Weise der Verehrung Gottes beschäftigt, nämlich mit den Zeremonien und Riten. Alle diese Dinge waren Recht, sofern Gott sie anordnete: was die Menschen neben diesem Befehl Gottes erdichten, bedeutet nur eine Entweihung des Gottesdienstes.
V. 5. Welcher auch sind die Väter. Auch das war nicht bedeutungslos, dass Israel von heiligen und gottgeliebten Männern abstammte. Denn Gott hat frommen Vätern seine Barmherzigkeit auch für ihre Kinder verheißen, bis ins tausendste Glied, mit ausdrücklichen Worten namentlich dem Abraham, Isaak und Jakob (1. Mose 17, 4 und öfter). Dabei verschlägt es nichts, dass solche Verheißung an sich, wenn man sie von der Furcht Gottes und einem heiligen Leben losreißt, unnütz und fruchtlos erscheinen muss. Denn eben dasselbe ist auch bei dem „Gottesdienst“ und der „Herrlichkeit“ der Fall (vgl. Jes. 1, 11; 60, 1; Jer. 7, 4). Da aber Gott alle diese Dinge besonderer Anerkennung würdigt, wenn der Ernst einer wahren Frömmigkeit hinzukommt, so verzeichnet sie Paulus mit Recht unter Israels Vorzügen. Sind doch die Juden auch nach Apg. 3, 25 einfach deshalb Erben der Verheißungen, weil sie Nachkommen ihrer Vorväter sind.
Und aus welchen (natürlich nicht den Vätern, sondern den Juden) Christus herkommt nach dem Fleisch. Damit berührt die Rede den abschließenden Vorzug Israels. Oder sollte es gar nichts bedeuten, mit dem Erlöser der Welt blutsverwandt zu sein? Hat Christus das ganze Menschengeschlecht hoch geehrt, da er sich in die Gemeinschaft seiner Natur begab, wie viel mehr das Volk, mit welchem er eine so enge Verbindung einging! Freilich muss man dabei immer im Auge behalten, dass diese Gnadengabe der Verwandtschaft, abgesehen von der Frömmigkeit, nichts nützt, ja höchstens eine schwerere Verurteilung begründen kann. Die ganze Ausdrucksweise unserer Stelle macht dieselbe sehr wichtig für die Erkenntnis der zwei getrennten und doch zur Einheit der Person verbundenen Naturen in Christus. Wenn es heißt, Christus komme aus den Juden her, so deutet dieser Ausdruck auf seine wahre Menschlichkeit. Heißt es aber weiter: „nach dem Fleische“, so erinnert dies daran, dass Christus noch etwas Höheres besitzt als das Fleisch. Wir haben hier also einen deutlichen Unterschied zwischen der menschlichen und göttlichen Natur. Und doch werden diese beiden Naturen wieder zur Einheit zusammengefasst: denn derselbe Christus, der nach dem Fleische aus Israel stammt, ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Es versteht sich von selbst, dass solche Prädikate nur dem einen ewigen Gott zukommen. Denn an einer andern Stelle sagt Paulus (1. Tim. 1, 17), dass allein Gott es ist, dem Ehre und Preis gebührt. Denn diejenigen Ausleger, welche dies letzte Satzglied abreißen und einen neuen Satz daraus machen
(Man übersetzt dann: „Gott, der über allem waltet, sei gelobt in Ewigkeit.“),
um dieses deutliche Zeugnis der Gottheit Christi zu beseitigen, wollen am hellen Tage das Licht nicht sehen. Es begreift sich sehr gut, dass im inneren Kampfe mit dem Anstoß Paulus seine Gedanken absichtlich zu Christi ewiger Herrlichkeit erhebt, nicht bloß um sich selbst zu stärken, sondern um durch seinen Vorgang andern den Mut des Glaubens zu erhöhen.
6 Aber nicht sage ich solches, als ob Gottes Wort darum aus sei. Denn es sind nicht alle Israeliter, die von Israel sind; 7 auch nicht alle, die Abrahams Same sind, sind darum auch Kinder. Sondern „in Isaak soll dir der Same genannt sein“, 8 das ist: nicht sind das Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind; sondern die Kinder der Verheißung werden für Samen gerechnet. 9 Denn dies ist ein Wort der Verheißung, da er spricht: „Um diese Zeit will ich kommen, und Sara soll einen Sohn haben.“
V. 6. Aber nicht sage ich solches usw. Aus der Tatsache, dass Paulus das Geschick und den Abfall seines Volkes zu beklagen hatte, scheint sich die entsetzliche Folgerung zu ergeben, dass der Bund, welchen Gott mit Abrahams Samen geschlossen, dahin gefallen sei. Denn wenn Gottes Gnade von dem Volke ließ, war ja der Bund zerbrochen. Diesem entsetzlichen Gedanken kommt Paulus nun zuvor und zeigt, wie trotz aller Blindheit der Juden Gottes Gnade in diesem Volke doch fortwährend eine Stätte behalten und so der Bund in seiner Wahrheit erhalten geblieben sei.
Denn es sind nicht alle usw. Der Satz will besagen, dass die Verheißung dem Abraham und seinem Samen gar nicht in dem Sinne gegeben sei, dass die Erbschaft sich auf jeden einzelnen unter seinen Nachkommen bezöge. Vielmehr hindert der Abfall einiger Leute gar nicht, dass der Bund seine volle und sichere Geltung behauptet. Um aber richtig zu fassen, mit welchen Bedingungen und Verheißungen Gott die Nachkommenschaft Abrahams als sein Eigentumsvolk angenommen, müssen wir eine doppelte Betrachtung anstellen. Die eine Seite der Sache ist, dass die dem Abraham gegebene Verheißung sich auf alle seine leiblichen Nachkommen bezieht; denn sie wird allen ohne Ausnahme angeboten. In diesem Sinne heißen sie alle Erben und Nachkommen des mit Abraham geschlossenen Bundes oder, wie die Schrift sagt, Kinder der Verheißung (V. 8). Denn da es Gottes Befehl war, dass Ismael und Esau ganz ebenso wie Isaak und Jakob das Zeichen und Siegel des Bundes empfangen sollten, so ersieht man daraus, dass sie ihm gegenüber nicht gänzlich fremd sein sollten. Man müsste denn diese Beschneidung, die ihnen nach Gottes Ordnung zuteil ward, rein für nichts achten, was doch aber eine Lästerung Gottes wäre. Das war es auch, was der Apostel meinte, wenn er von Israel trotz seines Unglaubens sagte (V. 5): „welchem gehört der Bund.“ Und Petrus (Apg. 3, 25) nennt die Juden „des Bundes Kinder“, weil sie Nachkommen der Propheten sind. Die andere Seite der Sache ist die: als Kinder der Verheißung im eigentlichen Sinne gelten nur diejenigen, bei denen irgendeine Kraft und Wirkung davon offenbar wird. Unter diesem Gesichtspunkte sagt Paulus hier, dass nicht alle Kinder Abrahams auch Kinder Gottes seien, obgleich doch Gott mit ihnen einen Bund gemacht hatte. Denn nur wenige standen im Glauben dieses Testamentes. In Summa: wo das ganze Volk ein Erbteil und Eigentum Gottes genannt wird, ist die Meinung, Gott habe es insofern in seine Gemeinschaft aufgenommen, als er ihm die Verheißung des Heils anbot und mit dem Zeichen der Beschneidung versiegelte. Weil nun aber viele in ihrer Undankbarkeit diese Annahme zur Gotteskindschaft verschmähen, also tatsächlich nie in einen persönlichen Besitz dieser Gabe gelangen, so geht hinsichtlich der wirklichen Erfüllung der Verheißung mitten durch Israel eine Spaltung. Will sich jemand darüber wundern, dass man bei den meisten Juden nichts von dieser eigentlichen Erfüllung sieht, so sagt Paulus: diese waren eben nicht in Gottes wahrer Erwählung begriffen. Mit andern Worten: die allgemeine Erwählung des jüdischen Volkes hindert nicht, dass Gottes verborgener Ratschluss in diesem Kreise noch eine besondere Auswahl trifft, wie er will. Es ist schon eine herrliche Offenbarung freier Gnade, wenn Gott sich herablässt, mit einem ganzen Volke einen Bund des Lebens zu schließen: aber noch viel größer ist die Gnade in dieser tieferen und verborgenen Stufe einer zweiten Erwählung, die sich auf einen engeren Kreis beschränkt.
V. 7. Sondern „in Isaak soll dir der Name genannt sein.“ Paulus verweilt noch bei dem Gedanken, dass die verborgene Erwählung Gottes höher steht als die äußere Berufung, dass sie aber mit ihr nicht streitet, sondern vielmehr dazu dient, sie zu bestätigen und zu vollenden.
Um beides der Reihe nach zu beweisen, nimmt er zuerst den Gedanken auf, dass es keineswegs in der Meinung des Bundes gelegen habe, Gottes Erwählung mechanisch an Abrahams leibliche Nachkommenschaft zu binden, Zum Beweise dient ein ganz besonders passendes Beispiel. Denn wenn es überhaupt eine echte, in den Bund einbegriffene Nachkommenschaft geben sollte, so musste dies doch wohl vor allem bei der ersten Generation zutreffen. Und nun sehen wir, dass gerade unter den eigenen Kindern Abrahams, zu des Erzvaters Lebzeiten, da die Verheißung noch ganz neu und frisch war, eines von der wahren Nachkommenschaft ausgeschlossen wird! Wie viel mehr kann solches bei späteren Geschlechtern vorkommen! Der beigebrachte Spruch stammt aus 1. Mose 17, 19.20 (für die wörtliche Form vgl. 21, 12), wo Gott dem Abraham die Antwort gibt, dass sein Gebet um Ismael erhört sei, dass aber ein anderer Sohn es sein werde, auf welchem der verheißene Segen ruhen solle. Daraus folgt, dass durch eine besondere Gnade bestimmte Menschen aus dem erwählten Volke erwählt werden, in welchen die allgemeine Annahme zur Kindschaft erst wirksam und vollgültig wird.
V. 8. Das ist: nicht sind das Gottes Kinder usw. Jetzt zieht Paulus aus dem Worte der Schrift die abschließende Folgerung: wenn in Isaak, nicht in Ismael der Same genannt wird, und der letzte doch nicht minder Abrahams Sohn ist als der erstere, so darf man nicht alle leiblichen Kinder als solche zu dem echten „Samen“ rechnen, sondern die Verheißung erfüllt sich in besonderer Weise an bestimmten Menschen und zielt nicht unterschiedslos auf alle. Nach dem Fleisch Kinder sind diejenigen, die außer der fleischlichen Herkunft nichts Besseres aufzuweisen haben, Kinder der Verheißung, die der Herr in besonderer Weise bezeichnet hat.
V. 9. Denn dies ist ein Wort der Verheißung usw. Der Apostel zieht noch ein zweites Schriftwort bei, dessen Anwendung ein treffliches Zeugnis dafür bietet, mit welcher Genauigkeit und Geschicklichkeit Paulus die Schrift behandelt. Er will sagen: da der Herr noch in die Zukunft deutet, dass er kommen will und Abraham einen Sohn von der Sara haben soll, so gibt er zu verstehen, dass der Segen noch nicht vorhanden sei, sondern noch ausstehe. Nun war aber, als dies Wort gesprochen ward, Ismael schon geboren: also war Ismael nicht der Träger des Segens Gottes. Nebenher wollen wir auch anmerken, wie vorsichtig der Gedanke des Apostels fortschreitet, um die Juden nicht zu erbittern. Zuerst wird einfach der Tatbestand mitgeteilt, der Grund desselben bleibt noch unberührt. Erst später wird diese Quelle eröffnet werden.
10 Nicht allein aber ist´ s mit dem also, sondern auch, da Rebekka von dem einen, unserm Vater Isaak, schwanger ward: 11 ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten auf dass der Vorsatz Gottes bestünde nach der Wahl, 12 nicht aus Verdienst der Werke, sondern aus Gnade des Berufers -, ward zu ihr gesagt: „Der Ältere soll dienstbar werden dem Jüngeren.“ 13 Wie denn geschrieben steht: „Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.“
V. 10. Nicht allein aber usw. Die Rede ist, wie öfters in diesem Kapitel, in ihrer Form wiederum abgebrochen. Doch bleibt der Sinn klar: ein verschiedenes Verhältnis zur Verheißung des Erbes lässt sich nicht bloß bei den Söhnen Abrahams beobachten, sondern noch deutlicher bei Jakob und Esau. Denn bei dem ersteren Falle ließe sich immerhin noch geltend machen, dass Isaak und Ismael nur Halbbrüder waren, und zwar der eine der Sohn einer Magd. Jakob und Esau dagegen waren volle Brüder, und sogar Zwillinge: und doch wird der eine vom Herrn verworfen, der andere angenommen. So muss ja wohl feststehen, dass die Verheißung nicht unterschiedslos allen leiblichen Kindern gilt.
V. 11. Ehe die Kinder geboren waren. Damit enthüllt Paulus den tiefsten Grund des Unterschieds, welchen er bisher nur festgestellt, aber nur sehr andeutungsweise erklärt hat. Dass unter den leiblichen Nachkommen Abrahams, welche doch alle durch die Beschneidung zur Genossenschaft des Bundes gehörten, dennoch nicht überall gleichmäßig die Gnade Gottes sich wirksam zeigte, liegt an der freien, von menschlichen Einflüssen gänzlich unabhängigen Erwählung Gottes. Ein höherer Grund für die Errettung der Frommen und das Verderben der Verworfenen, als auf der einen Seite Gottes Güte und auf der andern seine strenge Gerechtigkeit, lässt sich nicht finden. Als erster Satz muss also feststehen: wie die Auswahl des Volkes Israel aus allen übrigen Völkern lediglich auf dem Segen des Bundes Gottes beruhte, ganz ebenso macht Gottes Erwählung auch zwischen den einzelnen Gliedern dieses Volkes einen Unterschied: die einen bestimmt er zur Seligkeit, die andern zur ewigen Verdammnis. Der zweite Satz lautet: dieser Erwählung Grund ist lediglich Gottes Güte, die sich nach Adams Fall erbarmend herablässt und jede Rücksicht auf Werke annimmt, welche sie will. Drittens wird behauptet: der Herr ist in seiner erwählenden Gnade frei und nicht daran gebunden, dass er sie allen Menschen gleicher weise mitteilen müsse. Vielmehr übergeht Gott, welchen er will, und nimmt zu Gnaden auf, welchen er will. Das alles liegt in den knappen Worten des Apostels. Dabei erinnern die Worte „und weder Gutes noch Böses getan hatten“ ausdrücklich daran, dass Gott, da er einen Unterschied machte, die Werke, die noch gar nicht vorlagen, tatsächlich nicht in Betracht ziehen konnte. Freilich sagen demgegenüber manche Ausleger, dass die Erwählung doch auf das Verdienst der Werke Rücksicht nehmen könne, insofern ja Gott voraussieht, wie die Menschen sich verhalten, und ob sie also seiner Gnade wert oder unwert sein werden. Aber diese Ausleger, die ja nun doch wohl nicht scharfsichtiger sind als Paulus selbst, setzen sich in Widerspruch mit einem der allerersten und selbstverständlichsten Grundsätze der Theologie, dass nämlich Gott bei der verderbten menschlichen Natur, wie sie sich in Jakob und Esau gleicher weise vorfand, überhaupt nichts entdecken konnte, was ihn zur Gnade hätte zwingen müssen. Wenn es heißt, sie hätten beide weder Gutes noch Böses getan, so steht dahinter doch die Voraussetzung: sie waren aber beide Adams Kinder, von Natur Sünder, und sie hatten beide keinen Schimmer von Gerechtigkeit aufzuweisen. Es wird ganz vergeblich sein, diese klare Meinung des Apostels mit oberflächlichen Redereien zu verdunkeln. Wenn die Erbsünde, noch ehe sie eine Tatsünde aus sich heraussetzt, hinreicht, um einem Menschen die Verdammnis zu bereiten, so folgt daraus, dass Esau ganz mit Recht verworfen wurde: denn er war von Natur ein Kind des Zornes. Auf diesem Hintergrunde betont nun Paulus die volle Freiheit der göttlichen Erwählung: auf dass der Vorsatz Gottes bestünde nach der Wahl. Mit jedem Wort betont Paulus die gnädige Erwählung Gottes. Gegen jegliches Verdienst der Werke steht Gottes Vorsatz, der allein auf seinem Wohlgefallen ruht. Und um auch den letzten Zweifel zu beseitigen, wird hinzugefügt: nach der Wahl. Endlich zur vollsten Verdeutlichung des Tatbestandes:
V. 12. Nicht aus Verdienst der Werke, sondern aus Gnade des Berufers. Die Erwählung muss sich ja wohl auf Gottes freien Vorsatz gründen, weil von den Brüdern der eine verworfen, der andere angenommen wird, und weil dies geschieht, noch ehe sie geboren wurden und etwas Gutes oder Böses tun konnten. Wer also den Grund des Unterschiedes irgendwie noch in den Werken suchen will, muss schon wider Gottes Vorsatz ankämpfen. Paulus will jede Rücksicht auf die Werke ausgeschlossen wissen. Deshalb erinnert er ausdrücklich noch an die Gnade des Berufers. Hier liegt der alleinige Grund der Erwählung, nicht in den Werken. Gottes Vorsatz allein macht unsere Erwählung fest. Ein Verdienst könnte nur insofern in Betracht kommen, als wir den Tod verdienen. Auf unsere Würdigkeit sieht Gott nicht, weil sie nicht existiert. Gottes freie Gnade allein führt das Regiment. Die Lehre, dass Gott die Menschen erwählt oder verwirft, je nachdem er voraussieht, ob jemand seiner Gnade würdig oder unwürdig sein werde -, ist falsch und dem Worte Gottes zuwider.
„Der Ältere soll dienstbar werden dem Jüngeren.“ Welcher Unterschied zwischen Isaaks Kindern, die doch noch im Mutterleibe verborgen sind! So verkündet es der Spruch Gottes: Gott will dem Jüngeren seine besondere Gunst zuwenden, die er dem Älteren entzieht. Freilich bezog sich dieser Spruch zunächst auf das Recht der Erstgeburt: aber eben darin lag ja ein Hinweis auf ein Größeres, und darin wurde Gottes Wille kund. Das ersieht man ganz besonders deutlich, wenn man bedenkt, wie wenig doch eigentlich das Erstgeburtsrecht dem Jakob äußerlich genützt hat. Um desselben willen gerät er in die äußerste Gefahr und vermag sich nur dadurch zu retten, dass er Vaterhaus und Vaterland verlässt. In der Fremde erfährt er die unmenschlichste Behandlung. Als er zurückgekehrt, muss er sich voller Furcht und Sorge um sein Leben dem Bruder zu Füßen werfen und demütig seine Verzeihung erbitten: und er lebt nur von dieser Vergebung. Wo ist die Herrschaft über den Bruder, von dessen gutem Willen sein doch abhängt? Das Vorzugsrecht, welches Gottes Spruch verheißen hatte, lag also noch auf einer andern Höhe.
V. 13. Wie denn geschrieben steht: Jakob habe ich geliebt usw. Dieses noch deutlichere Schriftzeugnis beweist, dass Gottes Spruch an Rebekka allerdings mit Recht hier beigebracht werden konnte. Dass Jakob herrschen und Esau dienen sollte, war nur eine eigenartige Ausdrucksweise für die geistliche Stellung der beiden Brüder. Und Jakob war in den Gnadenstand ohne sein Verdienst, durch Gottes Güte, aufgenommen worden. Unser Prophetenspruch zeigt also den Grund an, weshalb der Herr dem Jakob das Erstgeburtsrecht übertrug. Er stammt aus Mal. 1, 2.3. Dort will der Herr den Juden ihre Undankbarkeit vorwerfen und erinnert sie an seine früheren Wohltaten. Er ruft ihnen zu: ich habe euch geliebt. Und er fügt bei, wann diese Liebe ihren Anfang genommen: ist nicht Jakob Esaus Bruder? Gott will sagen: was hatte er denn für einen Vorzug, dass ich ihn seinem Bruder vorziehen musste? Gar keinen! Beide besaßen den gleichen Anspruch. Höchstens, dass nach dem Rechte der Natur der Jüngere hinter dem Erstgeborenen gar noch hätte zurückstehen müssen! Ich aber habe jenen angenommen und diesen verworfen. Allein meine Erbarmung hat mich dabei geleitet, nicht der Blick auf Werke. Und nun hatte ich mit der gleichen Erbarmung Jakobs Samen getragen und euch zu meinem Volke gemacht: die Edomiter aber, die Nachkommen Esaus, hatte ich verworfen. Also seid ihr umso verdammenswerter, weil die Erinnerung an solche Gnade euch noch nicht zu reizen vermag, mein göttliches Wesen zu verehren! Freilich werden an dieser Stelle auch die irdischen Segnungen erwähnt, mit welchen Gott das Volk Israel bedacht hatte: aber das alles will doch nur als ein Zeichen jener ewigen Gnade verstanden sein. Denn wo Gottes Zorn ist, da ist der Tod, wo seine Liebe, da ist das Leben.
14 Was wollen wir denn hier sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! 15 Denn er spricht zu Mose: „Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich.“ 16 So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. 17 Denn die Schrift sagt zum Pharao: „Ebendarum habe ich dich erweckt, dass ich an dir meine Macht erzeige, auf dass mein Name verkündigt werde in allen Landen.“ 18 So erbarmt er sich nun, welches er will, und verstockt, welchen er will.
V. 14. Was wollen wir denn hier sagen? Das Fleisch kann Gottes Weisheit nicht vernehmen, ohne sofort eine Reihe von widerspenstigen Fragen aufzuwerfen und von Gott gewissermaßen Rechenschaft zu fordern. So oft der Apostel also irgendein besonderes Geheimnis verhandelt, räumt er stets die Schwierigkeiten aus dem Wege, in welchen sich die Gedanken der Menschen zu verwickeln pflegen. Namentlich die Lehre von der Erwählung bietet ja mannigfaltige Anstöße. Der menschliche Geist verläuft sich hier in lauter Irrwege, aus welchen er den Ausweg nicht mehr findet. Wie ist nun da zu helfen? Nicht etwa dadurch, dass man von dieser Lehre grundsätzlich schweigt. Denn da der Heilige Geist uns nie eine überflüssige Lehre vorträgt, so birgt auch diese Lehre von der Erwählung ihren großen Nutzen, wenn man sie nur innerhalb der Schranken des Wortes Gottes verhandelt. Wir wollen also nichts zu wissen begehren, als was die Schrift lehrt: wo Gott seinen heiligen Mund schließt, da wollen auch wir auf den Versuch verzichten, unsern Weg noch weiter fortzusetzen. Doch wir sind Menschen und fassen von Natur viele törichte Gedanken: also wollen wir hören, was Paulus zu deren Abwehr sagt.
Ist denn Gott ungerecht? Unglaublicher Vorwitz des menschlichen Geistes, lieber Gott der Ungerechtigkeit zu zeihen als die eigene Blindheit zuzugestehen! Das Fleisch hält es für ungerecht, dass Gott den einen übergeht, den andern annimmt. Um diesen Anstoß zu beheben, verhandelt Paulus die Frage in zwei Abschnitten: zuerst spricht er von den Erwählten, dann von den Verworfenen; bei den ersteren sollen wir Gottes Barmherzigkeit ins Auge fassen, bei den letzteren sein gerechtes Gericht anerkennen. Zunächst gibt Paulus seinen Abscheu gegen den Gedanken zu erkennen, dass Gott ungerecht sein könne: das sei ferne! Dann geht er zur ordnungsmäßigen Besprechung der angegebenen zwei Teil über:
V. 15. Denn er spricht zu Mose. Was zuerst die Erwählten angeht, so kann von einer Ungerechtigkeit Gottes keine Rede sein: denn ihnen lässt Gott nach seinem Wohlgefallen Gnade zuteil werden. In diesem Sinne beruft sich der Apostel auf die Antwort, welche Mose vom Herrn empfing, als er für das Heil des ganzen Volkes Fürbitte tat: „Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich.“ Mit diesem Spruch erklärt der Herr, dass er keinem Sterblichen etwas schuldet, dass, was er gibt, ein Geschenk der Gnade ist; weiter, dass er die Freiheit hat, seine Gnade zu erweisen, welchem er will; endlich, dass sich eine höhere Ursache als sein Wille nicht denken lässt, wenn er nicht allen, sondern nur bestimmten Menschen seine Wohltaten und sein Wohlwollen zuwendet. Denn die Worte klingen so, als wolle Gott sagen: wenn ich einmal beschlossen habe, mich eines Menschen zu erbarmen, so werde ich ihm dieses Erbarmen nie wieder entziehen; und mit ewiger Gnade werde ich über denen walten, die ich einmal begnadigt habe. Als oberste Ursache seiner Gnade bezeichnet also Gott hier den freien Entschluss seines Willens, und zugleich gibt er zu verstehen, dass er seine besondere Barmherzigkeit ganz bestimmten Menschen zugedacht habe. So trifft dieser Spruch mit der Meinung des Paulus zusammen, dass Gottes Erbarmen ein freies, nicht irgendwie gebundenes ist, und dass es sich wenden kann, wohin es will. Man nimmt aber dem Herrn diese Freiheit, wenn man seine Erwählung von irgendwelchen Gründen und Anlässen außer ihr abhängig denkt.
V. 16. So liegt es nun nicht an jemandes Wollen usw. Aus dem soeben beigebrachten Schriftwort zieht Paulus die Folgerung, die auch ohne Zweifel daraus gezogen werden muss, dass unsere Erwählung sicher weder auf unsern Fleiß, noch auf unsern Eifer, noch auf unsere Vorsätze gründet, sondern ganz auf Gottes Rat. Es soll niemand glauben, dass die Auserwählten deshalb erwählt sind, weil sie es verdient, oder weil sie Gottes Gnade auf irgendeine Weise sich erworben hätten, oder endlich weil in ihnen wenigstens ein Schimmer von Würdigkeit aufleuchtete, an welchen Gott anknüpfen könnte. Vielmehr soll die einfache Wahrheit gelten: nicht unser Wille macht es oder unsere Anstrengungen (denn dies versteht Paulus unter „Laufen“), dass wir unter die Auserwählten zählen, sondern allein Gottes Güte, die uns zu Gnaden annahm ohne unser Wollen und Versuchen, ja selbst ohne unser Denken. Freilich schieben manche Ausleger dem Worte des Paulus noch den Gedanken unter: unsere Anstrengungen haben zwar eine gewisse Kraft, sie erreichen aber ihre Ziel nicht, wenn Gottes Gnade nicht unterstützend eingreift. Doch das ist eine ungesalzene Rede. Denn dem Apostel kommt es hier sicherlich nicht darauf an, zu zeigen, was wir aus uns vermögen, sondern vielmehr alle unsere Anstrengungen auszuschalten. Auf der andern Seite soll freilich auch nicht gesagt sein, dass man der Gnade den meisten Raum schafft, wenn man müßig und träge die Hände in den Schoß legt. Denn wenn auch unser eigner Eifer nichts vermag, so erweist sich doch der Eifer, den Gott uns einflößt, überaus lebendig. Paulus hat unsern Satz nicht geschrieben, damit wir den Geist Gottes und sein Feuer durch unsere Widerspenstigkeit oder Trägheit ersticken, sondern damit wir erkennen, dass von ihm stammt, was wir haben. So sollen wir lernen, von ihm alles zu erbitten und zu erhoffen, und ihm alles zu danken, indem wir unsere Seligkeit mit Furcht und Zittern schaffen. Eine andere sophistische und faule Ausflucht hat Pelagius erfunden, um die wirkliche Meinung des Paulus zu beseitigen: es liege insofern nicht an unserm Wollen oder Laufen, als dieses allein, ohne die Beihilfe der Gnade Gottes, allerdings nichts ausrichten könne. Die trefflichste Widerlegung dieser unbesonnenen Rede hat bereits Augustin gegeben: wenn Paulus nur deshalb die Erwählung nicht auf den Willen des Menschen gründen will, weil dieser nicht die einzige, sondern nur eine teilweise Ursache derselben sei, so müsste sich auch umgekehrt sagen lassen: so liegt es nun nicht an Gottes Erbarmen, sondern an unserm Wollen und Laufen. Soll es sich einmal um ein gleichmäßiges Zusammenwirken beider Faktoren handeln, so versteht es sich ja von selbst, dass eine solche Umkehrung erlaubt sein muss. Freilich ist der Satz, der auf diese Weise zustande kommt, so unmöglich, dass ihm seine eigene Torheit das Urteil spricht. Es bleibt also dabei: Paulus schreibt das Heil der Auserwählten in dem Sinne der göttlichen Gnade zu, dass der Anstrengung des Menschen kein Anteil daran verbleibt.
V. 17. Denn die Schrift sagt zum Pharao usw. Jetzt wendet sich die Rede zum zweiten Stück, zur Verwerfung der Gottlosen. Hier ist ja freilich der Anstoß noch schwerer. Darum wendet der Apostel besonderen Fleiß daran, zu zeigen, dass, wenn Gott verwirft, welche er will, sein Rat nicht bloß untadelig ist, sondern sogar Bewunderung verdient wegen seiner Weisheit und Billigkeit. Er übernimmt aus 2. Mose 9, 16 das Wort, in welchem Gott erklärt, er sei es gewesen, der den Pharao in einer bestimmten Absicht erweckt habe: während er selbst alle Kraft des Widerspruchs und Widerstandes gegen Gottes Macht aufbot, musste er, besiegt und unterworfen, zum Beispiel werden, dass Gottes Arm unbesieglich ist und dass keine Menschenkraft ihn ertragen, geschweige denn zerbrechen kann. Zwei Dinge müssen dabei in Betracht gezogen werden: die Bestimmung Pharaos zum Verderben, welche sich auf einen jedenfalls gerechten, aber doch undurchsichtigen Ratschluss Gottes gründet -, und deren Zweck, welcher darin besteht, dass Gottes Name gepriesen und verkündigt werden soll. Auf diesen Zweck fällt der Hauptnachdruck. Denn wenn es mit dieser Verstockung eine solche Bewandtnis hat, dass sie einen Anlass zur Verherrlichung des göttlichen Namens gibt, so darf man um ihretwillen Gott nicht der Ungerechtigkeit zeihen: denn Gottes Verherrlichung und Ungerechtigkeit sind schneidende Gegensätze. Da aber viele Ausleger auch dieser Stelle ihre Härte benehmen wollen und sie auf diese Weise verdrehen, so wollen wir darauf hinweisen, dass hier steht: ich habe dich erweckt, oder ganz genau nach dem hebräischen Texte: ich habe dich hingestellt. Wenn also Gott beweisen will, dass der Widerstand des Pharao die Erlösung seines Volkes nicht hindern könne, so sagt er nicht bloß: ich habe deinen Grimm vorausgesehen, aber ich habe auch Mittel bereit, ihn im Zaume zu halten -, sondern: ich habe es mit Vorbedacht so geordnet, und zwar zu dem Zwecke, um einen desto herrlicheren Beweis meiner Macht zu geben. Wenn man also den Paulus sagen lässt, dass Gott den Pharao aufbehalten habe für seine bestimmte Zeit, so verkehrt man seinen Gedanken: es ist ausdrücklich von dem Anfang seines Auftretens die Rede, den Gott herbeigeführt hat. Gott hat dem Pharao geradezu seine Rolle zugeteilt. Man wird vergeblich mit Gott streiten und von ihm Rechenschaft fordern. Denn er kommt allen Einwürfen selbst zuvor, tritt feierlich hin und verkündet, dass die Verworfenen aus dem verborgenen Abgrunde seiner Vorsehung stammen und dass er an ihnen seinen Namen verherrlichen will.
V. 18. So erbarmt er sich nun usw. Hier folgt der Schluss aus beiden bisher gesondert behandelten Gliedern. Paulus will bei uns bewirken, dass wir uns mit dem Unterschied, den Gottes Wille selbst zwischen den Auserwählten und Verworfenen macht, zufrieden geben. Hat Gott beschlossen, den einen das Licht zum Leben zu senden, den andern Verblendung zum Tode, so darf unser Denken über diesen seinen Willen nicht mehr emporsteigen. Es hat bei dem Sätzchen sein Bewenden: „welchen er will“. Weiter werden wir nie kommen. Im Übrigen erlaubt das Wort „verstocken“, welches die Schrift von Gott gebraucht, nicht wie man wiederum zu mildern gesucht hat an eine bloße Zulassung Gottes zu denken; es bezeichnet vielmehr eine eigentliche Tätigkeit des göttlichen Zornes. Denn alle äußeren Widerfahrnisse, welche zur Verblendung der Verworfenen dienen, sind Werkzeuge dieses Zornes. Satan selbst, der in den Herzen der Verworfenen wirkt, ist des göttlichen Zornes Diener und vermag ohne dessen Befehlt nichts auszurichten. Damit fällt wiederum die oberflächliche Ausflucht von Gottes bloßem Vorauswissen. Denn Paulus sagt nicht, dass der Herr den Sturz der Gottlosen vorausgesehen, sondern dass er ihn mit Absicht und Vorbedacht angeordnet habe. Wie auch Salomo (Spr. 16, 4) lehrt: „Der Herr macht nicht sieht voraus alles zu bestimmtem Ziel, auch den Gottlosen für den bösen Tag.“
19 So sagst du zu mir: Was beschuldigt er denn uns? Wer kann seinem Willen widerstehen? 20 Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich also? 21 Hat nicht ein Töpfer Macht, aus einem Klumpen zu machen ein Gefäß zu Ehren und das andere zu Unehren?
V. 19. So sagst du zu mir usw. Hier ist der Punkt, an welchem das Fleisch in den heftigsten Aufruhr gerät, wenn es vernimmt, dass der Untergang der Gottlosen auf Gottes Beschluss und Willen zurückgeführt werden soll. Der Apostel weiß sehr gut, dass die Mäuler der Gottlosen kräftig wider Gottes Gerechtigkeit bellen und sich nicht leicht stopfen lassen. So kommt er noch einmal ihrem Widerspruch zuvor. Was sie zu sagen haben, kleidet er in eine besonders zutreffende Form: sie begnügen sich nicht mit ihrer eignen Verteidigung, sondern machen geradezu Gott an ihrer Statt zum Angeklagten. Sie wälzen ihre Schuld auf ihn, und dann entrüsten sie sich über seine Macht. Sie müssen ja schließlich stille halten, aber sie tun es zähneknirschend und widerwillig: ihre Verdammnis empfinden sie als eine Vergewaltigung: hat Gott ein Recht, uns zu zürnen? Hat er uns doch selbst zu dem gemacht, was wir sind; denn er tut nach Gutdünken, was er will. Wenn er uns ins Verderben stößt, was straft er dann anders als was er selbst in uns getan hat? Wir können nicht mit ihm streiten. Er bleibt stärker als aller Widerstand. Also sein Gericht, welches das Verderben über uns verhängt, ist ungerecht, und seine zügellose Macht missbraucht er wider uns. Was sagt nun Paulus zu solchen Reden?
V. 20. Ja, lieber Mensch, wer bist du denn usw. Diese erste Antwort schlägt die Lästerung einfach mit einem Hinweis auf die dem Menschen gebührende Stellung nieder. Dann aber folgt eine zweite, welche Gottes Gerechtigkeit gegen jede Anklage schützt. Dabei ist offensichtlich, dass Paulus einen höheren Grund als Gottes Willen keinesfalls in Betracht zieht. Er hätte ja sagen können, dass der Unterschied zwischen den Auserwählten und Verworfenen seine gerechten Ursachen habe. Warum gebraucht er nun eine solche kurze Widerlegung nicht, sondern rückt Gottes Willen an die höchste Stelle, so dass dieser alle andern Gründe ersetzen muss? Wenn die Annahme, auf welcher der gemachte Einwurf ruht, falsch gewesen wäre, dass nämlich Gott nach seinem Wohlgefallen verwirft und erwählt, je nachdem er einen Menschen seiner Gnade nicht würdigt oder ihn aus freiem Erbarmen liebt -, so hätte Paulus sicher nicht versäumt, sie zu widerlegen. Die Gottlosen erheben den Einspruch, dass von einer Schuld der Menschen nicht mehr die Rede sein könne, wenn über ihr Heil oder Verderben einfach Gottes Wille entscheidet. Sagt nun Paulus etwa, das sei gar nicht so? Im Gegenteil! Seine Antwort prägt bloß noch einmal ein, dass Gott über die Menschen beschließt, was er will. Aber vergebens werden die Menschen zu zornigem Kampfe aufstehen, weil Gott ein Recht hat, seinen Geschöpfen ein Los zu bestimmen, welches er will. Nun sagt man freilich, dem Paulus seien hier die Gründe ausgegangen, so fange er an zu schelten. Doch das ist eine Lästerung des Heiligen Geistes. Denn was Paulus allerdings sagen konnte, um Gottes Gerechtigkeit zu retten, wollte er schon jetzt am Anfang aussprechen, weil er nicht richtig verstanden worden wäre. So hält er auch diesen zweiten Grund in solchen Schranken, dass er eine volle Verteidigung noch nicht ergibt. Um die hier gegebene Darstellung der Gerechtigkeit Gottes recht zu erwägen, dazu bedarf es noch immer frommer Demut und eines ehrfürchtigen Sinnes. Paulus tut, was am meisten nötig war: er erinnert den Menschen an seine Stellung Gott gegenüber. Es ist, als riefe er uns zu: da du ein Mensch bist und weißt, dass du Staub und Asche bist, warum streitest du mit Gott über eine Sache, deren Verständnis dir immer zu hoch bleiben wird? In Summa: der Apostel sagt nicht, was er hätte sagen können, sondern was in Anbetracht unseres dürftigen Geistes am nötigsten war. Freche Menschen lästern zwar, dass Paulus die göttliche Erwählung und Verwerfung einfach behaupte, dass er aber einen wirklichen Grund zur Lösung der Schwierigkeit nicht beibringe und, vom Heiligen Geiste verlassen, nichts weiter zu sagen wisse. Als ob uns sein Stillschweigen nicht vielmehr eine Mahnung wäre, ein Geheimnis, welches unser Verstand nicht fasst, demütig anzubeten! Paulus weist die Keckheit der menschlichen Neugier in ihre Schranken. Wir sollen wissen, dass Gott nur deshalb zu reden aufhört, weil er weiß, dass wir die Fülle seiner Weisheit nicht mit unserm Maße zu messen vermögen. Er schont unsere Schwachheit und will uns zur Bescheidenheit und Nüchternheit anleiten.
Spricht auch ein Werk usw. Immer wieder drängt Paulus darauf, dass wir den Willen Gottes, wenn wir seinen Grund auch nicht durchschauen, für gerecht halten sollen. Paulus zeigt, wie man Gott seines Rechtes berauben würde, wenn man ihm die freie Verfügung über seine Kreaturen absprechen wollte. Das klingt allerdings für viele Ohren zu hart. Mancher glaubt auch, dass man Gott in ein schlechtes Licht setzt, wenn man ihm solche Freiheit zuschreibt. Als ob diese Leute mit ihrer Krittelei bessere Theologen wären als Paulus, welcher den Gläubigen als Regel der Demut vorhält, dass es gilt, Gottes Macht zu verehren, nicht aber nach dem eignen Maßstabe zu messen. In der Abwehr der hochmütigen Auflehnung wider Gott bedient sich der Apostel eines sehr passenden Bildes. Dieses wird nicht aus Jer. 18, 6, sondern aus Jes. 45, 9 entnommen sein. Denn bei Jeremia steht nur, Israel sei in Gottes Hand, welche um ihrer Sünde willen das Volk zerbrechen könne wie der Töpfer ein tönernes Gefäß. Jesaja aber enthüllt eine viel tiefere Wahrheit: „Weh dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe wie andere irdene Scherben. Spricht auch der Ton zu seinem Schöpfer: was machst du?“ usw. Wenn der staubgeborene Mensch seinen Abstand von Gott ermisst, so hat er sicher keinen Grund, sich höher zu dünken als ein Töpfergefäß.
V. 21. Hat nicht ein Töpfer Macht usw. Hier steht der Grund, weshalb das Gebilde nicht mit seinem Bildner streiten darf. Denn alles, was der Bildner tut, ist sein eigenstes Recht. Dabei versteht Paulus unter „Macht“ nicht bloß die hinreichende Fähigkeit und Kraft, vermöge deren der Töpfer ausführen kann, was er will. Er denkt hauptsächlich an das ungeschmälerte Recht, welches er besitzt. Nicht von einer regellosen Kraftwirkung Gottes ist die Rede eine solche gibt es nicht -, sondern von seinem innerlich begründeten Recht. Bei der Anwendung des Gleichnisses legt Paulus offenbar das Gewicht auf folgenden Gedanken: wie der Töpfer dem Ton nichts nimmt, er mag ihm nun eine Gestalt geben, welche er will, so nimmt auch Gott dem Menschen nichts, er mag ihn für eine Lage bestimmen, welche er will. Wir dürfen dabei nur nicht vergessen, dass man Gott ein Stück seiner Ehre rauben würde, wollte man ihm nicht die Gewalt zuerkennen, der Herr über Leben und Tod zu sein.
22 Derhalben, da Gott wollte Zorn erzeigen und kundtun seine Macht, hat er mit großer Geduld getragen die Gefäße des Zorns, die da zugerichtet sind zur Verdammnis; 23 auf dass er kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er bereitet hat zur Herrlichkeit.
V. 22. Derhalben usw. Eine zweite Antwort, welche in Kürze zeigt, dass Gottes Rat in diesem Stück zwar unbegreiflich ist, dass aber doch seine Gerechtigkeit nicht minder untadelig sich zeigt, wenn sie den Verworfenen das Verderben, als wenn sie den Auserwählten die Seligkeit bereitet. Allerdings will und kann der Apostel auch hier nicht erklären, warum die einen verworfen, die andern aber erwählt werden. Denn es wäre nicht recht gewesen, den Inhalt des geheimen Ratschlusses Gottes menschlichem Urteil zu unterstellen, und das Geheimnis hätte doch unenthüllt bleiben müssen. Paulus zügelt also unsere Neugier, damit sie nicht durchforsche, was doch alles Denken übersteigt, und zeigt doch zugleich, dass Gottes Erwählungsratschluss, soweit er uns überhaupt enthüllt ward, als vollkommen gerecht erscheinen muss. Der Satz „Wenn nun aber Gott … mit großer Geduld getragen hat“ usw., fordert die Ergänzung: wer wagt es dann noch, ihm deshalb Ungerechtigkeit vorzuwerfen? Der Gedanke ist nämlich der: diese Gefäße sind zum Verderben bereitet, d. h. dem Verderben geweiht und dafür bestimmt; es sind also Gefäße des Zornes, d. h. sie sind geschaffen und gebildet, um als Beweisstücke der göttlichen Strafe und des göttlichen Zornes zu dienen. Wenn sie nun Gott eine Zeitlang geduldig trägt und sie nicht im nächsten Augenblick zerschlägt, sondern das ihnen zugedachte Gericht aufschiebt -, und wenn er dies tut, einerseits um den Übrigen ein erschreckendes und darum heilsames Beispiel seines strengen Gerichts zu geben, andererseits um seine Macht zu zeigen, welcher die Kreaturen auf allerlei Weise dienen müssen, namentlich aber um den Reichtum seines Erbarmens über die Auserwählten desto sichtlicher und heller leuchten zu lassen -, was soll dann in solcher Anordnung des Tadels wert sein? Freilich verschweigt der Apostel, woher es kommt, dass es zum Verderben bereitete Gefäße gibt. Aber das ist begreiflich. Er kann nach seinen vorherigen Darlegungen voraussetzen, dass man den Grund in dem ewigen und unentwirrbaren Ratschluss Gotte suche. Und es ziemt sich, Gottes Gerechtigkeit lieber anzubeten, als sie durchschauen zu wollen. „Gefäße“ aber schreibt der Apostel im Sinne von „Werkzeuge“. Denn alle Bewegung aller Kreatur ist wie ein Mittel und Werkzeug göttlicher Kraft. Mit gutem Grunde heißen danach wir Gläubigen (V. 23) Gefäße der Barmherzigkeit, denn wir sind Gottes Werkzeuge zur Offenbarung seiner Barmherzigkeit, die Verworfenen aber Gefäße des Zorns; denn sie dienen dazu, dass man Gottes Gerichte schaue.
V. 23. Auf dass er kundtäte den Reichtum usw. Dies ist ein neuer Anlass, an dem Verderben der Verworfenen Gottes Herrlichkeit zu schauen: dies Verderben rückt den Reichtum der Güte Gottes über die Auserwählten in ein desto helleres Licht. Oder gäbe es noch einen andern Unterschied zwischen den Auserwählten und Verworfenen, als bloß den, dass der Herr die ersteren aus dem gleichen Abgrunde des allgemeinen Verderbens herausgezogen hat? Und zwar nicht auf Grund irgendeines eigenen Verdienstes, sondern lediglich nach dem Wohlgefallen seiner Gnade! Kräftiger also kann man sich schwerlich von Gottes unermesslicher Gnade gegen seine Auserwählten überzeugen, als wenn man das Elend derer ansieht, welche unter seinem Zorn bleiben. Wenn der Apostel zweimal sagt: „Herrlichkeit“, so ist an deren leuchtendste Erscheinung zu denken, an die Gnade. Ganz in demselben Sinne heißt es Eph. 1, 12.14: wir sollen etwas sein zu Lob seiner Herrlichkeit, und: wir sollen sein Eigentum werden zu Lob seiner Herrlichkeit. Der Apostel will damit ausdrücken, dass die Auserwählten dem Herrn als Mittel und Werkzeuge dienen, sein Erbarmen zu offenbaren und seinen Namen zu verherrlichen.
24 Welche er berufen hat, nämlich uns, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden. 25 Wie er denn auch durch Hosea spricht: „Ich will das mein Volk heißen, das nicht mein Volk war, und meine Geliebte, die nicht die Geliebte war.“ 26 “Und soll geschehen: An dem Ort, da zu ihnen gesagt ward: ´Ihr seid nicht mein Volk´, sollen sie Kinder des lebendigen Gottes genannt werden.“ 27 Jesaja aber schreit für Israel: „Wenn die Zahl der Kinder Israel würde sein wie der Sand am Meer, so wird doch nur der Überrest selig werden; 28 denn Gott wird eine kurze und strenge Rede führen, ja kurz wie des Herrn Verfahren auf Erden sein.“ 29 Und wie Jesaja zuvor sagte: „Wenn uns nicht der Herr Zebaoth hätte lassen Samen überbleiben, so wären wir wie Sodom geworden und gleichwie Gomorra.“
V. 24. Welche er berufen hat usw. Aus der bisherigen Erörterung über die Freiheit des göttlichen Erwählungsratschlusses ergab sich zweierlei: erstens bleibt Gottes Gnade nicht derartig in den Grenzen des jüdischen Volkes beschlossen, dass sie nicht auch andere Völker, ja den ganzen Erdkreis erreichen könnte. Zweitens ist die Gnade auch nicht in dem Sinne an die Juden gebunden, dass sie allen leiblichen Kindern Abrahams ohne Ausnahme gehören müsste. Denn wenn Gottes Erwählung allein an dem Beschluss seines Wohlgefallens hängt, so findet sie überall dort ihre Stelle, wohin sein Wille sich wendet. Steht also die Erwählung fest, so ist schon der Weg zu den Wahrheiten geebnet, welche Paulus einerseits über die Berufung der Heiden, andererseits über die Verwerfung der Juden vorgetragen hat, deren erstere unerhört und neu, deren letztere vollends unmöglich und Gottes unwürdig erscheinen musste. Weil aber die letztere den allergrößten Anstoß in sich barg, so wendet sich die Rede zuerst zu der ersten immerhin erträglicheren Behauptung. Paulus sagt, dass die Gefäße der Barmherzigkeit, welche Gott sich zur Verherrlichung seines Namens auserwählt, gleicher Weise aus den Heiden wie aus den Juden genommen werden. Dass Gott keinen Unterschied zwischen den Völkern macht, dafür dient zum Beweise, dass er seine Gläubigen berufen hat … nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden. Wenn unsere heidnische Herkunft den Herrn nicht gehindert hat, uns zu berufen, so sieht man ja, dass die Heiden keineswegs vom Reiche Gottes und dem Bunde des Heils ausgeschlossen sein sollen.
V. 25. Wie er denn auch durch Hosea spricht. Nunmehr folgt ein Nachweis, dass die Berufung der Heiden durchaus nicht als eine überraschende Neuerung gelten darf: denn die Weissagungen der Propheten haben seit langen Zeiten von ihr gezeugt. Der Sinn ist ganz klar. Schwierigkeiten macht es nur, den ursprünglichen Sinn des Hoseaspruches mit der Meinung des Paulus in Übereinstimmung zu bringen. Scheint es doch zweifellos, dass der Prophet Hoses in seinem Zusammenhange von Israel redet: Gott ist durch die Sünden Israels beleidigt, und erklärt, dass er dasselbe nicht mehr als sein Volk anerkennt. Dann aber wendet er sich zu einem Worte neuen Trostes: aus Nichtgeliebten will ich Geliebte machen, und mein Volk aus dem, das nicht mein Volk ist. Paulus aber scheint diese Worte, die ausdrücklich den Juden gelten sollen, irrtümlich auf die Heiden zu deuten. Um hier eine Lösung zu finden, stellen wir folgendes zur Erwägung. Vielleicht ist es doch nicht ausgeschlossen, den Trostspruch des Hosea auch in seinem ursprünglichen Sinne nicht bloß auf die Juden, sondern auch auf die Heiden zu beziehen. Es ist doch durchaus nicht unerhört, dass ein Prophet, nachdem er den Juden um ihrer Sünden willen Gottes Rache angekündigt, seine Gedanken nunmehr auf das Reich Christi richtet, welches den ganzen Erdkreis umspannen soll. Ist doch in Unglück und Sünde des Volkes Christus tatsächlich die einzige Zuflucht; und der einzig wirkliche Trost besteht darin, dass man den Sündern, welchen Gottes Zorn droht, Christus vor Augen stellt. Die Propheten haben doch, wie wir sehen, die Gepflogenheit, das Volk, wenn es unter der Drohung des göttlichen Zorns gedemütigt ist, zu Christus zu rufen, dem einzigen Zufluchtsort der Verzweifelten. Wo aber Christi Königreich errichtet wird, da erhebt sich zugleich jenes himmlische Jerusalem, in welchem sich Bürger aus aller Welt zusammenfinden. Bei unserm Prophetenspruch fordert der Umstand eine besondere Beachtung, dass Israel ja aus der Gemeinschaft mit Gott verstoßen und dadurch den Heiden gleichgemacht und mit der übrigen Menschheit völlig in eine Reihe gestellt war. Nun ist Raum geschaffen für ein neues Israel, für eine Gemeinde, welche Gottes Gnade aus allen Völkern sammelt. So wird erfüllt: „Ich will das mein Volk heißen, das nicht mein Volk war, und meine Geliebte, die nicht die Geliebte war.“ Die letztere Wendung erklärt sich daraus, dass der Prophet (Hos. 1, 6) eine Tochter hatte mit Namen „Lo-Ruhama“, d. h. die nicht Geliebte. Diesen Namen hatte er ihr geben müssen, weil diese Tochter das von Gott verworfene Volk darstellen sollte. Übrigens soll man sich nicht wundern, dass die Schrift von den Auserwählten, welche doch kraft des ewigen Ratschlusses immer Gottes Kinder sind, aussagt, sie seien bis zu einem bestimmten Zeitpunkte nicht Gottes Volk und nicht Geliebte gewesen. Diese Redeweise trifft für die Zeit zu, in welcher die Auserwählten noch nicht die Berufung erfahren haben, und sie gibt uns einen Fingerzeig, dass wir unser Urteil hintanhalten sollen: wir können über Gottes Erwählung nur insoweit urteilen, als sie sich in ihren Zeichen kundtut. So hat Paulus den Ephesern zugerufen (Eph. 1, 4), dass Gott sie erwählt habe, ehe der Welt Grund gelegt war; und doch heißt es bald darauf von denselben Leuten (Eph. 2, 5. 12), dass sie Kinder des Zorns und Gott fremd waren. Das galt für die Zeit, in welcher sie die Liebe des Gottes noch nicht erfahren hatten, der sie doch mit ewigem Erbarmen umfasste. „Nichtgeliebte“ sind wir solange, als uns Gott mehr seinen Zorn als seine Liebe bezeugt. Und dies ist beim ganzen Menschengeschlecht der Fall, solange die Annahme zur Kindschaft noch nicht in der Zeit vollzogen ist.
V. 27. Jesaja aber schreit usw. Jetzt geht der Apostel zum zweiten Stück seiner Erörterung über, zu Israels Verwerfung, die er bisher zurückgestellt hatte, um die Juden nicht von vornherein vor den Kopf zu stoßen. Paulus sagt nicht, dass Jesaja spricht, sondern dass er schreit. So wird die Aufmerksamkeit noch mehr erregt. Die Worte des Propheten wenden sich offensichtlich gegen Israels gar zu große fleischliche Zuversicht. Es ist ja schrecklich zu hören, dass aus der ungeheuren Menge nur eine so kleine Zahl selig werden soll. Wenn der Prophet diese Verwüstung des Volkes beschreibt, so will er ja freilich bei den Gläubigen nicht die Meinung erwecken, dass Gottes Bund gänzlich dahin gefallen sei. Er lässt noch eine Hoffnung auf Gnade bestehen: aber er beschränkt dieselbe auf eine sehr geringe Schar. Allerdings zielt die Weissagung des Propheten zunächst auf die äußeren Schicksale seines Volkes in der babylonischen Gefangenschaft, in welche eine ungeheure Menge von Juden hineinging, und aus welcher der Herr nur eine verhältnismäßig geringe Zahl erretten wollte. Aber diese äußere Wiederherstellung war doch nur Spiegelbild und Anfang der geistlichen Erneuerung der Gemeinde Gottes, die in Christus geschieht.
V. 28. Denn Gott wird eine kurze und strenge Rede führen usw. D. h. sein richterliches Verfahren wird vernichtend wirken. In der Schrift bedeutet „Rede“ („Wort“) stets soviel wie Sache oder Geschehnis. „Kurze und strenge Rede“ heißt also: Vernichtung, Abbruch, Zerstörung. Mit diesem einfachen Sinne können wir uns begnügen. Der kleine Rest, der bei dieser Vernichtung übrig bleibt, wird aber doch das Werk der Gerechtigkeit Gottes sein, d. h. er wird dazu dienen, seine Gerechtigkeit auf dem ganzen Erdkreis zu bezeugen.
(Dass die Worte hier anders lauten als bei Jesaja selbst, kommt daher, dass Paulus dieselben in der Form der alten griechischen Übersetzung zitiert hat, welche von dem wirklichen Sinne des hebräischen Textes stark abweicht. Dieser Zwiespalt hat auch in Calvins Übersetzung und Auslegung eine gewisse Unsicherheit gebracht. Unsere Wiedergabe hält sich an das Wesentliche.)
V. 29. Und wie Jesaja zuvor sagte usw. Ein weiteres Zeugnis schon aus dem ersten Kapitel des Jesaja, in welchem der Prophet die Verwüstung seines Volkes beklagt, die zu seiner Zeit geschehen war. Ist aber solches einmal geschehen, so ist es ja nichts Neues mehr. Denn Israels Vorzug stammt lediglich von seinen Vorfahren. Diese aber haben eine solche Behandlung erfahren, dass der Prophet klagen muss, sie seien geschlagen und ihr Geschick sei fast dem von Sodom und Gomorra gleich. Nur der Unterschied bestand, dass Gott einige noch hatte als Samen übrig bleiben lassen, um Israels Namen zu erhalten und vor völliger Vergessenheit zu bewahren. Denn seiner Verheißung kann Gott nie vergessen: darum gibt er inmitten der strengsten Strafe noch immer der Barmherzigkeit Raum.
30 Was wollen wir nun hier sagen? Das wollen wir sagen: Die Heiden, die nicht haben nach der Gerechtigkeit getrachtet, haben die Gerechtigkeit erlangt; ich sage aber von der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. 31 Israel aber hat dem Gesetz der Gerechtigkeit nachgetrachtet, und hat das Gesetz der Gerechtigkeit nicht erreicht. 32 Warum das? Darum, dass sie es nicht aus dem Glauben, sondern als aus den Werken des Gesetzes suchen. Denn sie haben sich gestoßen an den Stein des Anlaufens, 33 wie geschrieben steht: „Siehe da, ich lege in Zion einen Stein des Anlaufens und einen Fels des Ärgernisses; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden.“
V. 30. Was wollen wir nun hier sagen? usw. Der Apostel will den Juden jeden Anlass nehmen, wider Gott zu murren. Darum beginnt er nun, auch die für menschliche Begriffe durchsichtigen Gründe dafür aufzuzählen, weshalb Israel eine solche Verwerfung erleben musste. Dabei ist es unrichtig und heißt die wirkliche Ordnung auf den Kopf stellen, wenn man diese Gründe wider die verborgene göttliche Erwählung zu kehren sucht. Denn dass diese den ersten Platz behauptet, hat Paulus ein für allemal festgestellt. Ist die göttliche Erwählung allen andern Ursachen übergeordnet, so bildet die Verkehrtheit und Bosheit der Gottlosen nur Stoff und Material für Gottes Gerichte. Weil es sich aber hier um eine sehr schwierige Frage handelt, so lässt sich Paulus auf gewisse Vermittlungen ein, um wenigstens vermutungsweise dazulegen, was sich etwa darüber sagen ließe.
Die Heiden, die nicht haben nach der Gerechtigkeit getrachtet usw. Nichts schien unglaublicher oder unpassender, als dass die Heiden, die sich um keine Gerechtigkeit kümmerten und in fleischlicher Zügellosigkeit dahinlebten, zur Seligkeit berufen werden und Gerechtigkeit erlangen sollten, während die Juden, die sich eifrig mit den Werken des Gesetzes abmühten, gar keinen Lohn für ihre Gerechtigkeit bekommen sollten. Diese äußerst anstößige Tatsache spricht Paulus zunächst mit dürren Worten aus; dann erst mildert er die Härte, indem er den Grund dieser Tatsache wenigstens andeutend hinzufügt: ich sage aber von der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Also hängt sie an Gottes Erbarmen, nicht an der eigenen Würdigkeit des Menschen. Und der Gesetzeseifer, in welchem die Juden befangen waren, war ein verkehrter: sie suchten Rechtfertigung durch die Werke, steckten sich also ein Ziel, welches überhaupt kein Mensch erreichen kann. So musste ihnen Christus zum Anstoß werden, der doch allein den Zugang zur Gerechtigkeit eröffnet. Bezüglich der Heiden wollen wir noch anmerken, dass sie die Gerechtigkeit durch den Glauben insofern erlangt haben, als Gott ihrem Glauben durch seine Gnade zuvorkam. Denn wenn sie im Glauben den Anfang gemacht hätten, so wäre ja der Ausdruck schon nicht mehr zutreffend, dass sie nicht nach der Gerechtigkeit getrachtet haben. Also ist auch der Glaube in die Gnadenwirkung eingeschlossen.
V. 31. Israel aber hat dem Gesetz der Gerechtigkeit nachgetrachtet usw. Was unglaublich schien, sagt Paulus rund heraus: die Juden haben mit ihrem eifrigen Streben nach Gerechtigkeit nichts erreicht. Und das konnte auch gar nicht anders sein: denn da sie außerhalb des Weges liefen, mussten sie sich vergeblich abmühen. „Gesetz der Gerechtigkeit“ ist das erste Mal wohl eine Umstellung für „Gerechtigkeit des Gesetzes“. Das zweite Mal bezeichnet es in etwas anderem Sinne die Form oder Regel der Gerechtigkeit. Der Gedanke ist: indem Israel der Gerechtigkeit des Gesetzes nachjagte d. h. derjenigen, welche das Gesetz vorschreibt, hat es den wahren Weg zur Gerechtigkeit nicht eingehalten. Überraschender Widerklang der Worte: die gesetzliche Gerechtigkeit war schuld daran, dass Israel aus dem Gesetz der Gerechtigkeit heraus fiel!
V. 32. Nicht aus dem Glauben, sondern als aus den Werken des Gesetzes. Glaube und verdienstliche Werke sind also die schärfsten Gegensätze. Vertrauen auf Werke bildet das größte Hindernis, den Weg zur Gerechtigkeit zu finden. Darum muss man es fahren lassen und allein auf Gottes Güte ausruhen. Die Juden sollten ein abschreckendes Exempel für jeden sein, der noch durch Werke ins Himmelreich kommen will, statt von aller eignen Würdigkeit abzusehen und mit beiden Augen gläubig auf Gottes Gnade zu schauen. Denn es handelt sich bei diesen Werken des Gesetzes wohlgemerkt nicht etwa um die Beobachtung von Zeremonien, sondern um das Verdienst aus den Werken. Zu diesem tritt der Glaube in Widerspruch, die mit beiden Augen einzig auf Gottes Güte schaut, ohne auf eigne Würdigkeit zu blicken.
Sie haben sich gestoßen an den Stein des Anlaufens. Wie man sich an Christus stößt, wenn man sein Vertrauen auf Werke stützt, ist leicht einzusehen. Denn wenn wir uns nicht als Sünder erkennen und leer und bloß sind von aller eignen Gerechtigkeit, verdunkeln wir Christi Würde, welche darin besteht, dass er für uns alle Licht ist, Heil, Leben, Auferstehung, Gerechtigkeit und Arznei. Wozu ist er aber das alles? Doch nur, um Blinde zu erleuchten, Verdammt freizusprechen, Tote lebendig zu machen, Vernichtete wieder aufzurichten, Schmutzige abzuwaschen, Kranke zu pflegen und zu heilen. Glauben wir aber selbst etwas von Gerechtigkeit zu besitzen, so kämpfen wir gewissermaßen wider Christi Kraft. Denn dessen Amt ist es nicht minder, den Hochmut des Fleisches zu dämpfen, als die Mühseligen und Beladenen aufzurichten und zu trösten. Das Schriftwort aus Jesaja verwendet der Apostel (V. 33) mit vollem Recht. Denn dort (Jes. 8, 14) spricht Gott aus, er selbst werde dem Volk Juda und Israel ein Fels sein, an dem sie sich stoßen und zugrunde gehen sollten. Ist nun Christus derselbe Gott, der durch den Propheten redete, so darf man sich nicht wundern, dass der Spruch jetzt auf ihn eine Anwendung findet. Heißt aber Christus ein Stein des Anlaufens, so will der Apostel sagen: wundert euch nicht, wenn solche Leute auf dem Wege der Gerechtigkeit nicht vorwärts kommen, deren verkehrter Eigensinn an diesen Block stoßen musste, während Gott ihnen doch einen sehr leicht gangbaren Weg gezeigt hatte. Übrigens ist Christus im eigentlichen Sinne und nach seinem eignen Wesen kein Fels des Ärgernisses: er wird es nur infolge der Bosheit der Menschen, wie die alsbald folgende Aussage ergibt: und wer an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden. Diesen Spruch fügt der Apostel aus Jes. 28, 16 hinzu, um die Frommen zu trösten. Es ist, als wolle er sagen: heißt auch Christus ein Stein des Anlaufens, so brauchen wir vor ihm doch nicht zu erschrecken oder Furcht statt des Vertrauens uns einjagen zu lassen. Nur den Ungläubigen ist er zum Fall gesetzt, den Gläubigen zum Leben und zur Auferstehung (Luk. 2, 34). Wie die Weissagung über das Anlaufen und Ärgernis sich an den Widerspenstigen und Ungläubigen erfüllt, so gibt es eine andere, welche den Frommen gilt: Christus ist ein starker, kostbarer, fest gegründeter Eckstein; wer auf ihn sich stützt, der wird nicht fallen. So will Gott ohne Zweifel mit diesem Prophetenspruch die Hoffnung der Seinen stärken. Wenn aber Gott uns gute Hoffnung macht, können wir nicht zu Schanden werden. Der gleiche Trost steht auch an der sehr ähnlichen Stelle 1. Petr. 2, 7.
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Johannes Calvin
1 Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für Israel, dass sie selig werden. 2 Denn ich gebe ihnen das Zeugnis, dass sie eifern um Gott, aber mit Unverstand. 3 Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und trachten, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind also der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht untertan. 4 Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an ihn glaubt, der ist gerecht.
V. 1. Wiederum können wir sehen, welchen Eifer der Apostel daran wendet, allen Anstößen zu begegnen. Gern möchte er die unumgängliche Härte seiner Ausführungen über die Verwerfung der Juden mildern. Darum bezeugt er, wie zuvor schon (9, 1 ff.), seine Liebe zu Israel; zum Beweise solcher Liebe muss es dienen, dass Paulus vor Gottes Angesicht für die Seligkeit Israels fleht. Solche Fürbitte erwächst ja nur aus echter Zuneigung. Immerhin mag auch ein weiterer Grund den Apostel genötigt haben, der Liebe gegen seine Stammesgenossen Ausdruck zu geben: denn die Juden hätten seine Lehre niemals angenommen, wenn sie ihn für ihren geflissentlichen Feind hätten halten müssen, und auch den Heiden hätte sein Abfall vom väterlichen Gesetze den Verdacht erregen müssen, dass der eigentliche Grund nur Gehässigkeit gewesen wäre.
V. 2. Denn ich gebe ihnen das Zeugnis usw. So muss ja die Liebe des Apostels wohl echt sein. Denn er hatte Grund, Mitleid walten zu lassen, nicht aber Hass. Sah er doch, dass nicht Bosheit, sondern Unwissenheit sie irreleitete, ja dass ihr Verfolgungseifer wider Christi Königreich aus einer Art von Eifer für Gott hervorging. Nebenbei lernen wir hier, wohin unser so genannter guter Wille uns führt, wenn wir ihm folgen. Wie oft entschuldigen wir uns damit, dass wir dieses und jenes nicht aus bösem Willen getan haben! Wollen wir aber auch die Juden entschuldigt halten, dass sie Christum gekreuzigt, wider seine Apostel gewütet und alles daran gesetzt haben, das Evangelium zu vernichten und zu verstören? Wollen wir wahrhaft fromm sein, so sollen wir lieber bedenken, dass wirkliche Frömmigkeit sich überall an Gottes Wort hält. Auf dem Wege dieses Wortes zu hinken, ist besser als außerhalb desselben zu laufen -, wie Augustinus sagt.
V. 3. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt usw. Ihr unüberlegter Eifer führt sie auf Irrwege, weil sie ihre eigne Gerechtigkeit aufrichten wollen. Dieses törichte Selbstvertrauen kommt daher, dass sie die wahre göttliche Gerechtigkeit nicht kennen. Welcher Gegensatz zwischen der „Gerechtigkeit Gottes“ und der Gerechtigkeit der Menschen! Nebeneinander können beide nicht bestehen; denn sie schließen sich gegenseitig aus: „Gottes Gerechtigkeit“ (d. h. tatsächlich: „die von Gott geschenkte Gerechtigkeit“) fällt dahin, sobald die Menschen ihre eigne Gerechtigkeit aufrichten, die sie selbst hervorbringen und mit welcher sie Gott unter die Augen treten wollen. Solcher Sinn unterwirft sich der „Gerechtigkeit Gottes“ nicht, sondern sucht die Rechtfertigung bei sich selbst. Denn wer die von Gott geschenkte Gerechtigkeit empfangen will, muss vor allen Dingen darauf verzichten, in sich selbst Gerechtigkeit zu finden. Nur, dass wir keine Gerechtigkeit haben, wird uns treiben, Gerechtigkeit außer uns zu suchen. Wie nun die Menschen sich mit der „Gerechtigkeit Gottes“ bekleiden können, haben wir früher dargelegt (zu 3, 21.24 usw.): Christi Gerechtigkeit wird uns zugesprochen.
V. 4. Denn Christus ist des Gesetzes Ende. Man könnte hier auch übersetzen: des Gesetzes Ziel und Erfüllung. Aber die andere (hier wiedergegebene) Übersetzung ist allgemein angenommen und auch ihrerseits nicht unpassend. Der Leser kann sie also durchaus aufrechterhalten. Paulus begegnet hier einem Einwand, den man erheben konnte. Man konnte doch sagen, die Juden hätten mit ihrem Eifer um das Gesetz den rechten Weg innegehalten. Demgegenüber zeigt der Apostel, dass es ein verkehrtes Verständnis des Gesetzes ist, wenn man durch Gesetzeswerke die Rechtfertigung zu erlangen sucht; denn das Gesetz ist uns im Gegenteil dazu gegeben, uns mit der Hand zu einer anderen Gerechtigkeit zu leiten. Alles, was es lehrt, was es vorschreibt, was es verheißt, hat immerzu Christus zum Richtpunkt, und deshalb muss auch alles Einzelne in ihm dahin ausgerichtet werden. Dies geschieht so, dass das Gesetz uns alle eigne Gerechtigkeit abspricht, zur Anerkennung unserer Sünde zwingt, und uns nichts übrig lässt, als dass wir Christus bitten, uns seine Gerechtigkeit zu schenken. Der Fehler der Juden bestand also darin, dass sie das Hilfsmittel zur Gerechtigkeit in ein Hindernis verkehrten. Sie verstümmelten Gottes Gesetz, indem sie seinen Geist austrieben und den Leichnam des toten Buchstabens übrig behielten. Allerdings verspricht das Gesetz denen einen Lohn, welche es vollständig halten. Tatsächlich wird dadurch aber jedermann schuldig gesprochen, und an Stelle der Gesetzesgerechtigkeit bietet Gott eine andere Gerechtigkeit in Christus, welche nicht durch Verdienst der Werke erworben werden kann, sondern als ein freies Geschenk im Glauben hingenommen werden muss. In dieser Weise zeugt das Gesetz für die Gerechtigkeit des Glaubens (vgl. 3, 21). Unsere Stelle ist darum so wichtig, weil sie deutlich ausspricht, dass das Gesetz in allen seinen Teilen auf Christus zielt. Die wirkliche Bedeutung und Absicht des Gesetzes kann niemand richtig verstehen, der nicht diesen Zielpunkt stetig im Auge behält.
5 Mose schreibt wohl von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt: „Welcher Mensch dies tut, der wird dadurch leben.“ 6 Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht also: „Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?“ (Das ist nichts anderes denn Christum herabholen.) 7 Oder: „Wer will hinab in die Tiefe fahren?“ (Das ist nichts anderes denn Christum von den Toten holen.) 8 Aber was sagt sie? „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.“ Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen. 9 Denn so du mit deinem Munde bekennst Jesum, dass er der Herr sei, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du selig. 10 Denn so man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und so man mit dem Munde bekennt, so wird man selig.
V. 5. Mose schreibt usw. Nun stellt der Apostel die Gerechtigkeit des Glaubens und die Gerechtigkeit der Werke einander gegenüber, damit man noch klarer sehe, dass sie völlig einander widerstreiten. Solcher Vergleich zeigt ja einen Gegensatz am deutlichsten. Dabei benutzt Paulus nicht Sprüche der Propheten, sondern das eigne Zeugnis des Mose. Der Gesetzgeber selbst soll den Juden beweisen, dass er sich nicht beim Vertrauen auf die Werke festhalten, sondern zu Christus führen will. So muss selbst das Gesetz zu einem Teil eine Predigt vom Evangelium werden. Wir müssen aber nach dem Grund der doppelten Tatsache fragen, dass Paulus einerseits davon redet, dass das Gesetz mit dem Glauben übereinstimmt, anderseits aber die Gerechtigkeit aus dem Gesetz in Gegensatz zur Gerechtigkeit aus dem Glauben stellt. Unter Gesetz ist hier zweierlei verstanden: einmal bedeutet es die ganze Lehre, die Mose auszurichten hatte, das andere Mal dagegen ausschließlich den Teil, der sich in besonderer Weise auf sein Amt bezog; dieser enthält Vorschriften, Belohnungen und Strafen. Das allgemeine Amt des Mose war dagegen, das Volk in der rechten Regel der Frömmigkeit zu erziehen, und deshalb musste er notwendig Buße und Glauben verkündigen. Glaube aber ist nicht ohne die Verheißung möglich, die Verheißung aber ist Gnadenverheißung. Also musste Mose auch ein Verkünder des Evangeliums sein. Das geht auch aus vielen Stellen deutlich hervor. Die Buße anderseits setzt die Erkenntnis voraus, welche Lebensführung Gottes Wohlgefallen findet. Die hat nun Mose in den Vorschriften des Gesetzes zusammengefasst. Zum Ansporn sind da denn auch die Drohungen einerseits, und anderseits die Verheißungen des Gesetzes beigefügt. Das Volk sollte darüber zur Einsicht gelangen, wie vielfältig es der Verdammnis teilhaftig geworden sei, wie weit es davon entfernt sei, sich durch seine Werke ein Verdienst vor Gott zu erwerben und es sollte in dieser Verzweiflung zu Christus seine Zuflucht nehmen! Er war das Ziel und Ende des Dienstes Moses. Weil nun die Verheißungen des Evangeliums sich bei Mose bloß hie und da finden und auch dort nur dunkel, weil dagegen die gesetzlichen Vorschriften und die auf sie gesetzten Belohnungen immer wieder vorkommen, so gilt es mit Recht als das eigentliche Amt des Mose, die wahre Gerechtigkeit der Werke zu lehren. In diesem Sinne wird Mose auch Joh. 1, 17 von Christus unterschieden. Wo also das Gesetz oder das Amt des Mose in diesem engeren Sinne verstanden werden, da ist stets stillschweigend der Gegensatz gegen Christus mit gesetzt. Diese Stellen beziehen sich aber eben nicht auf das ganze Amt des Mose, sondern auf seine Sonderaufgabe. Die angeführte Stelle, in welcher Mose die gesetzliche Gerechtigkeit schreibt, d. h. beschreibt, stammt aus 3. Mose 18, 5; dort verheißt der Herr denen, welche das Gesetz halten, das ewige Leben. Paulus zieht daraus folgende Schlüsse: da niemand die vom Gesetz verlangte Gerechtigkeit erreicht, wenn er nicht alle einzelnen Forderungen vollkommen erfüllt, da aber ferner jeder Mensch hinter dieser Vollkommenheit sehr weit zurück bleiben wird, so wird man ganz vergeblich versuchen, auf dem Wege des Gesetzes selig zu werden. Israel befindet sich demgemäß auf einem Irrweg, wenn es eine Gerechtigkeit aus dem Gesetz erringen zu können wähnt, die uns doch allen unerreichbar bleibt. Der Beweis des Paulus nimmt also den Ausgangspunkt bei der Verheißung, die in unserm Spruche steht: diese hilft uns nichts, weil sie an eine unerfüllbare Bedingung geknüpft ist. Wie töricht ist es also, wenn z. B. die Papisten sich einfach auf die im Gesetz enthaltenen Verheißungen berufen, um zu beweisen, dass es allerdings eine Gerechtigkeit aus den Werken geben müsse, da doch Gott seinen Verehrern nicht leere Versprechungen geben kann. In Wirklichkeit wird uns ja das Gesetz nichts als Fluch bringen. Es will uns über dem Gefühl unserer Übertretungen erschrecken, damit wir lernen, mit unserm Mangel bei Christus eine Zuflucht zu suchen.
V. 6. Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht usw. Diese Stelle gewährt insofern einen Anstoß, als Paulus den Worten des Mose einen ganz fremdartigen Sinn unterzulegen scheint. Unsere Sätze stammen aus 5. Mose 30, 12, wo Moses (ganz wie in dem soeben zitierten Spruche) von der Lehre des Gesetzes redet. Paulus aber bezieht dieselben auf die Verheißungen des Evangeliums. Die Schwierigkeit hebt sich folgendermaßen: Mose setzt auseinander, dass es leicht sei, zum ewigen Leben zu gelangen, weil Gottes Wille den Juden nicht mehr verborgen war oder weit entrückt, sondern ganz nahe vor Augen gelegt. Mose würde nun eine sehr oberflächliche Rede führen, wenn er dabei bloß an das Gesetz dächte. Denn das Gesetz Gottes zu halten, wird um nichts schwerer oder leichter, ob es uns unter die Augen gerückt ist oder weit entfernt erscheint. Also redet Mose gar nicht vom Gesetz allein, sondern von der Offenbarung Gottes im Allgemeinen, welche das Evangelium mit in sich begreift. Das Wort des Gesetzes an und für sich ist niemals in unserm Herzen, auch nicht die geringste Silbe davon -, bis es uns durch den Glauben an das Evangelium eingesenkt wird. Und selbst nach der Wiedergeburt lässt sich nicht im strengen Sinne sagen, dass das Wort des Gesetzes in unserm Herzen wohnt. Denn dieses Wort verlangt eine Vollkommenheit, von welcher auch die Gläubigen noch sehr weit entfernt sind. Aber das Wort des Evangeliums hat seinen Sitz im Herzen, wenn es dasselbe auch noch nicht völlig ausfüllt: denn es bietet Vergebung für alle Unvollkommenheit und jeden Mangel. Überhaupt will Mose in jenem Kapitel (wie auch schon 5. Mose 4) dem Volke die unvergleichliche Güte Gottes ans Herz legen, welche es in Gottes Gemeinschaft und Erziehung aufgenommen hatte. Aus dem bloßen Gesetz aber hätte sich solche Güte nicht spüren lassen. Allerdings redet Mose an der zitierten Stelle davon, dass unser Leben sich nach der Regel des Gesetzes gestalten soll; denn mit der aus Gnaden geschenkten Glaubensgerechtigkeit verbindet sich der Geist der Wiedergeburt. So erfolgt also ein Rückschluss von dem einen Stück auf das andere: Gehorsam gegen das Gesetz kann nur aus dem Glauben an Christus stammen. Mit diesem Grundsatz hängt auch das Wort zusammen, welches wir kurz vorher in demselben Kapitel lesen (5. Mose 30, 6): „Der Herr, dein Gott, wird dein Herz beschneiden.“ Damit erscheint die Behauptung widerlegt, dass die fragliche Stelle von den guten Werken handle. Dies soll an sich ja nicht bestritten werden. Aber es begreift sich doch ohne weiteres, dass die Beobachtung des Gesetzes aus ihrer Quelle, aus der Gerechtigkeit des Glaubens, abgeleitet wird. Nunmehr können wir zur Erörterung der Worte im Einzelnen übergehen:
„Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?“ usw. Mose spricht von Himmel und Meer als von entfernten und für Menschen schwer zugänglichen Stätten. Paulus aber findet dahinter etwas wie ein verborgenes, geistliches Geheimnis und wendet den Gedanken auf Tod und Auferstehung Christi. Daran darf man keinen Anstoß nehmen. Denn der Apostel wollte die Worte des Mose nicht Silbe für Silbe aufnehmen und auslegen, sondern in freier Weise für seinen Zweck verwenden. Hatte Mose von unzugänglichen Orten gesprochen, so setzt Paulus dafür die Stätten ein, die mehr als alle andern uns undurchsichtig bleiben, und auf welche doch unser Glaube am allermeisten seinen Blick richten muss. Unser Glaube ruht auf einem zwiefachen Fundament: er weiß, dass uns das Leben erworben ward und dass der Sieg über den Tod errungen ist. Diese beiden Tatsachen bietet das Wort des Evangeliums dem Glauben an, und er stützt sich darauf. Denn Christus hat durch seinen Tod den Tod verschlungen, durch seine Auferstehung aber das Leben in seine Gewalt genommen. Das Evangelium aber teilt uns diese Wohltaten des Todes und der Auferstehung Christi mit: wir brauchen also nicht weiter zu suchen. Will nun Paulus feststellen, dass die Gerechtigkeit des Glaubens völlig ausreicht, uns selig zu machen -, so braucht er nur zu zeigen, dass sie diese beiden Stücke unter sich begreift, nach welchen wir allein verlangen, wenn es um das Heil geht. Also: Sprich nicht in deinem Herzen: „Wer will hinauf in den Himmel fahren?“, d. h. es braucht sich niemand erst noch durch den Augenschein zu überzeugen, ob uns die Erbschaft des ewigen Lebens im Himmel bereitliegt. Sprich auch nicht: „Wer will hinab in die Tiefe fahren?“, d. h. niemand muss dort erst zusehen, ob wirklich auf den Tod des Leibes nichts anderes folgt als ein ewiger Tod der Seele. In beiden Stücken ist doch jeder Zweifel behoben! Die Gerechtigkeit des Glaubens macht uns dessen gewiss. Wollte man an dem ersten Stücke zweifeln, so hieße dies ja, Christus vom Himmel herabholen! Wollte man aber an dem andern Stücke Zweifel hegen, so wäre dies nichts anderes, denn Christus von den Toten holen! Denn Christi Aufstieg in den Himmel sollte den Glauben an unser eignes ewiges Leben so stark machen, dass wir fast Christus selbst den Besitz des Himmels streitig machen müssten, um noch zweifeln zu dürfen, dass den Gläubigen die Erbschaft des Himmelreichs bereitliegt: denn in ihrem Namen und in ihrer Sache ist ja Christus in den Himmel gegangen. Gleicherweise hat er die Schrecken der Hölle getragen, um uns davon zu befreien: also zweifeln, ob die Gläubigen nicht doch diesem Elend noch verfallen werden, wäre doch ebensoviel wie Christi Tod für vergeblich halten und ihn für unwirksam erklären.
V. 8. Aber was sagt sie? Bisher hatte der Apostel nur dargelegt, was die Gerechtigkeit des Glaubens nicht sagt und nicht zu sagen braucht. Damit will der dem Glauben jeden Anstoß wegräumen. Jetzt aber muss gezeigt werden, auf welche Weise man die Gerechtigkeit erlangt. Die Frageform erweist sich dabei besonders geeignet, die Spannung rege zu erhalten. Welcher Unterschied nun zwischen der Gerechtigkeit des Gesetzes und des Evangeliums! Die eine zeigt sich den Sterblichen aus unnahbarer und unzugänglicher Ferne. Die andere bietet sich in voller Nähe dar und lädt uns freundlich ein, zuzugreifen, sie zu genießen: „Das Wort ist dir nahe“ usw. Hier ist vor allen Dingen zu merken, dass wir uns innerhalb der Schranken des Wortes halten müssen, wenn uns nicht allerlei Umschweife vom Wege des Heils abführen sollen. Mit dem Worte allein sollen wir zufrieden sein und in seinem Spiegel die Geheimnisse des Himmels betrachten, welche sonst mit ihrer Majestät unsere Augen blenden, unsere Ohren übertäuben, unsern Sinn verwirren müssten. Unsere Stelle gewährt den Gläubigen einen großen Trost über die Sicherheit des Wortes: unsere Seele darf sich bei dem Worte eben so sicher beruhigen, als wären die Dinge selbst unmittelbar gegenwärtig. So dürfen wir weiter wissen, dass unser Heilsvertrauen hier fest und sicher stehen kann. Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen. Das muss Paulus ausdrücklich betonen. Denn die Lehre des Gesetzes macht das Gewissen keineswegs still und ruhig: sie gibt ihm keine Grundlage, mit deren Festigkeit es zufrieden sein könnte. Immerhin schließt der Gedanke des Apostels keinen Teil des ganzen Wortes aus, selbst nicht die Vorschriften des Gesetzes: nur stellt er die Vergebung der Sünden in die Mitte, als die wahre Gerechtigkeit, welche Bestand behält, auch wenn die strengen Forderungen des Gesetzes nicht erfüllt werden. Es genügt also, um unsere Seele stille und unser Heil gewiss zu machen, das Wort des Evangeliums, welches uns nicht anweist, die Gerechtigkeit durch Werke zu verdienen, sondern die Gerechtigkeit, anzunehmen, die uns aus Gnaden angeboten wird. Das „Wort vom Glauben“ ist das Wort der Verheißung, also eigentlich das Evangelium selber, welches ja im engsten Bezuge zum Glauben steht.
V. 9. Denn so du mit deinem Munde bekennst usw. Auch diese Wendung ist mehr eine Anspielung als eine eigentliche Erklärung. Denn wenn Mose sagte, das Wort sei in unserm Munde, so dachte er dabei schwerlich an das Bekenntnis des Mundes, sondern einfach daran, dass das Wort uns so nahe wie nur irgend möglich vor Augen steht. Doch bot sich die Wendung des Apostels sehr leicht: legt uns Gott sein Wort in den Mund, so muss es ja zum Bekenntnis werden. Diese Anknüpfung des Gedankens bringt es mit sich, dass zuerst vom Bekenntnis, dann erst von dem zugrunde liegenden Glauben die Rede ist, während sonst die umgekehrte Reihenfolge natürlicher gewesen wäre. In rechter Weise bekennt man nun Jesus, dass er der Herr sei, wenn man ihn mit seiner Kraft und Herrlichkeit geschmückt sein lässt und so annimmt, wie er uns vom Vater gegeben ward, und wie ihn das Evangelium beschreibt. Wenn es weiter im Besonderen heißt, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so will dies nicht so verstanden sein, als solle Christi Tod nichts gelten, sondern so, dass Christus eben durch seine Auferstehung das gesamte Heilswerk zum Abschluss gebracht hat. Brachte auch der Tod die Erlösung und Genugtuung, die uns mit Gott versöhnte, so ward doch erst durch die Auferstehung der Sieg über Sünde, Tod und Satan errungen. Hier ist der Quell der Gerechtigkeit, des neuen Lebens und der Hoffnung auf selige Unsterblichkeit. Unsere Heilszuversicht wird also hier allein an die Auferstehung erinnert, nicht damit sie den Tod vergessen soll, sondern weil die Auferstehung uns Zeugnis von der Frucht und Wirkung des Todes gibt; auch birgt sie ja den Tod in sich. Übrigens fordert Paulus nicht einen bloßen Geschichtenglauben, sondern will auch den Zweck der Auferstehung uns vor Augen stellen. Es gilt zu fassen, warum und wozu Christus auferstanden ist: durch seine Auferstehung wollte nämlich der Vater uns allen ein neues Leben schenken.
V. 10. Denn so man von Herzen glaubt, so wird man gerecht. Dieses Wort hilft uns, die Gerechtigkeit des Glaubens richtig zu verstehen. Es zeigt, dass die Gerechtigkeit uns zuteil wird, weil wir die Güte Gottes greifen und umfangen, welche im Evangelium angeboten wird. Dadurch sind wir gerecht, dass wir glauben: Gott ist uns in Christus gnädig. Dabei machen wir die Beobachtung, dass der Glaube seinen Sitz nicht im Kopf, sondern im Herzen hat. Ist vom Herzen die Rede, so denken wir an eine ernste und tiefe Bewegung des inneren Lebens. Demgemäß ist der Glaube nicht ein bloßer Gedankenbegriff, sondern eine feste und wirksame Zuversicht.
So man mit dem Munde bekennt, so wird man selig. Hier scheint der Apostel plötzlich aus dem Glauben nur den Anfang der Seligkeit abzuleiten, während er doch soeben noch gesagt hatte, dass wir allein durch den Glauben selig werden. Aber er meint hier gar nicht, dass wir durch das Bekenntnis die Seligkeit verdienen sollen, sondern will nur zeigen, wie Gott unser Heil seiner Vollendung entgegenführt: Gott lässt den Glauben, den er in unsere Herzen gepflanzt hat, im Bekenntnis zur äußeren Erscheinung kommen. Der Apostel erinnert also einfach daran, dass es sich um einen wahren, fruchtbringenden Glauben handelt. Niemand soll einen leeren Schein als Glauben ausgeben: vielmehr muss das Herz mit einem solchen Eifer für Gottes Ehre brennen, dass seine Flammen auch nach außen schlagen. In der Tat ist der Gerechtfertigte bereits in der Gegenwart selig: man kann also nicht bloß sagen, „so man mit dem Munde bekennt“, sondern auch „so man von Herzen glaubt“, so wird man selig. Aber der Apostel unterscheidet so, dass er dem Glauben die Rechtfertigung zuschreibt, dann aber hinzufügt, was zur Vollendung des Heils noch weiter nötig ist. Wer wirklich von Herzen glaubt, wird auch mit dem Munde bekennen: das folgt von selbst und begründet nicht etwa das Heil. Freilich sollen aber auch die Leute zusehen, was sie dem Paulus antworten wollen, die uns heutzutage mit einem Einbildungsglauben kommen, der sich mit dem tiefsten Herzensgrund zufrieden gibt und das Bekenntnis des Mundes für überflüssig und eitel hält und es nicht nötig zu haben vermeint. Es wäre doch sinnlos, den Glauben für ein Feuer zu halten, wenn da keine Flamme und keine Wärme hervorträte.
11 Denn die Schrift spricht: „Wer an ihn glaubt, wird nicht zu Schanden werden.“ 12 Es ist hier kein Unterschied unter Juden und Griechen; es ist aller zumal ein Herr, reich über alle, die ihn anrufen. 13 Denn „wer den Namen des Herrn wird anrufen, soll selig werden.“
V. 11. Denn die Schrift usw. Nachdem der Apostel dargelegt, weshalb Gott mit Recht die Juden verworfen hat, kehrt er dazu zurück, die Berufung der Heiden zu behaupten und zu beweisen. Damit erreicht er die Kehrseite seiner Erörterung. Es hatte sich gezeigt, dass der Weg, den alle Menschen zum Heil gehen müssen, den Heiden nicht minder offen stand als den Juden. Nunmehr fügt der Apostel das allgemeine Kennzeichen des Heils hinzu (nämlich den Glauben und die Anrufung des Herrn) und erklärt dann offen auch von den Heiden, dass sie des Heils teilhaftig sind; alsdann beruft er sich auch ausdrücklich zu diesem Heil. Der zuvor schon benutzte Spruch aus Jesaja wird wiederholt, um der vorgetragenen Wahrheit desto mehr Nachdruck zu geben, zugleich auch, um zu zeigen, wie trefflich die auf Christus zielenden Weissagungen mit dem Gesetz zusammenstimmen.
V. 12. Es ist hier kein Unterschied usw. Ist allein Glaube nötig, so beantwortet ihn Gott überall mit seiner selig machenden Güte -, und es schwindet jeder Unterschied der Völker und Nationen. Dafür gibt der Apostel einen weiteren, unumstößlichen Grund an: wenn der Schöpfer und Bildner der ganzen Welt aller Menschen Gott ist, so wird er sich allen gütig erweisen, die ihn als Gott erkennen und anrufen. Denn da sein Erbarmen unermesslich ist, muss es sich auf alle ausgießen, die es begehren. Reich ist Gott, weil er freigebig seine Güte und seine Wohltaten austeilt. Und wir wissen, dass keine Gaben unseres Vaters Reichtum vermindert: es wird uns also nichts entgehen, wenn er auch noch so vielen andern Menschen den Reichtum seiner Gnade zuwendet. Keiner braucht neidisch und missgünstig auf den andern zu blicken, der ebenfalls seine Gabe empfängt. Diese Wahrheit ist ja an sich klar, aber der Apostel stützt sie noch (V. 13) durch ein Wort des Propheten Joel, welches ausdrücklich jedem, der den Herrn anruft, das Heil zuerkennt. Aus den genaueren Umständen und der Umgebung dieses prophetischen Wortes ergibt sich vollends, wie passend dasselbe hier angeführt wird. Denn einmal weissagt Joel dort auf Christi Königreich, und weiter hatte er kurz zuvor von Gottes schrecklichem Zorn geredet, dem doch alle entrinnen sollen, die des Herrn Namen anrufen. So sehen wir, dass Gottes Gnade bis in den Abgrund des Todes hinab dringt, wenn man sie daselbst nur suchen will. Sollte sie nun nicht bis zu den Heiden reichen?
14 Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? 15 Wie sollen sie aber predigen, wo sie nicht gesandt werden? Wie denn geschrieben steht: „Wie lieblich sind die Füße derer, die den Frieden verkündigen, die das Gute verkündigen!“ 16 Aber sie sind nicht alle dem Evangelium gehorsam. Denn Jesaja spricht: „Herr, wer glaubt unserm Predigen?“ 17 So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Gottes.
Dass Gott den Heiden das Heil zugedacht hat, beweist Paulus dadurch, dass sein eignes Predigtamt unter ihnen Frucht schaffte. Der Gedanke schreitet Stufe für Stufe vorwärts: Heiden und Juden offenbaren ihren Glauben damit, dass sie den Namen des Herrn anrufen. Denn niemand wird dies tun, wenn er nicht die rechte Erkenntnis Gottes besitzt. Solche Erkenntnis oder solcher Glaube erwächst aus dem Wort Gottes. Und wiederum lässt Gott sein Wort nur predigen, wo sein besonderer Rat und seine Vorsehung es haben will. Also wo man Gott anruft, da ist Glaube. Wo die Frucht des Glaubens wächst, da ward zuvor die Saat des Wortes ausgestreut. Wo das Wort erschallt, da ist Gottes Berufung. Und wo diese Berufung sich wirksam und fruchtbar zeigt, haben wir ein helles und zweifelloses Zeugnis von Gottes Gnade. Demgemäß steht fest, dass die Heiden in Gottes Reich gehören, da ihnen ja Gott die Tür des Heils aufgetan hat. Ihr Glaube ruht auf der Predigt des Evangeliums, die Predigt ruht auf Gottes Sendung: und damit wollte Gott ihre Seligkeit schaffen. Nunmehr können wir zur Betrachtung der einzelnen Stücke übergehen.
V. 14. Wie sollen sie aber den anrufen. Anrufung Gottes und Glaube gehören unzertrennlich zusammen. Wer Gott anruft, flieht damit zum einzigen Hafen seines Heils, will wie ein Kind im Schoße des besten und liebsten Vaters sich bergen, sucht unter seiner Obhut eine Schutz, bei seiner Verzeihung und Liebe eine Ruhestätte, bei seiner Güte eine Hilfe, bei seiner Kraft eine Stütze. Das kann aber niemand, er hätte denn zuvor in seinem Gemüt eine feste Zuversicht zu Gottes Gnade gefasst, so dass er nun wagt, von ihm etwas zu bitten und zu hoffen. Wer Gott anruft, muss gewisslich glauben, dass bei ihm seine Hilfe steht. Natürlich denkt Paulus hier nur an eine solche Anrufung, welche dem Herrn wohlgefällig ist. Denn auch die Heuchler rufen Gottes Namen an, aber nicht zu ihrem Heil, weil sie es ohne Glauben tun. Hier aber handelt es sich nicht um ungewisse Ahnungen und Vermutungen, sondern um eine völlige Gewissheit über Gottes Gnade, welche das Gemüt aus dem Evangelium schöpft, mit welchem Gott uns die Versöhnung und Kindschaft anbietet. Ohne diese Gewissheit kann man nicht richtig beten, ohne sie steht der Zugang zu Gott nicht offen (Eph. 3, 12). Umgekehrt ergibt sich auch der Schluss: der Glaube ist erst echt, wenn er zur Anrufung Gottes wird. Wer Gottes Güte wirklich geschmeckt hat, kann nicht anders, als mit allen seinen Anliegen stetig zu ihm kommen.
Wie sollen sie aber an den glauben usw. Solange nicht Gottes Gnadenzusage uns den Mund zum Gebet öffnet, müssen wir stumm bleiben. Diese Ordnung enthüllt auch das Prophetenwort (Sach. 13, 9): „Ich will sagen: Es ist mein Volk; und sie werden sagen: Herr, mein Gott!“ Wir selbst können uns keinen gnädigen Gott machen, wenn es uns beliebt. Nur die Erkenntnis, welche er uns in seinem Worte erschließt, ist zuverlässig und echt. Solange bloß unsere eignen Gedanken Gott für gut halten möchten, entsteht kein fester und ungezweifelter Glaube, sondern nur eine unsichere und schwankende Einbildung. Zur rechten Erkenntnis Gottes bedürfen wir seines Wortes. Unter diesem Worte versteht der Apostel die mündliche Predigt des Evangeliums: sie ist das Mittel, durch welches Gott seine Erkenntnis mitzuteilen beschlossen hat. Wollte aber jemand daraus schließen, dass Gott den Menschen diese Erkenntnis überhaupt auf eine andere Weise nicht mitteilen könne, so wäre dies nicht im Sinne des Apostels: Paulus wollte hier lediglich die ordentliche Weise ins Auge fassen, wie Gott Gnade austeilt, nicht aber seiner Gnade ein Gesetz vorschreiben.
V. 15. Wie sollen sie aber predigen, wo sie nicht gesandt werden? Wo Gott irgendein Volk der Predigt seines Evangeliums würdigt, da ist dies ein Zeichen und Unterpfand seiner Liebe. Denn es würde keinen Prediger des Evangeliums geben, wenn Gottes besondere Vorsehung ihn nicht erweckt hätte. So will ohne Zweifel Gottes Gnade das Volk heimsuchen, welchem er das Evangelium predigen lässt. Wie denn geschrieben steht usw. Das Wort, welches der Apostel hier aus Jes. 52, 7 anführt, handelt in seinem ursprünglichen Zusammenhang von der Befreiungshoffnung des Volkes Israel: solcher Freudenruf klingt den Boten entgegen, welche die frohe Kunde von der Befreiung aus der Gefangenschaft bringen. Darin liegt aber doch, dass das apostolische Predigtamt keine geringere Würde besitzt: bringt es uns doch die Kunde vom ewigen Leben. Daraus folgt, dass es von Gott stammen muss. Denn alles Gute und Lobenswerte in der Welt hat seinen Ursprung aus Gott. Wie lieb und wert muss uns also die Predigt des Evangeliums sein, welcher der Mund Gottes ein solches Zeugnis gibt! Die Füße derer, die den Frieden verkündigen, bezeichnen die Ankunft jener Boten.
V. 16. Aber sie sind nicht alle dem Evangelium gehorsam. Dieser Vers gehört nicht zu der bisherigen Gedankenkette, sondern bildet eine Nebenbemerkung. Paulus will damit der falschen Annahme zuvorkommen, als ob überall das Wort den Glauben mit sich bringe. Diese Annahme schien ja nahe zu liegen, weil wir hörten, das Wort sei die regelmäßige und ordentliche Grundlage des Glaubens und gehe diesem voraus, wie der Same der sprießenden Saat. Würde nun der Glaube notwendig aus dem Wort folgen, so hätte sich Israel wohl rühmen mögen: denn das Wort hatte es stets besessen. Also musste der Apostel im Vorbeigehen auch die Tatsache anrühren, dass viele äußerlich berufen werden, welche doch nicht zu den Auserwählten gehören (Matth. 22, 14). Dabei führt er eine Stelle aus Jes. 53, 1 an, wo der Prophet soeben beginnen wollte, seine herrliche Weissagung über Christi Tod und Königreich auszusprechen, wo ihm aber zuvor im Geiste klar ward, wie wenige daran gläubig sein werden: „Herr, wer glaubt unserm Predigen?“ Und der Prophet hat auch alsbald den Grund angeführt, weshalb so wenige glauben: „Wem wird der Arm des Herrn offenbart?“ Damit will er zu verstehen geben, dass das Wort nur Frucht schafft, wo Gott mit dem Lichte seines Geistes die Herzen erleuchtet. So steht hinter dem äußeren, von Menschen gepredigten Worte die innere Berufung: sie allein ist wirksam selbstverständlich beschränkt sie sich auf die Auserwählten. Daraus lässt sich abnehmen, wie ungereimt die Rede ist, dass alle Menschen ohne Unterschied auserwählt seien. Man glaubt diese Ansicht daraus ableiten zu dürfen, dass die Heilslehre eine allumfassende ist und dass Gott unterschiedslos alle Menschen zu sich einlädt. Aber die allgemeine äußere Predigt an sich schafft noch nicht das Heil: dazu gehört vielmehr noch jene besondere Offenbarung an die Auserwählten, an welche der Prophet erinnert.
V. 17. So kommt der Glaube aus der Predigt. Jetzt folgt der eigentliche Schluss, welchen der Apostel ziehen will. Und er ganze Beweis zielt darauf, dass, wo Glaube ist, Gott eben damit ein Zeichen seiner Erwählung gegeben hat. Hat nun Gott solche Gnadengabe des Glaubens vermittelst der Predigt des Evangeliums verliehen, und hat der Glaube jene Anrufung des Namens Gottes geschenkt, in der nach Gottes Verheißung alle das Heil finden sollen (vgl. V. 12) -, so hat er damit das Zeichen gegeben, dass die Heiden an der Erbschaft des ewigen Lebens teilhaben sollen. Wir haben hier übrigens eine sehr bemerkenswerte Aussage über die Kraft der Predigt, den Glauben zu wirken. Freilich haben wir soeben gehört, dass die Predigt an sich nichts ausrichten kann: aber wo es Gott gefällt, durch sie zu wirken, da ist sie ein Werkzeug seiner Macht. Menschenwort würde vermöge eigner Kraft nicht bis in die Seele dringen, und man würde einem sterblichen Menschen zuviel Ehre geben, wenn man sagen wollte, er könne unsere Wiedergeburt vollbringen. Das Licht des Glaubens ist ein höheres Gut, als dass Menschen es zu verleihen vermöchten. Aber das alles hindert nicht, dass Gott eines Menschen Stimme als wirksames Mittel gebraucht, um durch dessen Dienst Glauben in uns zu schaffen. Dabei müssen wir merken, dass nur Gottes Lehre Glauben begründet. Denn Paulus sagt nicht, dass aus jeglicher Lehre Glaube erwächst, sondern beschränkt seine Aussage ausdrücklich auf das Wort Gottes. Diese Einschränkung wäre ja überflüssig, wenn der Glaube auf Menschenfündlein ausruhen könnte. Wenn wir Gewissheit des Glaubens suchen, müssen wir alle Menschengedichte fahren lassen.
18 Ich sage aber: Haben sie es nicht gehört? Wohl, es ist ja in alle Lande ausgegangen ihr Schall und in alle Welt ihre Worte. 19 Ich sage aber: Hat es Israel nicht erkannt? Aufs erste spricht Mose: „Ich will euch eifern machen über dem, das nicht ein Volk ist; und über ein unverständiges Volk will ich euch erzürnen.“ 20 Jesaja aber darf wohl sagen: „Ich bin gefunden von denen, die mich nicht gesucht haben, und bin erschienen denen, die nicht nach mir gefragt haben.“ 21 Zu Israel aber spricht er: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu dem Volk, das sich nichts sagen lässt und widerspricht.“
V. 18. Ich sage aber: Haben sie es nicht gehört? Da die Menschen die Gotteserkenntnis, welche sie zur Anrufung des göttlichen Namens treibt, aus der Predigt empfangen, so blieb noch die Frage zu erörtern, ob denn nicht den Heiden nach Gottes Absicht längst eine Kunde von Gottes Wahrheit zuteil geworden wäre. Dass Paulus mit seiner eignen Predigt sich so plötzlich an die Heiden gewendet, schien ja vielen eine höchst anstößige Neuerung. Also wirft er die Frage auf, ob Gott nicht längst den Heiden sein Wort gesandt habe und somit ein Lehrer der ganzen Welt geworden sei. Denn allerdings ist es die Meinung des Apostels, dass Gottes Schule allen Völkern offen steht, und dass der Herr überall seine Jünger sammeln will. Zum Beweise dessen führt er ein Wort aus Ps. 19, 5 an. Dieses redet freilich im Zusammenhang des Psalms nicht von der apostolischen Predigt und darf auch unmöglich vermittelst einer gewaltsamen Allegorie auf dieselbe gedeutet werden. Die Knechte Gottes standen der Heiligen Schrift mit solcher Ehrfurcht gegenüber, dass sie dieselbe nicht willkürlich verdrehten, wie es ihnen gerade in den Sinn kam. Auch an unserer Stelle kann ich dem Apostel einen solchen Missbrauch nicht zutrauen. Ich nehme also an, dass er das beigebrachte Schriftwort in seinem wirklichen Sinn verstehen wollte. Dann ist sein Gedanke der folgende: Gott hat bereits von Anbeginn der Welt den Völkern sein göttliches Wesen geoffenbart, wenn auch nicht durch die Predigt der Menschen, so doch durch das Zeugnis seiner Kreaturen. Schwieg damals unter den Völkern die Stimme des Evangeliums, so redete doch der Wunderbau des Himmels und der Erde und pries seinen Schöpfer. So sehen wir, dass der Herr auch in den Zeiten, da er die Gnadenstiftung seines Bundes in den Grenzen Israels beschlossen hielt, den Heiden doch die Erkenntnis seines Wesens nicht derartig entzogen hat, dass nicht wenigstens ein Fünklein davon geglimmt hätte. Im eigentlichen Sinn hat ja Gott sich gewiss nur seinem auserwählten Volk offenbart: die Juden waren gleichsam Gottes Hausgenossen, zu welchen sein Mund aus vertrauter Nähe redete. Weil aber auch die Heiden die Stimme der Himmel aus der Ferne vernahmen, so wollte Gott dadurch wie mit einem Vorspiel zeigen, dass auch ihnen eine völligere Offenbarung zugedacht war.
V. 19. Ich sage aber: Hat es Israel nicht erkannt? Nach den letzten Ausführungen ergab sich die Frage folgendermaßen: Paulus hatte dargelegt, dass man die Heiden nicht von der Offenbarung Gottes ausschließen dürfe, da sich ihnen Gott schon von Anbeginn, wenn auch dunkel und noch verhüllt, kundgetan oder ihnen wenigstens einen Geschmack von seiner Wahrheit gegeben hat. Was musste man dann aber von Israel sagen, welches ein viel helleres Licht der Lehre empfangen hatte? Wie kommt es, dass ferne und fremde Menschen zum Licht eilen, das ihnen nur von weiter Ferne gezeigt ward, während Abrahams heiliges Geschlecht das Heil verwarf, welches ihm ganz nahe gebracht ward? Denn es galt doch Israels Auszeichnung (5. Mose 4, 7.8): „Wo ist so ein herrlich Volk, zu dem Götter also nach sich tun als der Herr, dein Gott, heute zu dir sich herabneigt?“ So muss der Apostel mit gutem Grund fragen, weshalb denn der Unterricht im Gesetz, den Israel empfangen hatte, nicht eine wahre Erkenntnis mit sich brachte. Aufs erste spricht Mose usw. Mose muss Zeugnis dafür geben, dass es nicht überraschen darf, wenn Gott den Heiden vor Israel den Vorzug gab. Der Spruch stammt aus jenem berühmten Liede, in welchem Gott den Juden ihre Untreue vorwirft und ihnen als Strafe ankündigt, dass er sie zur Eifersucht reizen will, indem er die Heiden in seinen Bund aufnimmt. Denn Israel war zu selbst gemachten Göttern abgefallen. So ruft Gott ihnen zu: Ihr habt mich verachtet und verworfen, habt meine Ehre den Götzen gegeben -, so will ich mich dafür rächen, will an eurer Statt Heiden berufen und ihnen übertragen, was ich zuvor euch gegeben habe. Dies geht natürlich, dass der Herr sein Volk Israel verwirft. Daher kommt dann die Eifersucht, von welcher Mose spricht: der Grund besteht darin, dass Gott zu seinem Volk gemacht hat, das nicht sein Volk war, dass er ein neues Volk sich aus dem Nichts erweckt hat, welches nun den Platz einnimmt, von welchem Israel verstoßen ward -, ganz ebenso, wie die Juden den wahren Gott verlassen und sich andern Göttern hingegeben hatten. Dass aber gerade zur Zeit der Ankunft Christi die Juden nicht solch grobem und äußerlichem Götzendienst abgefallen waren, gereicht ihnen nicht zur Entschuldigung: denn sie haben den Dienst Gottes mit ihren selbst erwählten Werken verunreinigt, ja sie haben endlich Gott den Vater, der sich ihnen in seinem eingeborenen Sohne anbot, verworfen und damit der denkbar schlimmsten Gottlosigkeit sich schuldig gemacht.
V. 20. Jesaja aber darf wohl sagen usw. Die folgenden Weissagungen lauten noch klarer. Darum macht der Apostel ausdrücklich darauf aufmerksam, dass Jesaja so kühn und frei reden darf: der Prophet führt keine bildliche und verhüllte Sprache, sondern verkündet rückhaltlos und deutlich, dass die Heiden berufen werden sollen. Was Paulus in zwei getrennten Sprüchen gibt, bildet bei Jesaja einen lückenlosen Zusammenhang (Jes. 65, 1.2). Gott verkündigt, es werde die Zeit kommen, da er seine Gnade werde zu den Heiden kehren. Und er sagt sofort, weshalb es so kommen muss: Gott ist es müde geworden, den unerträglichen, unaufhörlichen Widerspruch Israels weiter zu ertragen. Darum spricht er: die früher nach mir nicht gefragt und meinen Namen verachtet haben, haben mich jetzt gesucht. Diese Vergangenheitsform weist freilich in die Zukunft, aber sie ist gewählt, um auszudrücken, dass die Weissagung schon so gut wie geschehen, also völlig unumstößlich sei. Die mich nicht gesucht haben, haben erreicht, was sie selbst nicht hofften und wünschten: sie haben mich gefunden. Allerdings weiß ich, dass manche Rabbiner diese ganze Prophetenstelle dahin verdrehen, als stünde hier eine Verheißung Gottes, dass Israel noch aus seinem Abfall umkehren würde. Dass aber von Leuten die Rede ist, die nicht aus Israel stammten, beweist die Fortsetzung (Jes. 65, 1): Ich will mich finden lassen von einem Volke, in welchem mein Name nicht angerufen ward. Der Prophet weissagt also ohne Zweifel, dass in Gottes Hausgenossenschaft neu aufgenommen werden sollen, die sonst nicht dazu gehörten. Diese Berufung der Heiden ist ein Vorbild für die Berufung aller Gläubigen. Ist doch niemand, welcher der Gnade Gottes zuvorkäme. Wir alle ohne Ausnahme werden durch sein freies Erbarmen aus dem tiefsten Abgrund des Todes gerissen, wo keine Erkenntnis Gottes war, keine Absicht, ihm zu dienen, überhaupt kein Gefühl für seine Wahrheit.
V. 21. Zu Israel aber spricht er usw. Gott sagt, er habe zu Israel seine Hände ausgestreckt, denn er hat es fortwährend mit seinem Worte zu sich geladen und hat nie aufgehört, es mit allerlei Wohltaten zu sich zu locken. Dies sind ja die beiden Mittel, die Gott überall gebraucht, um Menschen zu sich zu rufen und ihnen seine Güte zu beweisen. Insbesondere aber denkt der Prophetenspruch an die göttliche Lehre, welche Israel verachtet hat. Diese Verachtung ist umso abscheulicher, je herrlicher die väterliche Fürsorge des Gottes sich offenbarte, der die Menschen zu sich einlud. Dass dieser Gott die Hände ausbreitet, ist eine sehr nachdrückliche Redeweise: denn wenn Gott durch das Wort seiner Diener unsere Seligkeit schaffen will, so streckt er uns damit nicht weniger die Hände entgegen, als wenn ein Vater seinen Sohn liebevoll in seinen Schoß ziehen will und ihn mit den Armen umfängt. Dabei heißt es „den ganzen Tag“, genauer vielleicht noch: „täglich“. So kann man sich nicht wundern, wenn Gott endlich müde wird, Gutes zu tun, da selbst anhaltende Güte nichts ausrichtet (vgl. auch Jer. 7, 13; 11, 7). Den Unglauben des Volkes beschreiben zwei Worte: nämlich erstens: das Volk lässt sich nichts sagen -, es leistet beharrlichen Widerstand. Dann aber zweitens: es widerspricht sogar und verachtet die Mahnungen der heiligen Propheten geflissentlich in zügellosem Übermut und mit einem rebellischen und verbitterten Geiste.
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Der Römerbrief - Kapitel 11
Johannes Calvin
1 So sage ich nun: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn ich bin auch ein Israeliter von dem Samen Abrahams, aus dem Geschlecht Benjamin. 2 Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor ersehen hat. Oder wisset ihr nicht, was die Schrift sagt von Elia, wie er tritt vor Gott wider Israel und spricht: 3 „Herr, sie haben deine Propheten getötet und haben deine Altäre zerbrochen; und ich bin allein übrig geblieben, und sie stehen mir nach meinem Leben“? 4 Aber was sagt ihm die göttliche Antwort? „Ich habe mir lassen übrig bleiben siebentausend Mann, die nicht haben ihre Knie gebeugt vor dem Baal.“ 5 Also geht es auch jetzt zu dieser Zeit mit diesen, die übrig geblieben sind nach der Wahl der Gnade. 6 Ist´ s aber aus Gnaden, so ist´ s nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein. Ist´ s aber aus Verdienst der Werke, so ist die Gnade nichts; sonst wäre Verdienst nicht Verdienst.
V. 1. So sage ich nun usw. Was der Apostel bisher über die Blindheit und Widerspenstigkeit der Juden vorgetragen hat, kann leicht den Schein erwecken, als hätte Christi Ankunft die Juden von allem Anrecht auf die Seligkeit ausgeschlossen und Gottes Verheißungen auf andere Leute übertragen. Dieser falschen Ansicht tritt Paulus nunmehr entgegen. Was er über Israels Verwerfung gesagt, erfährt eine Einschränkung. Es soll nicht so gemeint sein, als wäre der Bund, welchen Gott einst mit Abraham geschlossen, gänzlich aufgehoben, oder als habe Gott aufgehört, Abrahams zu gedenken, so dass nun Israel ebenso weit von Gottes Reich entfernt wäre wie vor Christi Ankunft die Heiden. Die Frage ist also nicht, ob Gott ein Recht besessen habe, sein Volk zu verstoßen oder nicht. Diese Frage war bereits im vorigen Kapitel entschieden: hatte das Volk in irregeleitetem Eifer Gottes Gerechtigkeit verschmäht, so war es nur eine gerechte Strafe für die Selbstüberhebung, wenn Gott es verblendete und schließlich aus dem Bunde herausfallen ließ. Also auch der Grund der Verwerfung beschäftigt den Apostel an unserer Stelle nicht mehr. Vielmehr erhebt sich eine ganz andere Schwierigkeit: es fragt sich, ob der Bund, welchen Gott einst mit den Erzvätern geschlossen hat, wirklich habe abgeschafft werden können. War auch die Strafe des Volkes eine wohl verdiente, so wäre es doch ungereimt, wenn der Menschen Treulosigkeit den Bund sollte ins Wanken bringen können. Denn der Grundsatz steht unbedingt fest, dass die Annahme zur Kindschaft ein Werk der freien Gnade ist, nicht auf Menschen, sondern allein auf Gottes Grund gebaut, dass sie also fest und unbeweglich stehen muss, wenn auch aller Unglaube der Menschen sich wider sie auflehnt. Dieser Knoten muss entwirrt werden, wenn nicht der Schein entstehen soll, als hinge Gottes Wahrheit und Erwählung an der Menschen Würdigkeit.
Denn ich bin auch ein Israeliter. Bevor Paulus in die Erörterung der Frage selbst eintritt, zeigt ein Hinweis auf seine eigne Person, wie töricht der Gedanke ist, dass Gott sein Volk verlassen haben könne. Paulus war Israelit von Geburt, nicht etwa erst als Proselyt neu in Israels Gemeinschaft aufgenommen. Gehörte er nun ohne Zweifel zu den hervorragendsten der auserwählten Knechte Gottes, so war dies ein Beweis, dass Gottes Gnade in Israel noch ihre Stätte besaß. Dass sich der Apostel nicht bloß einen Israeliten nennt, sondern außerdem hinzufügt von dem Samen Abrahams, aus dem Geschlecht Benjamin, geschieht nur, um seine wirkliche Abstammung aus Israel nachdrücklich zu betonen (vgl. Phil. 3, 4).
V. 2. Gott hat sein Volk nicht verstoßen. Die Antwort, die Paulus gibt, ist nur negativ und sehr vorsichtig. Der Apostel wäre mit sich selbst in Widerspruch geraten, wenn er bestritten hätte, dass das Volk verworfen sei. Aber wenn er das auch behauptet, so muss er doch eine Einschränkung machen: es kann sich nur um eine Verwerfung handeln, die doch Gottes Verheißungen nicht unwirksam macht! So kommt es dazu, dass die Antwort des Paulus zwei Teile hat: Gott hat nicht etwa im Gegensatz zur Zuverlässigkeit seines Bundes die ganze Nachkommenschaft des Abraham verworfen und doch kommt die Kindschaft nicht in allen fleischlichen Nachkommen des Abraham zu ihrer Wirkung, weil hier Gottes verborgene Erwählung vorgeht. (Der erste Teil der Antwort steht in den Worten: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“, der zweite in der Einschränkung: „welches er zuvor ersehen hat“.) Die allgemeine Verwerfung kann also nicht hindern, dass einige Glieder der Nachkommenschaft unversehrt bleiben; denn der sichtbare Leib des Volkes war zwar abgetan, aber aus dem geistlichen Leibe Christi sollte dadurch kein Glied herausbrechen. Man könnte aber fragen, ob denn nicht die Beschneidung allen Juden als ein Zeichen der Gnade Gottes die Gewissheit verliehen hätte, zu Gottes Volk zu gehören. Darauf ist zu entgegnen: nein, die äußere Berufung ist ohne den Glauben unwirksam, und den Ungläubigen wird also die Ehre entrissen, die sie von sich gewiesen haben. Es bleibt also ein besonderes Volk, an dem Gott seine beständige Treue erweist, und den Ursprung dieses Volkes führt Paulus darauf zurück, dass Gott es zuvor ersehen hat. Es heißt nämlich hier nicht, dass Gott auf den Glauben schaut, sondern dass er mit vorbedachtem Rat das Volk nicht verwirft, dass er zuvor ersehen hat. Unter „Zuvorersehen“ ist dabei, wie schon zu 8, 29 ausgeführt wurde, kein bloßes „Zuvorwissen“ zu verstehen, sondern Gottes fester Beschluss, Menschen zu Kindern anzunehmen, die noch gar nicht geboren sind und deshalb aus sich nicht vermögen, sich an seine Gnade heranzumachen.
Nun verstehen wir, wie die Treue Gottes doch nicht hinfällt, wenn auch die allgemeine Berufung nicht ihre volle Frucht bringt: denn der Herr hält stets seine wahre Gemeinde aufrecht, solange noch einige Auserwählte übrig bleiben. Denn wenn Gott auch das ganze Volk unterschiedslos einlädt, so zieht er doch innerlich nur, die er als die Seinen kennt und die er seinem Sohne gegeben hat: ihnen wird er auch bis zum Ende ein treuer Hüter sein.
Oder wisset ihr nicht usw. Da die Zahl der an Christus gläubig gewordenen Juden eine so überaus geringe war, so lag der Schluss nahe, Abrahams ganzes Geschlecht sei verworfen, und in dieser Verwüstung sei kein einziges Anzeichen der göttlichen Gnade mehr zu entdecken. War die Kindschaft das heilige Band, welches Abrahams Kinder an Gottes Gemeinschaft fesselte, so musste ja dieses Band wohl zerrissen sein: anders ließ sich wenigstens die elende und unglückliche Zerstreuung des Volkes nicht erklären. Um diesen Anstoß zu beheben, bringt der Apostel ein durchschlagendes Beispiel. Er erinnert, dass zu Zeiten des Elia die Gemeinde Gottes völlig verwüstet und verschwunden schien. Jedes Anzeichen der Gnade Gottes war ausgelöscht: und doch blieb Gottes Gemeinde wie in einer Grabeshöhle verborgen und wurde dadurch wunderbar gerettet. Ob eine Gemeinde Gottes vorhanden sei, darf man also nicht nach dem äußeren Eindruck bemessen. Wenn dieser große Prophet, den Gottes Geist mit einem besonderen Scharfblick ausgerüstet hatte, in seinem Urteil über Gottes Volk sich so getäuscht sah, was werden wir dann erst mit unserer Kurzsichtigkeit ausrichten? Wir wollen lieber in aller Bescheidenheit schweigen und bedenken, dass Gottes verborgene Vorsehung seine Kirche schützt, auch wo alles verlorenscheint.
Wie er tritt vor Gott wider Israel. Das war gewiss ein hohes Zeichen für des Elias Eifer um den Herrn, dass er um Gottes Ehre willen nicht zögerte, wider sein Volk aufzutreten und um dessen gänzliche Vernichtung zu beten, da er glaubte, es sei alle Frömmigkeit und aller Dienst Gottes geschwunden. Und doch täuschte er sich, wenn er meinte, allein übrig geblieben zu sein unter dieser allgemeinen Flut von Gottlosigkeit. Damit versündigte er sich. Übrigens enthält die von Paulus zitierte Stelle kein ausdrückliches Gebet wider Israel, sondern nur eine Klage. Aber es unterliegt keinem Zweifel, dass diese hoffnungslose Anklage tatsächlich darauf hinausläuft, Gott möge dies Volk verderben.
V. 4. Ich habe mir lassen übrig bleiben siebentausend Mann. Mag man auch diese Zahl nicht gerade so bestimmt verstehen, wie sie lautet, so will der Herr damit doch jedenfalls eine große Menge bezeichnen. Da also Gottes Gnade auch in der äußersten Verstörung ihre Kraft nicht verliert, so sollen wir nicht leichthin für Satanskinder halten, deren Frömmigkeit wir nicht sehen. Wir wollen nicht vergessen, dass auch in der überflutenden Gottlosigkeit und allgemeinen Verwirrung das Heil vieler Auserwählten unter Gottes Siegel verschlossen und behütet liegt. Auf der andern Seite darf man aus dieser Tatsache freilich auch keinen Vorwand für die eigne Trägheit ableiten und seine Fehler unter Gottes Heimlichkeit verstecken. Wir wollen zugleich den Finger darauf legen, dass die Seligkeit doch nur denen zugesprochen wird, die nicht haben ihre Knie gebeugt vor dem Baal, die also innerlich unversehrt und unbefleckt im Glauben an Gott stehen und auch nicht in äußerlichem Heuchelwerk ihren Leib dem Dienst der Götzen geweiht haben.
V. 5. Also geht es auch jetzt zu dieser Zeit. Jetzt folgt die Anwendung des Beispiels auf die gegenwärtige Lage Israels: auch gegenwärtig sind im Vergleich mit der ungeheuren Überzahl der offensichtlich Ungläubigen nur wenige Gläubige übrig geblieben. Dieser Ausdruck birgt zugleich eine Anspielung an die früher (9, 29) zitierte Jesaja-Stelle (Jes. 1, 9), welche zeigt, dass inmitten der traurigsten Verwüstung Gottes Treue noch leuchtet, die wenigstens einen Samen hat lassen übrig bleiben. Dieser durch Gottes Gnade gebliebene Rest ist ein Zeugnis für die Unwandelbarkeit der göttlichen Erwählung. Gottes Kraft ist es, welche ohne menschliches Verdienst diesen Rest festhält, wie ja schon das Wort des Herrn an Elia andeutet. Diese Wahrheit prägt Paulus auch hier ausdrücklich ein, wenn er sagt: nach der Wahl der Gnade.
V. 6. Ist´ s aber aus Gnaden, so ist´ s nicht aus Verdienst der Werke. Bei dem Gedanken von der freien Gnade verweilt die Rede noch etwas ausführlicher: Gnade und Verdienst der Werke bilden einen schneidenden Widerspruch. Wer das eine Stück aufrichtet, muss das andere verwerfen. Mag man daran denken, dass Gott unsere guten Werke im Voraus sehen oder dass er seine Gnade auf dieselben gründen soll, nachdem sie getan sind -, immer wird man sich in Widerspruch mit Pauli Lehre setzen, welche neben der Gnade dem Verdienst der Werke überhaupt keinen Raum verstattet. Gottes Gnade allein führt das Regiment; sie ist der ganze, nicht bloß der halbe Grund der Erwählung.
7 Wie denn nun? Was Israel sucht, das erlangte es nicht; die Auserwählten aber erlangten es. Die andern sind verstockt, 8 wie geschrieben steht: „Gott hat ihnen gegeben einen Geist des Schlafs, Augen, dass sie nicht sehen, Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen Tag.“ 9 Und David spricht: „Lass ihren Tisch zu einem Strick werden und zu einer Berückung und zum Ärgernis und ihnen zur Vergeltung. 10 Verblende ihre Augen, dass sie nicht sehen, und beuge ihren Rücken allezeit.“
V. 7. Wie denn nun? Was Israel sucht usw. Bei der Schwierigkeit der zur Verhandlung stehenden Frage drückt sich der Apostel wie zweifelnd und nachforschend aus. Dadurch sollte doch die nachfolgende Antwort umso gewisser werden. Wir sollen verstehen, dass eine andere gar nicht gegeben werden konnte. Diese Antwort lautet aber: Israel musste sich bei seinem Suchen nach der Seligkeit vergeblich abmühen, denn es befand sich auf einem falschen Wege, wie der Apostel bereits früher (10, 3) dargelegt hatte. Von dieser Masse des Volkes heben sich nun die Auserwählten ab, welche nicht aus eignem Verdienst selig werden, sondern durch Gottes freie Gnade. Sie waren von Natur nicht besser als die übrigen; aber Gottes Erwählung schuf einen Unterschied: Die Auserwählten erlangten es. Paulus stellt also ausdrücklich dem ganzen Israel jenen Rest des Volkes gegenüber, der aus Gottes Gnade das Heil erlangte. Daraus folgt, dass der Grund des Heils nicht im Menschen liegt, sondern von Gottes reinem Wohlgefallen abhängt.
Die andern sind verstockt. Wie allein die Auserwählten durch Gottes Gnade dem Verderben entrissen werden, so bleiben die, welche nicht erwählt sind, notwendig verblendet. Blickt Paulus auf die Verworfenen, so kommt ihr Untergang, ihre Verdammnis letztlich daher, dass sie von Gott sich selbst überlassen sind. Alle die verschiedenen Schriftstellen, welche Paulus zum Beweise dessen alsbald anführt, scheinen nun nach ihrem jeweiligen Zusammenhange sämtlich vorauszusetzen, dass diese Verstockung und Verhärtung eine Strafe Gottes sei, welche die gerechte Antwort auf die Untaten der Gottlosen gibt. Paulus aber behauptet hier vielmehr: nicht diejenigen werden verstockt, welche es um ihrer Bosheit willen verdient haben, sondern welche Gott vor Grundlegung der Welt verworfen hat. Dieser scheinbare Widerspruch hebt sich, wenn man bedenkt, dass der Ursprung der Gottlosigkeit, welche den Zorn Gottes reizt und zur Strafe aufruft, in der Verkehrtheit eben der Natur liegt, die Gott sich selbst überlassen hat. Deshalb zitiert Paulus ganz mit Recht diese Sprüche von der Gottlosen Bosheit und ihrer Strafe auch für die Wahrheit von der ewigen Verwerfung: denn diese Bosheit geht aus der Verwerfung hervor, wie die Früchte aus dem Baum und der Bach aus der Quelle. Gewiss werden die Gottlosen um ihrer Verbrechen willen durch ein gerechtes Gericht Gottes mit Blindheit gestraft; aber wenn man nach der letzten Quelle ihres Verderbens forscht, so wird man schließlich dabei anlangen: sie konnte infolge des Fluches, den Gott über sie verhängte, mit all ihrem Tun, Reden und Raten nur neuen Fluch sich zuziehen und aufhäufen. Im Übrigen ist der Grund der ewigen Verwerfung so verborgen, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als mit stummer Verwunderung vor Gottes unbegreiflichem Ratschluss still zu stehen. Dabei ist und bleibt es töricht, wenn man es unternimmt, vermittels der näheren Ursachen der Verwerfung (nämlich der Bosheit und des Unglaubens der Gottlosen) die entferntere und entscheidende Ursache, Gottes undurchdringlichen Ratschluss, zu verhüllen. Als ob Gott nicht in voller Freiheit vor Adams Fall über das ganze Menschengeschlecht beschlossen hätte was ihm gut schien!
V. 8. Gott hat ihnen gegeben einen Geist usw. Ohne Zweifel beruft sich hier Paulus auf eine Stelle des Jesaja (Jes. 6, 9-10), welche auch Lukas einmal zitiert hat (Apg. 28, 26). Doch führt er dieselbe nicht wörtlich, sondern mit einigen Veränderungen an. Es liegt ihm eben nur an dem Sinne: Gott hat Israel einen Geist der Verbitterung gesandt, so dass es äußerlich sieht und hört, und doch nichts vernimmt. Ganz aus seinem eignen fügt Paulus hinzu: bis auf den heutigen Tag. Denn es soll niemand glauben, dass diese Weissagung schon zur Zeit des Propheten erfüllt worden sei, also nicht mehr auf die Zeit, da das Evangelium geoffenbart ward, bezogen werden dürfe. Die Verstockung, von welcher der Prophet spricht, hat nicht nur einen Tag gewährt, sondern hat unter der unheilbaren Hartnäckigkeit des Volkes bis auf Christi Ankunft und darüber hinaus angehalten.
V. 9. Und David spricht usw. Auch diese Worte Davids führt der Apostel etwas verändert an, aber ohne Abweichung vom ursprünglichen Sinne. Der heilige Sänger ruft auf die Gottlosen Gottes Strafe herab: was sonst im Leben wünschenswert und beglückend ist David nennt beispielsweise ihren Tisch soll ihnen zum Sturz und Verderben ausschlagen. Er wünscht ihnen an, dass ihr Geist verdunkelt und ihre Kraft gebrochen werden möge. Dies wollen die Worte besagen (V. 10): Verblende ihre Augen, beuge ihren Rücken! Dass dieser Spruch, der von Davids Feinden handelt, auf das Verhältnis der Juden zu Christus gedeutet wird, versteht man, wenn man sich erinnert, dass David ein Vorbild Christi war. Was hier David erbittet, wird alle Feinde Christi treffen: ihre Speise wird in Gift verwandelt, denn das Evangelium ist ihnen ein Geruch des Todes zum Tode. Welche Mahnung, mit Demut und Zittern Gottes Gnade zu umfassen!
11 So sage ich nun: Sind sie darum angelaufen, dass sie fallen sollten? Das sei ferne! Sondern aus ihrem Fall ist den Heiden das Heil widerfahren, auf dass sie denen nacheifern sollten. 12 Denn so ihr Fall der Welt Reichtum ist, und ihr Schade ist der Heiden Reichtum, wie viel mehr, wenn ihre Zahl voll würde? 13 Mit euch Heiden rede ich; denn dieweil ich der Heiden Apostel bin, will ich mein Amt preisen, 14 ob ich möchte die, so mein Fleisch sind, zu eifern reizen und ihrer etliche selig machen. 15 Denn so ihre Verwerfung der Welt Versöhnung ist, was wird ihre Annahme anderes sein als Leben von den Toten?
V. 11. Sind sie darum angelaufen usw. Das Verständnis dieser ganzen Erörterung wird man sich sehr erschweren, wenn man nicht beachtet, dass der Apostel bald von dem jüdischen Volk als Ganzem, bald von einzelnen Personen redet. So kann er einmal sagen, dass die Juden gegenwärtig aus Gottes Reich ausgeschlossen sind, abgeschnitten vom Baum, durch Gottes Gericht ins Verderben gestürzt. Das andere Mal aber kann es heißen: sie sind nicht aus der Gnade gefallen, bleiben vielmehr im Besitz des Bundes und behaupten ihren Platz in Gottes Gemeinde. Diese Unterscheidung liegt auch den gegenwärtigen Sätzen zugrunde. Denn da der allergrößte Teil der Juden sich von Christus abwandte, so dass dieses verkehrte Wesen fast im ganzen Volke die Herrschaft gewann und nur wenig rechter Sinn sich noch vorfand -, so lautet die Frage in Bezug auf das ganze Volk, ob dasselbe denn derartig an Christus angelaufen sei (9, 33), dass sein Schicksal als Volk nun endgültig entschieden wäre und keine Hoffnung auf Buße mehr bestünde? Die Antwort bezieht sich dann aber auf die Einzelnen: die Juden haben die Seligkeit nicht etwa völlig verscherzt, sie sind auch nicht derartig von Gott verworfen, dass jede Wiederherstellung ausgeschlossen oder der göttliche Gnadenbund völlig zerbrochen wäre. Denn es blieb in diesem Volke immer der gesegnete Same. So versteht man den scheinbaren Gegensatz, dass zuerst von Verstockung und völliger Verwerfung die Rede war, und dass jetzt doch eine Hoffnung auf einen Wiederaufbau gegeben wird. Die hartnäckig wider Christus anliefen, sind also gefallen und ins Verderben gegangen. Und doch ward die Hoffnung des Volkes nicht derartig vernichtet, dass notwendig jeder Jude verloren oder von Gott verstoßen sein müsste.
Sondern aus ihrem Fall ist den Heiden das Heil widerfahren. Zweierlei sagt der Apostel hier aus: erstens sind die Juden zum Heil der Heiden gefallen; zweitens aber hatte dies den Zweck, dass sie durch die Berufung der Heiden zur Eifersucht gereizt und so auf den Gedanken an ihre eigne Bekehrung gebracht werden sollten. Ohne Zweifel spielt die Rede auf den zuvor (10, 19) schon angeführten Spruch des Mose an (5. Mose 32, 21). Israel soll zur Nacheiferung angeregt werden, wenn es die Heiden sich vorgezogen sieht. Also war es Gottes Absicht nicht, einen ewigen Sturz dieses Volkes herbeizuführen. Dem Segen Gottes, welchen Israel verachtete, sollte nur eine Bahn zu den Heiden gemacht werden. Und dies sollte wiederum den Anstoß geben, dass Israel den Gott suchen möchte, von welchem es abgefallen. Wenn die Juden sahen, wie Heiden an ihre Stelle traten, sollte der Schmerz über ihre Verwerfung sie treiben, sich nach Versöhnung auszustrecken.
V. 12. Denn so ihr Fall usw. Paulus hatte gesagt, dass nach der Verwerfung Israels die Heiden an dessen Stelle getreten wären. Daraus hätten die Heiden vielleicht den Schluss ziehen können, dass für ihre eigne Seligkeit nur bei Israels Fall Raum bleibe. Dann hätten sie wahrscheinlich den Juden eine Wiederherstellung nicht gegönnt. Deshalb kommt der Apostel einer solchen falschen Ansicht zuvor und verkehrt dieselbe von vornherein in ihr Gegenteil: nichts kann mehr dazu beitragen, die Seligkeit der Heiden zu befördern, als wenn Gottes Gnade auch über Israel groß und reich ist. Der Beweis steigt von dem geringeren zum größeren Stücke empor: wenn der Fall der Juden die Heiden aufrichten und ihr Schade sie reich machen konnte, wie viel größeren Segen wird es dann stiften, wenn ihre Zahl voll würde! Das erste war ja eigentlich widernatürlich, das andere würde sich naturgemäß erwarten lassen. Hätten die Juden das Wort Gottes angenommen, so würde aus ihrem Glauben eine viel größere Frucht erwachsen sein als aus ihrem Unglauben, welcher den Heiden eine Tür öffnete. Welche Bestätigung hätte Gottes Wahrheit gefunden, wenn man die Weissagungen sich hätte in Israel erfüllen sehen! Und eine Verkündigung des Evangeliums von Seiten der Juden hätte ja ganze Scharen gewinnen müssen, während jetzt ihr hartnäckiger Unglaube vielmehr anstößig und abschreckend wirken musste.
V. 13. Mit euch Heiden rede ich. Ein durchschlagender Grund dafür, dass den Heiden nichts abgeht, wenn Gott die Juden wieder in seine Gnade aufnimmt. Die Seligkeit beider Teil ist so eng miteinander verknüpft, dass ein und dieselbe Arbeit dazu dienen kann, beider Heil zu fördern. So kann Paulus den Heiden sagen: ich bin im Besonderen euer Apostel, deshalb muss ich alles andere lassen und alle meine Mühe daran wenden, für eure Seligkeit zu arbeiten, die mir aufs Herz gelegt ward. Das werde ich aber umso lieber tun, wenn ich dadurch einige aus meinem Volke für Christus gewinnen kann. Dies wird dann zum Ruhm und Preis meines Amtes und zugleich zu eurem Besten dienen.
V. 14. Ihrer etliche selig machen. In einem gewissen Sinne darf ein Diener des Wortes, welcher Menschen zum Gehorsam des Glaubens führt, seine Tätigkeit mit diesem Ausdruck beschreiben. Dabei müssen wir aber festhalten, dass alle Kraft und Wirksamkeit, selig zu machen, von Gott ausgeht, und dass ihm allein die Ehre gebührt. Aber die Predigt ist das Mittel, durch welches das Heil der Gläubigen gewirkt wird. Kann dasselbe auch ohne Gottes Geist nichts ausrichten, so erweist es sich doch überaus kraftvoll, wenn Gottes Wirkung dahinter steht.
V. 15. Denn so ihre Verwerfung usw. Noch einmal wiederholt der Apostel den bereits (V. 12) ausgesprochenen Gedanken: hat schon die Verwerfung der Juden den Anlass zur Versöhnung der Heiden geben müssen, wie viel größere Segenskraft wird ihre Wiederaufnahme in sich bergen! Sollte sie nicht Leben schaffen, wo Tod war? Damit sollen die Heiden den Gedanken vollständig fahren lassen, als würden sie herabgedrückt, wenn auch Israel sich zur Gnade wendet. Sie brauchen nicht neidisch zu werden. Denn der Gott, der aus dem Tode das Leben und aus der Finsternis das Licht wunderbar empor führt, wird vielmehr die Auferstehung seines gleichsam erstorbenen Volkes den Heiden zum Leben dienen lassen. Wir denken dabei an die gegenwärtige Auferstehung, welche uns aus dem Reiche des Todes in das Reich des Lebens versetzt. Dagegen sagen allerdings einige Ausleger, dass eine so verstandene Auferstehung sich von der Versöhnung nicht unterscheide, vielmehr beides dasselbe sei. Dies ist sachlich auch richtig: aber die Ausdrucksweise ist das zweite Mal erhabener.
16 Ist der Anbruch heilig, so ist auch der Teig heilig; und so die Wurzel heilig ist, so sind auch die Zweige heilig. 17 Ob aber nun etliche von den Zweigen ausgebrochen sind und du, da du ein wilder Ölbaum warst, bist unter sie gepfropft und teilhaftig geworden der Wurzel und des Safts im Ölbaum, 18 so rühme dich nicht wider die Zweige. Rühmst du dich aber wider sie, so sollst du wissen, dass du die Wurzel nicht trägst, sondern die Wurzel trägt dich. 19 So sprichst du: Die Zweige sind ausgebrochen, dass ich hineingepfropft würde. 20 Ist wohl geredet! Sie sind ausgebrochen um ihres Unglaubens willen; du stehest aber durch den Glauben. Sei nicht stolz, sondern fürchte dich. 21 Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, dass er vielleicht dich auch nicht verschone.
V. 16. Ist der Anbruch heilig usw. Nunmehr stellt der Apostel die Würde der Juden und der Heiden einander gegenüber. Damit will er den letzteren alle Überhebung austreiben und sie dazu bringen, sich zufrieden zu geben. Ergibt sich doch, dass sie aus sich selbst durchaus keinen Vorzug vor den Juden geltend machen können. Wer auf solche angebliche Vorzüge sich verlassen will, dessen Sache ist von vornherein verloren. Dabei sind die Einzelnen darin alle gleich, dass sie von Natur überall als Kinder Adams dastehen. Nur dies begründet einen Unterschied, dass die Juden von den Heiden abgesondert und zu Gottes besonderem Eigentumsvolk gemacht waren. Sie waren also durch ein heiliges Bündnis geheiligt und in einen besonders edlen Stand erhoben, dessen Gott die Heiden zu jener Zeit noch nicht gewürdigt hatte. Nun war freilich in der Gegenwart die Kraft des Bundes nahezu erloschen. Darum lenkt der Apostel unsere Blicke auf seine Anfänge zurück, auf Abraham und die Erzväter überhaupt, bei welchen doch sicher Gottes Segen nicht leer und vergeblich geblieben war. Und er zieht den Schluss, dass von ihnen her ein heiliger Stand sich auf alle Nachkommen vererbt habe. Das lässt sich freilich nicht im Hinblick auf Personen sagen, wohl aber im Hinblick auf die einmal gegebene Verheißung, die unmöglich unwirksam sein kann. Der Vorfahr konnte nicht eine persönliche Rechtbeschaffenheit auf seine Nachkommen vererben. Aber weil Gott sich den Abraham mit der Absicht heiligte d. h. zum Eigentum nahm, dass auch sein Name sein heiliges Eigentum sein sollte, so wurde dem ganzen Volk eine besondere, heilige Stellung in Gottes Nähe zuteil. Darum schließt der Apostel ganz richtig, dass in ihrem Vater Abraham alle Juden geheiligt sind. Zum Belege dieser Wahrheit bringt er zwei Gleichnisse bei, das erste aus den vom Gesetz verordneten Zeremonien, das andere aus der Natur. Das Erstlingsbrot, welches man darbrachte, sollte ja dazu dienen, dass der ganze Teig als heilig gelten konnte (4. Mose 15, 19-21). Ebenso steigt aus der Wurzel die Kraft des Saftes in die Zweige. In dem gleichen Verhältnis aber, wie der Teig zu seinem Anbruch und die Zweige zum Baum, stehen die Nachkommen zu den Häuptern des Geschlechts. So begreift es sich, dass die Juden in ihrem Stammvater geheiligt wurden. Darin ist gar nichts Anstößiges, wenn man nur, wie gesagt, unter Heiligkeit lediglich die geistliche Vorzugsstellung des Volkes versteht, die sich nicht auf eine Naturbeschaffenheit gründet, sondern auf das göttliche Bundesverhältnis, welches sie über die Natur emporhob.
V. 17. Ob aber nun etliche von den Zweigen usw. Damit kommt der Apostel auf die gegenwärtige Stellung der gläubig gewordenen Heiden zu sprechen: dieselben sind die Zweige, welche irgendwoher entnommen und in einen edlen Baum eingepfropft wurden. Die Heiden stammen gleichsam von einem Wald-Ölbaum, der keine genießbaren Früchte trägt: denn in ihrer ganzen Art fand sich nichts als Vermaledeiung. Was sie also Rühmenswertes haben, das rührt von ihrer neuerlichen Einpflanzung her, nicht von ihrem alten Stamm. Sie haben deshalb gar keinen Grund, sich über die Juden zu erheben. Und wie milde redet dabei Paulus über Israel! Er sagt nicht, dass die ganze Oberfläche des Baumes vertilgt, sondern nur dass etliche von den Zweigen ausgebrochen sind. An ihrer Statt hat dann der Herr in den heiligen und gesegneten Stamm einige Zweige eingepfropft, die er hier und dort aus den Heiden entnahm.
V. 18. Rühmst du dich aber wider sie usw. Einen Vorzug vor den Juden könnten die Heiden nur dann behaupten, wenn sie sich auch über Abraham erheben wollten. Das aber wäre doch gar zu verkehrt, weil er ja die Wurzel ist, welche sie trägt, und aus welcher sie das Leben empfangen. Ist es also töricht, wenn Zweige sich über die Wurzel erhaben dünken, so ist es auch töricht, wenn die Heiden gegenüber den Juden einen besonderen Ruhm beanspruchen.
V. 19. So sprichst du usw. Paulus legt den Heiden in den Mund, womit sie sich etwa gegen Israel rühmen könnten. Damit war es aber derartig bestellt, dass viel mehr ein Anlass zur Demut als zum Stolz daraus erwuchs. Denn wenn die Juden um ihres Unglaubens willen ausgebrochen, die Heiden durch den Glauben eingepfropft wurden, so kann man daran doch nur Gottes Gnade erkennen und sich zur Demut und Unterwerfung schicken. Demütigung und heilige Scheu folgt ja unmittelbar aus der Natur des Glaubens. Also: Sei nicht stolz, sondern fürchte dich! Natürlich ist nicht eine Furcht gemeint, welche mit der Gewissheit des Glaubens streitet. In diesem Sinne soll unser Glaube keine Furcht und zweifelnde Unsicherheit kennen. Der Apostel will nur, dass unser Geist mit einer doppelten Betrachtung und infolgedessen mit einer doppelten Gesinnung sich erfülle. Wir sollen zuerst die elende Verfassung unserer Natur stetig betrachten: und wir werden daraus nur Schrecken, Abscheu, Angst und Verzweiflung schöpfen. Daraus wird dann zweitens folgen, dass wir uns in gänzlicher Zerknirschung demütigen, bis wir endlich unsere Seufzer zu Gott empor schicken. Bei alledem wird der Schrecken, den uns die Einsicht in unser eignes Wesen erregt, nicht hindern, dass unsere Seele Vertrauen auf Gottes Güte fasst und vollen Frieden gewinnt. Der Abscheu kann nicht hindern, dass wir in Gott einen festen Trost genießen; Angst und Verzweiflung werden uns nicht die klare Freude und Hoffnung im Herrn rauben. Furcht verlangt der Apostel nur als Gegengewicht gegen eine hochfahrende Sicherheit. Wenn wir aber weiter (V. 21) die Drohung vernehmen, dass Gott vielleicht der Hochmütigen nicht schonen werde, wie er Israels nicht geschont hat, so soll damit die Gewissheit unseres Heils nicht etwa erschüttert werden. Die Mahnung richtet sich nur wider den Übermut des Fleisches, der sich auch bei den Kindern Gottes noch vielfach bemerkbar macht. Zuletzt möchte ich mit besonderem Nachdruck wiederholen, dass die ganze Darlegung weniger auf einzelne Menschen, als vielmehr auf die Schar der Heiden als ein Ganzes zielt: unter dieser Masse konnten viele aufgeblasene Menschen sein, welche den Glauben mit dem Munde bekannten, aber nicht im Herzen trugen. Um ihretwillen droht Paulus den Heiden die Abschneidung an.
V. 21. Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont usw. Dieser entscheidende Grund muss jedes falsche Selbstvertrauen niederschlagen. Wir können an die Verwerfung der Juden nicht erinnert werden, ohne dass uns eine tiefe und erschütternde Furcht ergreift. Denn was war sonst der Grund zu ihrem Sturz, als dass sie ihrer Würde gar zu hochmütig sicher wurden und das Gericht Gottes zu verachten anfingen? Ihrer wurde nicht geschont, obgleich sie natürliche Zweige waren. Wie wird es also erst uns wilden, gar nicht ursprünglich zum Baume gehörigen Zweigen ergehen, wenn wir zu hochmütig werden? Diese Betrachtung soll uns anleiten, uns selbst zu misstrauen, zugleich aber, uns umso kräftiger auf Gottes Güte zu verlassen.
22 Darum schau die Güte und den Ernst Gottes: den Ernst an denen, die gefallen sind, die Güte aber an dir, soferne du an der Güte bleibst; sonst wirst du auch abgehauen werden. 23 Und jene, so sie nicht bleiben in dem Unglauben, werden eingepfropft werden; Gott kann sie wohl wieder einpfropfen. 24 Denn so du aus dem Ölbaum, der von Natur wild war, bist abgehauen und wider die Natur in den guten Ölbaum gepfropft, wie viel mehr werden die natürlichen eingepfropft in ihren eigenen Ölbaum.
V. 22. Darum schau usw. Jetzt stellt Paulus seinen Lesern die Sache selbst vor Augen und zeigt und bekräftigt damit umso deutlicher, dass die Heiden keinen Grund zum Stolz haben. Sehen die Heiden an Israel ein Beispiel der göttlichen Strenge, so haben sie nur Anlass, zu zittern. Haben sie an sich selbst Gottes Gnade und Güte erfahren, so ist ihnen dies nur ein Grund, Gott zu danken und ihn zu rühmen, nicht sich selbst. Es ist, als riefe uns Paulus mit diesen Worten zu: willst du um des Unheils über die Juden willen dich schadenfroh und übermütig gebärden, so denke zuerst daran, was du gewesen bist. Denn dieselbe Strenge Gottes schwebte auch über dir, und nur seine freie Gnade hat dich herausgerissen. Weiter erwäge, was du auch jetzt noch bist: du hast die Seligkeit nur darin, dass du Gottes Erbarmen in aller Demut anerkennst. Vergisst du dies und wirst stolz, so wartet deiner derselbe Sturz, in welchen jene gefallen sind. Denn es genügt nicht, Gottes Gnade einmal ergriffen zu haben: man muss während des ganzen Lebens seinem Rufe folgen. Wer einmal von Gott erleuchtet ward, muss stets darauf sinnen, dass er Bestand behalte. Denn wer nur eine Zeitlang dem Rufe Gottes innerlich Antwort gab, dann aber des Himmelreichs überdrüssig wird, bleibt nicht in Gottes Güte stehen und erfährt ob seiner Undankbarkeit von neuem wohlverdiente Verstockung.
Sonst wirst du auch abgehauen werden. Diese Drohung mit dem Abgehauenwerden könnte verwunderlich erscheinen: denn kurz zuvor hatte der Apostel gesagt, die Betreffenden seien durch Gottes Erwählung in den Baum eingepfropft. Damit durften und mussten sie doch eine feste Hoffnung auf das ewige Leben fassen. Nun kann freilich ein wirklich Erwählter nicht aus der Gnade fallen: aber die Auserwählten bedürfen noch der Ermahnung, damit der Hochmut ihres Fleisches gezügelt werde. Dieser schlimmste Feind unserer Seligkeit muss wirklich durch die Furcht vor der Verdammnis ausgetrieben werden. Sofern also einem Christen das Licht des Glaubens leuchtet, vernimmt er das Wort (9, 29): „Gottes Gaben und Berufung mögen ihn nicht gereuen.“ So wird er seines Heils ganz gewiss. Sofern er aber noch im Fleische steckt, dessen Zügellosigkeit sich nur zu leicht wider die Gnade auflehnt, muss er zu seiner Demütigung hören: Siehe wohl zu, dass du nicht fallest! Im Übrigen wollen wir bedenken, dass Paulus hier nicht in erster Linie an jeden einzelnen Auserwählten, sondern mehr an die Heiden im Ganzen sich wendet, welche an die Stelle der Juden getreten waren. Unter dieser Masse aber befanden sich viele, die nur dem Namen nach, aber nicht in Wahrheit Glieder Christi waren. Fragt man bezüglich der einzelnen Personen, wie einer wieder abgehauen werden kann, nachdem er bereits eingepfropft, und wie er wieder eingepflanzt werden kann, nachdem er abgehauen, so wird es zur Erklärung dienlich sein, dass wir eine dreifache Einpfropfung und eine doppelte Abschneidung unterscheiden. Eingepfropft werden zuerst die Kinder der Gläubigen, welchen Gott sein Versprechen einlösen muss, weil er einen Bund mit ihren Vätern geschlossen. Eingepfropft werden weiter, die zwar den Samen des Evangeliums aufnehmen, aber keine Wurzel schlagen lassen, oder ihn ersticken, bevor er Frucht bringt. Eingepfropft im eigentlichsten Sinne werden endlich, welche auf Grund des unveränderlichen göttlichen Ratschlusses die Erleuchtung zum ewigen Leben empfangen. Die zuerst Genannten werden abgehauen, wenn sie die ihren Vätern gegebene Verheißung von sich stoßen oder in ihrer Undankbarkeit sich nicht zueignen. Die an zweiter Stelle Genannten werden abgehauen, wenn der Same des Evangeliums in ihnen vertrocknet und verdirbt. Da nun diese Gefahr von Natur allen ohne Unterschied droht, so zielt diese Ermahnung des Paulus zugleich auch in irgendeinem Maße auf die Gläubigen: sie sollen aus fleischlicher Stumpfheit aufgerüttelt werden. Alles in allem: der Apostel kündigt den Heiden dieselbe Strafe Gottes an, welche über die Juden ergangen ist -, für den Fall, dass sie dieselben Wege des Unglaubens gehen.
V. 23. Gott kann sie wohl wieder einpfropfen. Auf ungläubige Menschen würde diese Erinnerung gar keinen Eindruck machen. Sie lassen ja dem Herrn im Allgemeinen seine Macht, geben sich aber der Stimmung hin, als sei diese Macht ferne im Himmel verschlossen und komme nicht zu kraftvoller Tat hervor. Sobald aber die Gläubigen von dem hören, was Gott kann, rechnen sie damit, dass er es alsbald und in unmittelbarer Gegenwart tun wird. Der Apostel darf erwarten, dass solchen Leuten seine Erinnerung einen heilsamen Anstoß geben werde. Außerdem wollen wir anmerken, wie fest dem Apostel der Grundsatz steht, dass Gott bei aller Züchtigung seines Volkes der Gnade doch nie vergessen kann. Oftmals hat der Herr, der sein Volk aus seinem Reiche verstoßen zu haben schien, demselben eine Erneuerung geschenkt. Und der gegenwärtige Zustand muss sich doch viel leichter ändern lassen, als er sich herstellen ließ (V. 24). Denn natürliche Zweige, welche man wieder an die Stelle pfropft, von welcher man sie abgeschnitten, müssen doch viel leichter den Saft ihres eignen Baumes wieder ansaugen, als wilde und unfruchtbare Zweige dies bei einem ihnen fremden Baume können. In diesem Verhältnis standen aber die Heiden zu den Juden.
25 Ich will euch nicht verhalten, liebe Brüder, dieses Geheimnis (auf dass ihr nicht stolz seid): Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren solange, bis die Fülle der Heiden eingegangen sei 26 und also das ganze Israel selig werde, wie geschrieben steht: „Es wird kommen aus Zion, der da erlöse und abwende das gottlose Wesen von Jakob. 27 Und dies ist mein Testament mit ihnen, wenn ich ihre Sünden werde wegnehmen.“
V. 25. Ich will euch nicht verhalten. Der Apostel spannt die Aufmerksamkeit seiner Hörer noch höher, indem er gewissermaßen ein Geheimnis ankündigt. Er verfährt so mit bewusster Überlegung: denn er will die Erörterung dieser ganzen schwierigen Frage mit einer kurzen und deutlichen Aussprache schließen, die doch überraschend kommen musste. Dabei zeigt der Zusatz: „auf dass ihr nicht stolz seid“, - worauf des Apostels Absicht zielt: der Stolz und die Selbstüberhebung der Heiden gegenüber den Juden soll gebeugt werden. Diese Aussprache war nötig, wenn nicht schwache Gemüter an dem Abfall dieses Volkes Anstoß nehmen und auf den Gedanken kommen sollten, es sei nun um die Seligkeit aller Volksgenossen geschehen. Auch in unserer Zeit wollen wir ja nicht vergessen, dass für den Rest, welchen Gott noch endlich zu sich sammeln will, das Heil gleichsam unter einem festen Siegel verwahrt liegt. Freilich könnte es manchen zur Verzweiflung treiben, dass solches Heil so lange verzieht. Darum spricht Paulus von einem „Geheimnis“. Mit dieser Bekehrung wird es also nicht gehen wie mit jeder anderen; man darf sie nicht nach der gewöhnlichen Erfahrung beurteilen. Denn was kann verkehrter sein, als nicht glauben wollen, was sich unsern Sinnen entzieht! Eben deshalb ist es ein Geheimnis, weil es verborgen und unbegreiflich bleibt, bis es enthüllt wird. Nun ward es uns mitsamt den Römern kundgetan, damit unser Glaube sich mit dem Worte der Verheißung begnügen und darauf hoffen möchte, bis es klar und hell erfüllt wird.
Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren. Das soll nicht heißen, dass nur ein Teil des Volkes verstockt sei, oder dass die Verstockung einen bestimmten Teil von Zeit währen solle. Die Worte „zum Teil“ sind lediglich ein anderer Ausdruck für „gewissermaßen“. Die an sich harte Aussage von Israels Verstockung soll dadurch etwas gemildert werden. Ebenso heißt bis die Fülle der Heiden eingegangen sei nur etwa: damit sie eingehe. Einen bestimmten Zeitverlauf, nach welchem etwa die Verstockung ein Ende haben solle, will Paulus nicht angeben. Der Sinn ist: Gott hat den Juden eine Art Verstockung auferlegt, damit das Evangelium, welches sie verschmähen, nunmehr zu den Heiden übergeleitet werde, und diese an die leer gewordene Stelle treten können. So dient Israels Verblendung dazu, dass Gottes Vorsehung den Heiden die Seligkeit bringen kann, die sie ihnen zugedacht hat. Dabei deutet die „Fülle“ auf ein ungeheures Zusammenströmen von Heiden. Schlossen sich doch nicht bloß, wie bisher, einige Proselyten an Israel an, sondern das Verhältnis erschien derartig auf den Kopf gestellt, dass die Hauptmasse der Gemeinde Heiden bildeten.
V. 26. Und also das ganze Israel selig werde. Viele meinen, der Apostel wolle hier dem jüdischen Volk in Aussicht stellen, dass der frühere Zustand seines Religionswesens wieder eingerichtet werden solle. Ich verstehe dagegen unter „Israel“ lieber das gesamte Volk Gottes. Wenn nämlich die Heiden in Gottes Reich werden eingegangen sein, und zugleich auch die Juden aus ihrem Abfall sich zum Gehorsam des Glaubens sammeln werden, dann wird die Seligkeit des ganzen Israel Gottes, welches er aus beiden sich sammeln will, ihr Ziel erreicht haben, doch so, dass die Juden als die Erstgeborenen der Familie Gottes den ersten Platz behaupten. Diese Auslegung erscheint mir deshalb am passendsten, weil Paulus hier die Vollendung des Reiches Christi beschreiben will, welches doch nicht in den Grenzen des jüdischen Volkes beschlossen werden, sondern den ganzen Erdkreis umspannen soll. Ganz in der gleichen Weise heißt Gal. 6, 16 die ganze aus Juden und Heiden bestehende Gemeinde „das Israel Gottes“. Dieses aus der Zerstreuung gesammelte Gottesvolk tritt damit in Gegensatz zu den leiblichen Kindern Abrahams, welche von dessen Glauben abgefallen waren.
Wie geschrieben steht. Dieses Zeugnis aus Jesaja dient nicht zum Belege der ganzen vorigen Aussage, sondern nur des einen Gliedes, dass die Kinder Abrahams die Erlösung empfangen sollen. Wenn nämlich jemand behaupten wollte, ihnen sei ja Christus verheißen und angeboten, aber sie hätten ihn verschmäht und darum seine Gnade verloren -, so geben demgegenüber die Worte des Propheten eine bessere Hoffnung: es wird immer ein Rest verbleiben, der sich bekehrt und die Gnade der Erlösung empfängt. Übrigens zitiert Paulus den Spruch des Jesaja nicht wörtlich. Es kommt ihm eben mehr auf den Sinn, als auf den Buchstaben an. Dazu wird (V. 27) ein Satz aus Jeremia gefügt, welcher von der Vergebung der Sünden handelt. Diese beiden Stücke begreift ja das Amt und Königreich Christi in sich: Christus ist gekommen, uns durch die Vergebung der Sünden mit dem Vater zu versöhnen, und durch seinen Geist ein neues Leben in uns zu schaffen. Das alles betrifft nun freilich auch die Heiden: da aber Israel der erstgeborene Sohn ist, so muss wohl an ihm zuerst solche Weissagung sich erfüllen. Es steht ja auch ausdrücklich (wenigstens im hebräischen Text, welchem der Apostel freilich nicht folgt) bei Jesaja, dass der Erlöser „denen zu Zion“ kommen werde. Und in jedem Falle lesen, dass er das gottlose Wesen „von Jakob“ nehmen soll. Gottes Verheißung steht also fest: Gott wird in seinem auserwählten Eigentumsvolke allezeit einen Samen haben, an welchem seine Erlösung sich wirksam erweist. Diese Gewissheit lässt sich namentlich auch auf den Spruch aus Jeremia gründen. Er behebt den Anstoß, der sich aus der unüberwindlichen Hartnäckigkeit Israels ergeben musste, und lässt die Weissagungen trotz allem glaubhaft erscheinen. Denn er lehrt, dass der Neue Bund einfach in freier Vergebung der Sünden bestehen wird, ohne welche freilich Gott mit seinem abtrünnigen Volk nicht verkehren kann.
28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Wahl sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn gleicher weise wie auch ihr weiland nicht habt geglaubt an Gott, nun aber Barmherzigkeit überkommen habt durch ihren Unglauben, 31 also haben auch jene jetzt nicht wollen glauben an die Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, auf dass sie auch Barmherzigkeit überkommen. 32 Denn Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf dass er sich aller erbarme.
V. 28. Nach dem Evangelium usw. Was an den Juden der schlimmste Fehler war, das konnte sie doch nicht verwerflicher machen als die Heiden waren. Das war nämlich der Unglaube. Nun lehrt aber Paulus, dass Gott diese Verstockung für eine gewisse Zeit über sie verhängt habe, um dem Evangelium die Bahn zu den Heiden frei zu machen. Im Übrigen sollten sie nicht für alle Zeit von Gottes Gnade ausgeschlossen sein. Sie sind nur für den Augenblick in Rücksicht auf das Evangelium von Gott entfremdet. Dadurch sollte das Heil, welches früher bei ihnen seinen Platz hatte, auf die Heiden übergeleitet werden. Dennoch konnte Gott des Bundes nicht vergessen, den er mit ihren Vätern geschlossen und durch welchen er bezeugt hatte, dass er kraft seines ewigen Ratschlusses dieses Volk in seine Liebe aufgenommen hatte. Diese Wahrheit bestätigt der Apostel durch die herrliche Aussage, dass die Gnadengabe der göttlichen Berufung nie vergeblich sein kann. Denn dies wollen die Worte sagen (V. 29): Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Die nachdrückliche Zerteilung der beiden Begriffe „Gaben und Berufung“ sagt doch inhaltlich nichts anderes, als wenn dastünde: „Gnadengabe der Berufung“. Dabei denkt Paulus zunächst an den Bund, welchen Gott mit Abraham und seinen Nachkommen geschlossen hatte und welchen er nie wieder lösen kann (1. Mose 17, 7): „Ich will deines Samens Gott sein.“ Das Evangelium und die Wahl (V. 28) treten aber einander gegenüber -, nicht als ob sie sich widersprächen: denn welche Gott auserwählt hat, beruft er durch das Evangelium -, sondern weil das Evangelium den Heiden so plötzlich und wider aller Welt Erwartung kundgetan wurde; und wie stach doch dies ab gegen die uralte Erwählung der Juden, die vor so vielen Jahrhunderten schon geschehen war! Sie sind und bleiben aber Geliebte um der Väter willen, natürlich nicht in dem Sinne, als ob die Väter diese Liebe verdient hätten, aber sie musste sich von den Vätern her auf die Nachkommen vererben, gemäß der Verheißung: ich will dein Gott sein „und deines Samens nach dir“. Wie dann aber die Heiden um des Unglaubens der Juden willen Barmherzigkeit empfingen, ist schon früher dargelegt wurden: Gott ward den Juden Feind wegen ihrer Untreue und wandte nunmehr seine Güte den Heiden zu. Dass bei dieser Wendung der Dinge Gott die Hand im Spiele hatte, spricht der Apostel alsbald mit voller Schärfe aus (V. 31): es lag in Gottes Plan, dass er sich der Heiden erbarmen wollte; dazu aber mussten die Juden zunächst des Lichtes des Glaubens beraubt werden.
V. 32. Denn Gott hat alle beschlossen usw. Das ist ein herrlicher Abschluss. Wer selbst in der Hoffnung auf ewige Seligkeit steht, braucht deshalb an den übrigen nicht zu verzweifeln. Denn wie es auch jetzt mit uns bestellt sein mag: wir waren einst nicht besser als alle andern. Hat allein Gottes Gnade uns aus dem Unglauben gerettet, so wird sie dies auch bei den andern können. Der Apostel schiebt den Juden keine andere Schuld zu als auch den Heiden: so können beide merken, dass auch dem andern Teile die Tür des Heils offen steht. Es ist ein und dieselbe Gnade Gottes, welche das Heil schafft: sie kann sich hier und dort anbieten. So stimmt der Spruch des Paulus mit dem früher (9, 25) zitierten Worte des Propheten überein (Hos. 2, 25): „Ich will sagen zu dem, das nicht mein Volk war: du bist mein Volk.“ Wenn Gott, um dieses Ziel zu erreichen, alle beschlossen hat unter den Unglauben, so will dies nicht so verstanden sein, als fiele die Schuld ihrer Verstockung und ihres Unglaubens auf ihn. Vielmehr hat Gottes Vorsehung so gewaltet, dass sie alle selbst des Unglaubens schuldig wurden und damit dem gerechten Gerichte Gottes verfallen mussten. Das geschah aber zu dem Zweck, damit die Seligkeit auf kein menschliches Verdienst, sondern allein auf die Gnade sich gründen müsse. Zweierlei also liegt in diesen Worten: erstens findet sich in keinem Menschen irgendein Anlass, um dessentwillen er einen Vorzug vor andern verdiente; der Vorzug liegt allein in Gottes Gnade. Zweitens aber sieht sich Gott durch nichts gehindert, seine Gnade mitzuteilen, welchen er will. Das Wort „erbarmen“ prägt uns sehr nachdrücklich ein, dass Gott niemandem etwas schuldig ist, dass also alle Menschen nur durch Gnade gerettet werden, weil sie alle unter dem gleichen Verderben stehen. Wollte man aber aus unserer Stelle den Schluss ziehen, dass alle Menschen ohne Ausnahme selig würden, so wäre dies eine gewaltige Torheit. Denn Paulus will nur sagen, dass Juden und Heiden keinen andern Weg zur Seligkeit haben als Gottes Erbarmen. Es soll niemand einen Grund besitzen, sich zu beklagen. Allerdings wird dieses Erbarmen allen öffentlich angeboten. Aber die Bedingung lautet dabei, dass man es im Glauben ergreife.
33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! 34 Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? 35 Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass ihm werde wieder vergolten? 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
V. 33. O welch eine Tiefe usw. Dieser Ausruf, welcher sich dem Gläubigen bei frommer Betrachtung der Werke Gottes auf die Lippen drängt, enthält zugleich eine Warnung vor dem gottlosen Hochmut, welcher den Gerichten Gottes zu widersprechen wagt. Wenn wir vernehmen: „O welch eine Tiefe!“ so ist nichts geeigneter, alle Anmaßung des Fleisches niederzuschlagen, als solcher Ausbruch der Bewunderung. Bisher war der Apostel den Gedanken des Wortes und Geistes Gottes nachgegangen. Nun überwältigt ihn selbst die Tiefe des Geheimnisses. Er kann nur noch staunen und rufen, dass dieser Reichtum der Weisheit Gottes alle unsere Erkenntnis übertrifft. Wenn wir in das Nachdenken eintreten über Gottes ewige Ratschlüsse, so müssen wir dem Geist und der Zunge einen Zügel anlegen. Wie nüchtern wir auch versuchen, unsere Gedanken in den Schranken des göttlichen Wortes zu halten -, das Ende wird doch nur Staunen sein! Wir brauchen uns auch nicht zu schämen, wenn wir schließlich nicht klüger sind als der Apostel, der bis in den dritten Himmel entzückt ward und unaussprechliche Worte vernahm (2. Kor. 12, 1.3), und der zuletzt doch nur in demütiger Selbstbescheidung in die Knie sinken kann: Wie gar unbegreiflich usw. Nach hebräischer Weise, welche denselben Gegenstand gern in doppelter Wendung ausdrückt, spricht der Apostel zuerst von den Gerichten, dann von den Wegen Gottes, d. h. von seiner Weise, zu handeln, oder seiner Ordnung, zu regieren. Je höher seine bewundernde Rede die Majestät des göttlichen Geheimnisses erhebt, desto mehr hält sie unsern neugierigen Wissenstrieb zurück. Wir sollen also lernen, Gott nichts zu fragen, was er uns nicht in der Schrift offenbart hat. Andernfalls verwirren wir uns in ein Labyrinth, aus welchem wir keinen Ausgang finden.
V. 34. Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt? Hier legt der Apostel nun geradezu auf den kühnen Menschen, der wider Gottes Gerichte murrt, seine Hand und hält ihn zurück. Zwei Gründe hält er ihm (V. 34 und 35) entgegen. Zuerst: alle Sterblichen sind zu blind, um mit ihren Sinnen Gottes Erwählung durchschauen zu können; über einen unbekannten Gegenstand aber sich ein Urteil zu erlauben, ist anmaßend und töricht. Halten wir also unsere Gedanken in den Grenzen des göttlichen Wortes! Denn wir selbst vermögen das Geheimnis der Erwählung nicht zu enthüllen. Wir sehen soviel wie ein Blinder im Dunkeln. Und dennoch steht die Gewissheit unseres Glaubens völlig fest, denn sie hängt nicht von unserm Scharfsinn ab, sondern lediglich von der Erleuchtung durch Gottes Geist. An einer andern Stelle (1. Kor. 2, 9.10.12) sagt ja auch Paulus, dass alle Geheimnisse Gottes freilich weit über das Verständnis unseres Geistes hinausgreifen. Aber sofort fügt er hinzu: weil wir nicht den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott empfangen haben, so kennen wir Gottes Absichten und seine sonst unbegreifliche Güte. Vermögen wir aus eigner Kraft von Gottes Geheimnissen nichts zu verstehen, so erschließt uns doch die Gnadengabe des göttlichen Geistes eine klare und gewisse Erkenntnis. Wir folgen diesem Geiste, so weit er uns führt. Wo er zu schweigen beginnt, da stehen wir still und hemmen unsern Schritt. Wer mehr wissen will, als er uns offenbart, wird von dem Glanz des Lichtes, da niemand zukommen kann, geblendet werden. Dabei gilt es, den Unterschied zu beachten zwischen Gottes verborgenem Ratschluss und seinem in der Schrift geoffenbarten Willen. Auch die gesamte Lehre der Schrift geht ja hoch über die Kraft des Menschengeistes hinaus, aber sie bleibt für die Gläubigen doch nicht unzugänglich, welche demütig und nüchtern von Gottes Geist sich leiten lassen. Ganz anders steht es dagegen mit dem verborgenen Ratschluss, dessen Höhe und Tiefe keine Forschung durchmessen wird.
V. 35. Wer hat ihm etwas zuvor gegeben usw. Nunmehr folgt der zweite Grund zur Verteidigung der Gerechtigkeit Gottes gegen alle Einwürfe der Gottlosen. Niemand hat Verdienste aufzuweisen, die Gott zu seinem Schuldner machten. Also kann auch niemand sich mit Recht darüber beklagen, dass er nicht den beanspruchten Lohn empfängt. Wer sich einen andern zu Wohltaten verpflichten will, muss selbst zuvor seine Pflichten gegen ihn erfüllt haben. Paulus will also zu verstehen geben: nur dann dürfte man Gott der Ungerechtigkeit zeihen, wenn man sagen könnte, er gäbe nicht jedem das Seine. Nun steht aber fest, dass Gott niemanden seines Rechtes beraubt, da er niemandem etwas schuldig ist. Oder wer könnte irgendein Werk vorweisen, das Gott mit seiner Gnade lohnen müsste? Unsere Stelle prägt uns vielmehr tief ein, dass es nicht in unserer Kraft steht, mit unsern guten Taten Gott die Seligkeit abzuzwingen. Er vielmehr kommt in freier Gnade uns zuvor, die wir gar nichts verdienen. Paulus spricht dabei nicht von einer Verfassung, in welcher sich die Menschen vielfach befinden, sondern von ihrem ganz allgemeinen, ausnahmslosen Zustande. Wollen wir uns scharf prüfen, so werden wir nicht bloß finden, dass Gott uns durchaus nichts schuldet, sondern dass wir alle ohne Ausnahme seinem Gericht verfallen sind und nicht nur keine Gnade, sondern den ewigen Tod verdienen. Dass uns Gott nichts schuldig ist, behauptet Paulus nun gar nicht bloß in Rücksicht auf unsere gefallene und verderbte Natur: selbst wenn der Mensch sündlos wäre, würde er nichts vor Gottes Angesicht bringen können, um dessentwillen Gott ihm notwendig seine Gnade zukehren müsste. Denn sobald der Mensch nur zu existieren anfängt, bleibt er schon nach dem Rechte der Schöpfung derartig in seines Schöpfers Hand, dass er eigne Ansprüche nicht geltend machen kann. Ganz vergeblich werden wir versuchen, Gott das Recht abzustreiten, dass er frei und nach seinem Ermessen über die Gebilde seiner Hand verfüge. Die Kreaturen stehen mit Gott nicht auf Rechnung und Gegenrechnung.
V. 36. Denn von ihm usw. Eine Begründung für den soeben ausgesprochenen Satz. Es ist gar nicht daran zu denken, dass wir uns gegen Gott irgendeines eignen Gutes rühmen dürften: denn wir sind von ihm aus Nichts erschaffen, und unser ganzes Wesen hat jetzt nur in ihm seinen Bestand. Daraus folgt, dass es ganz und gar der Ehre Gottes zu Dienst gestellt werden muss. Denn welchen andern Zweck sollten die Kreaturen haben, die er selbst geschaffen hat und erhält, als dass sie zum Ruhme seiner Herrlichkeit dienen? Die ganze Ordnung der Natur wird auf den Kopf gestellt, wenn nicht Gott, welcher der Ursprung aller Dinge ist, auch ihr Zweck und Ziel bleibt.
Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Damit setzt der Apostel das Siegel unter seine ganzen Ausführungen. Es soll ganz feststehen, dass des Herrn Ehre unantastbar gilt. Diese Worte sind zwar, für sich genommen, eine kühle, unbeteiligte Erwägung, aber durch die Stellung am Schluss dieser Kapitel empfangen sei einen ganz eigenartigen Nachdruck: dem Herrn gehört das Regiment, und wenn man den Zustand des menschlichen Geschlechts und der ganzen Welt recht beurteilen will, so muss man lediglich die Frage nach Gottes Ehre stellen. Alle Gedanken, die dazu beitragen könnten, Gottes Ruhm und Ehre zu verkleinern, müssen abgeschnitten werden: sie sind töricht und vernunftwidrig, ja sie sind frevelhaft.
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Der Römerbrief - Kapitel 12
Johannes Calvin
1 Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst. 2 Und stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen möget, welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille.
Zuerst, bis an diese Stelle seines Briefes, hatte Paulus das verhandelt, womit die Aufrichtung des Reiches Gottes notwendig beginnt: dass man Gerechtigkeit allein von Gott sich schenken lassen, dass man bei seinem Erbarmen die Seligkeit suchen muss, dass in Christus die Fülle aller Güter beschlossen liegt und durch ihn täglich ausgeteilt wird. Nunmehr wendet sich die Rede in passender Ordnung zur Gestaltung des christlichen Lebens. Durch die zuvor entwickelte heilsame Erkenntnis Gottes und Christi wird die Seele in ein himmlisches Leben hineingeboren; die jetzt folgenden heiligen Ermahnungen und Vorschriften geben nun diesem Leben seine Gestalt und Prägung. Vergeblich wird man die schönsten Lebensregeln vortragen, wenn man nicht zuvor den Quell aller Gerechtigkeit in Gott und Christus aufgedeckt hat. Erst dadurch werden die Menschen zum Leben erweckt. Hier sehen wir den Hauptunterschied zwischen dem Evangelium und einer menschlichen Lebensweisheit. Mögen die Philosophen ihre sittlichen Vorschriften glänzend und mit anerkennenswertem Reichtum des Geistes darzustellen wissen -, dieser prächtige Schein ihrer Lehre wird doch nur der schönen Außenseite eines Gebäudes ohne Fundament gleichen oder auch einem Leibe ohne Kopf: denn es fehlt die Grundlage, welche Kraft und Leben geben könnte. Die Quelle aller Tugend und das Ziel alles Guten, den Ursprung, aus dem alle Heiligkeit hervorgeht, erschließt uns hier der Apostel: wir sind von Gott zu dem Zweck erlöst, dass wir uns selbst und alle unsere Glieder seinem Dienste weihen sollen.
V. 1. Ich ermahne euch durch die Barmherzigkeit Gottes. Es ist nur zu bekannt, dass sich unreine Menschen die Lehre der Schrift von Gottes unermesslicher Güte eifrigst aneignen, um ihres Fleisches Zügellosigkeit damit zu decken. Es gibt auch Heuchler, die das Evangelium in Verruf bringen und den argen Gedanken aufkommen lassen, als lähme der Glaube an Gottes Gnade den Eifer um ein frommes Leben und öffne eine Tür zu frechem Sündenleben. Paulus dagegen bezeugt uns hier, dass man nur dann Gottes Barmherzigkeit wirklich erkannt hat, wenn man sich stets vor Augen stellt, wie viel wir ihr verdanken. Daraus erwächst dann Ehrfurcht und eifriger Gehorsam. Der Apostel treibt uns nicht durch knechtische Furcht zu Gott, sondern lockt uns freundlich mit der Gnade, die uns selig macht und uns eine freiwillige und fröhliche Liebe zur Gerechtigkeit einflößt. Wie undankbar wäre es, wenn die Erfahrung von der Güte und Freigebigkeit eines solchen Vaters uns nicht zu aufrichtiger Hingabe an ihn entzündete! Und wenn gerade Paulus solche Mahnung vorträgt, muss sie wohl besonders wirksam sein: denn niemand hat herrlicher und klarer Gottes Gnade gepredigt als er. Ein Herz, welches diese Gnadenlehre vernehmen könnte, ohne einen Eindruck von der reichen Güte des Herrn und damit einen Anstoß zu wahrer Gegenliebe zu empfangen, müsst ja härter sein als Eisen. Wunderlicher Gedanke, dass jeder Antrieb zu rechtschaffenem Leben dahinfalle, wenn man der Menschen Seligkeit allein auf Gottes Gnade gründet! Als ob nicht ein ernsthafter Umgang mit der erfahrenen Güte Gottes in einem frommen Gemüte einen viel besseren Gehorsam gegen Gott zustande brächte als alle Gesetze und Versprechungen für die Zukunft! Hier können wir auch den milden Sinn des Apostels bewundern, der viel lieber mit freundlichen Mahnungen auf die Gläubigen wirken will als mit harten Befehlen. Er weiß, dass er auf diesem Wege bei empfänglichen Gemütern mehr ausrichtet.
Dass ihr eure Leiber begebet zum Opfer. Wissen, dass wir Gott gehören und sein Heiligtum sind -, das ist die Grundlage eines rechten Eifers für gute Werke. Wer dies weiß, der hört auf, sich selbst zu leben und richtet alle Regungen seines Lebens auf den Gehorsam gegen den Herrn. Zweierlei gilt es also hier ins Auge zu fassen. Zuerst: wir gehören dem Herrn. Weiter: eben darum müssen wir heilig sein; denn es wäre der Heiligkeit Gottes unwürdig, wenn die Gabe, die ihm gehören soll, nicht zuvor geweiht wäre. Steht aber dies fest, so muss Heiligkeit überhaupt das Trachten unseres ganzen Lebens sein. Wollten wir in unreines Wesen zurückfallen, so wäre dies ein Raub an Gottes Eigentum: denn wir würden damit Gottes heiligen Besitz entweihen. Diese Wahrheit legt uns der Apostel mit mannigfaltigem Ausdruck ans Herz. Zuerst hat er gefordert, dass wir unsern Leib dem Herrn zum Opfer bringen sollen. Daraus entnehmen wir bereits, dass wir kein Verfügungsrecht über uns haben, sondern dass wir ganz in Gottes Macht stehen. Also müssen wir uns selbst verleugnen und unserm eignen Willen gänzlich absagen. Dann beschreiben mehrere Beiworte, wie unser Opfer beschaffen sein soll. Es soll lebendig sein: also dies ist seine Weise, dass das alte Leben in uns geschlachtet und geopfert ward, und wir nunmehr dem Herrn ein neues darbringen. Es soll heilig sein in dem bereits dargelegten Sinne: die Gabe, die man Gott bringen will, muss ordnungsmäßig zuvor entsündigt und geweiht sein. Das dritte Beiwort (Gott wohlgefällig) erinnert daran, dass unser Leben sich dann in der rechten Bahn bewegt, wenn wir unsere Aufopferung dem Wohlgefallen Gottes anpassen; zugleich bietet es uns einen großen Trost: denn es lehrt, dass Gottes Wohlgefallen auf solchem Eifer ruht, wenn wir einem gerechten und heiligen Wesen nachdenken. Die Leiber, die wir dem Herrn zum Opfer bringen sollen, sind nicht bloß Fleisch und Bein sondern der ganze Bestand unseres Wesens. Denn die Glieder des Leibes sind die Werkzeuge für unsere Taten. Anderwärts (1. Thess. 5, 23) will der Apostel nicht bloß den Leib, sondern auch Seele und Geist heilig haben. Wenn es heißt, wir sollen unsere Leiber zum Opfer begeben, so ließe sich noch genauer übersetzen: zum Opfer darstellen. Darin liegt eine Anspielung an die Opfer des Alten Bundes, welche auf dem Altar gewissermaßen dem Anblick Gottes dargestellt wurden. Zugleich aber erinnert der Ausdruck in seiner Weise daran, wie wir bereit und fertig dastehen müssen, um Gottes Befehle zu empfangen und ihnen ohne Verzug zu folgen. Daraus ergibt sich der Schluss, dass jeder Sterbliche, der nicht den Vorsatz hegt, dem Herrn zu dienen, einen elenden und verderblichen Irrweg geht. Wir sehen auch, welcherlei Opfer Paulus der christlichen Gemeinde anempfiehlt. Nachdem Christi einiges Opfer uns dem Vater versöhnt hat, sind wir durch seine Gnade alle Priester geworden, um uns mit allem, was wir haben, dem Ruhme Gottes zu weihen. Ein weiteres Sühnopfer brauchen wir nicht mehr: wer ein solches noch bringen will, lästert Christi unvergleichliches Kreuzesopfer.
Euer vernünftiger Gottesdienst. Diese Wendung wird Paulus hinzugefügt haben, um seine vorige Aussage zu erläutern und zu bekräftigen. Selbstaufopferung ist der wahre Gottesdienst. Wer sie nicht auf sich nimmt, ist ein falscher Anbeter. Man dient dem Herrn in rechter Weise, wenn man all sein Tun und Treiben nach seinem Gebote richtet. Hinweg also mit allem erdichteten Kultus! Er ist dem Herrn ein Gräuel. Bei Gott ist Gehorsam besser denn Opfer (1. Sam. 15, 22). Freilich pflegen sich die Menschen in ihre heiligen Erfindungen zu verlieben, welche einen Schein der Weisheit und des gottseligen Wesens um sich verbreiten (Kol. 2, 23). Gottes Wort aber, welches Paulus uns hier verkündigt, erklärt nur den Gottesdienst für vernünftig, welchen Gott befohlen hat, dagegen solche Menschengemächte, die man neben der Regel des Wortes aufrichtet, für töricht, unvernünftig und vorwitzig.
V. 2. Und stellet euch nicht dieser Welt gleich. Das Wort „Welt“ hat vielerlei Bedeutungen. Hier steht es für den allgemeinen Sinn und die Art der Menschen. Derselben uns anzupassen verbietet der Apostel mit gutem Grunde. Denn da die ganze Welt im Argen liegt (1. Joh. 5, 19), so müssen wir ausziehen, was Menschenart ist, wenn anders wir Christus in Wahrheit anziehen wollen. Um jeden Zweifel zu beheben, beschreibt der Apostel die Umwandlung, die er von uns verlangt, auch noch von der andern Seite her: sondert verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes. Solche gegensätzliche Wendungen, welche eine Wahrheit deutlicher machen sollen, sind ja der Schrift geläufig. Dabei wollen wir beachten, welch durchgreifende Verwandlung vor sich gehen soll: nicht bloß das Fleisch des Menschen soll erneuert werden, sondern sein Geist und Sinn. Es ist also nicht so, dass die Vernunft, die man als die allerweiseste Königin bezeichnet, einfach zur Herrschaft kommen müsste. Die Meinung des Apostels greift viel tiefer: auch der Sinn, also die Vernunft, wird von Grund auf erschüttert, ja sogar zunichte gemacht, wenn Paulus die Erneuerung unseres Sinnes lehrt. Alle unsere geistige Selbstbespiegelung sinkt in Nichts zusammen vor Christi Spruch (Joh. 3, 5), dass der ganze Mensch einer Neugeburt bedarf, wenn anders er ins Himmelreich eingehen will. Denn unser Herz und Sinn ist natürlicherweise von der Gerechtigkeit Gottes weit entfernt.
Auf dass ihr prüfen möget usw. Damit spricht Paulus aus, was es für einen Zweck und ein Ziel hat, dass wir einen neuen Sinn anziehen: wir sollen unsern und aller Menschen Anschlägen und Wünschen den Abschied geben und eine innere Richtung auf den einigen Gotteswillen empfangen, welchen zu kennen wahre Weisheit ist. Wie gottwidrig unser Sinn von Natur ist, lässt sich daraus abnehmen, dass er durchaus erst erneuert werden muss, wenn wir überhaupt prüfen wollen, was Gottes Wille ist. Die weiteren Beiworte lassen diesen Willen Gottes in seiner ganzen begehrenswerten Herrlichkeit erscheinen. Unser Eigensinn muss in seine Schranken gebannt werden: darum erklärt Paulus auf das allernachdrücklichste, dass das Lob der Gerechtigkeit und Vollkommenheit nur dem Willen Gottes gebührt. Redet die Welt sich ein, dass ihre selbst gemachten Werke gut seien -, so heißt es dagegen, dass man nur nach Gottes Geboten bemessen darf, was recht und gut ist. Zeigt sich die Welt in ihren eignen Gedanken höchst zufrieden und selbstvergnügt, so sagt Paulus, dass vor Gott nur wohlgefällig ist, was er verordnet hat. Sucht die Welt mit neuen Erfindungen eine Vollkommenheit über Gottes Wort -, so behauptet Paulus, dass allein Gottes Wille vollkommen sei: wer über ihn hinausstrebt, betrügt sich mit Einbildungen.
3 Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedermann unter euch, dass niemand sich höhere Gedanken mache, denn sich´ s gebührt zu denken, sondern dass er von sich mäßig halte, ein jeglicher, nach dem Gott ausgeteilt hat das Maß des Glaubens.
V. 3. Die Anknüpfung mit denn zeigt, dass diese Mahnung eng mit der vorigen Aussage zusammenhängt. Wollte Paulus unsern ganzen Eifer auf die Erkenntnis des Willens Gottes lenken, so war das nächste Erfordernis, dass er uns unsere hochmütigen und eigenwilligen Gedanken austreibe. Dabei stützt er seine Forderung mit der ganzen Autorität seines Amtes: ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist. Des Apostels Wort soll als Gottes Wort gehört werden. Denn er redet nicht aus sich selbst, sondern aus Gottes Auftrag und Offenbarung. Er hat seinen apostolischen Dienst nicht willkürlich an sich gerissen, sondern durch Gottes Berufung und Gnade empfangen (vgl. zu 1, 5). Mit diesem Hinweis auf seine Autorität zwingt der Apostel seine Leser geradezu, seinem Worte sich zu unterwerfen, wenn anders sie nicht den Gott verachten wollten, der durch ihn redete. Die nun folgende Mahnung will auch uns zurückhalten, Dinge zu erforschen, welche dem Geist nur vergebliche Unruhe, aber keine Erbauung bringen. Niemand soll höheren und weiteren Gedanken nachhängen, als sein Verstand fassen kann und seine Berufung ihm erlaubt. Darin liegt zugleich beschlossen, dass wir unser Dichten und Trachten nur auf Dinge richten sollen, die uns in der Demut und Nüchternheit erhalten. Ich glaube nämlich, dass dieses Verständnis unserer Worte besser mit dem Urtext und dem Zusammenhang der Rede sich verträgt als die gewöhnliche Übersetzung: „Dass niemand weiter von sich halte, denn sich´ s gebührt zu halten.“ Man macht sich höhere Gedanken, denn sich´ s gebührt zu denken, wenn man seine Gedanken mit Dingen beschäftigt, die außerhalb unseres Berufes liegen und die uns nichts angehen. Man bescheidet sich in seinen Gedanken, wenn man sich auf seinen zugewiesenen Kreis beschränkt und sich dadurch zur Anspruchslosigkeit immer wieder anleiten lässt.
Ein jeglicher, nach dem Gott ausgeteilt hat usw. D. h. wie einem jeglichen Gott ausgeteilt hat. Damit gibt der Apostel den Grund dafür an, weshalb wir uns in nüchterner Weisheit selbst beschränken sollen. Gott hat große Gaben verschieden ausgeteilt: und das Maß unserer Pläne und Ansprüche soll sich danach bemessen, dass wir die Grenzen einhalten, die Gottes Wohlgefallen uns gesteckt hat und die er uns im Glauben erkennen lässt. Unsere Gedanken greifen also nicht bloß dann zu weit, wenn sie sich mit gänzlich überflüssigen und unnützen Dingen beschäftigen, sondern auch dann, wenn sie sich auf Gegenstände richten, die zu wissen und zu treiben an sich gut sein kann, bei denen wir aber nicht fragen, ob sie uns anvertraut sind -, wobei wir dann mit Vorwitz und Selbstüberhebung das Maß dessen überschreiten, was wir bedenken sollen. Solche Anmaßung wird Gott nie ungestraft lassen. Sieht man doch nur zu oft, dass Leute, deren törichter Ehrgeiz über die gewiesenen Grenzen hinausgreift, schließlich in lauter Torheiten umgetrieben werden. In Summa: auch das gehört zu unserm vernünftigen Gottesdienst, dass ein jeder in Sanftmut und Nachgiebigkeit sich von Gott lenken und leiten lasse. Nicht unsere eigenen Gedanken sollen entscheiden, sondern der Glaube, welcher jeden an sein eignes, bescheidenes Maß bindet.
4 Denn gleicher weise als wir in einem Leibe viele Glieder haben, aber alle Glieder nicht einerlei Geschäft haben, 5 also sind wir viele ein Leib in Christo, aber untereinander ist einer des andern Glied, 6 und haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. 7 Hat jemand Weissagung, so sei sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so warte er des Amts. Lehret jemand, so warte er der Lehre. 8 Ermahnt jemand, so warte er des Ermahnens. Gibt jemand, so gebe er einfältig. Regiert jemand, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er´ s mit Lust.
V. 4. Denn gleicher weise usw. Was der Apostel davon sagte, dass die Weisheit eines jeden ihr Maß an seinem Glauben finden solle, das bestätigt jetzt ein Blick auf die Berufung aller Gläubigen. Wir sind doch in einer solchen Weise berufen, dass wir zu einem Leibe zusammenwachsen sollen. Wie die Glieder des menschlichen Leibes ineinander greifen, so will auch Christus eine Gemeinschaft und Verbindung seiner gläubigen Glieder stiften. Und da die Menschen sich selbst nicht zu solcher Einheit zusammenzufinden vermochten, ist er selbst das Band und Haupt geworden. Also dasselbe vernünftige Zusammenwirken, welches wir am menschlichen Leibe beobachten, soll auch in der Gemeinschaft der Gläubigen statthaben. Dieses Gleichnis macht sehr anschaulich, wie nötig jeder einzelne bedenken muss, was seiner Natur, seinen Gaben und seiner Berufung angemessen ist. Davon ließen sich ja mancherlei Anwendungen machen. Hier kommt es aber auf eine Wahrheit ganz besonders an: wie die Glieder eines Leibes verschiedene Verrichtungen haben, zu welchen allein sie passend eingerichtet sind, wie kein Glied alles zugleich ausrichten kann oder auch nur die Geschäfte eines andern mit übernimmt -, so hat auch Gott uns mancherlei Gaben verliehen und damit eine Arbeitsteilung geschaffen, die er gehalten wissen will. Ein jeder soll nach seinem Maße sich bescheiden und nicht in ein fremdes Amt greifen. Es soll niemand alles zugleich beherrschen wollen, sondern voller Selbstbescheidung auch dem andern seinen Platz lassen. Wenn dabei (V. 5) der Apostel betont, dass wir untereinander Glieder sind, so erinnert er uns damit, wie eifrig ein jeder seine Gaben zu Nutz und Heil der andern Glieder und der Gesamtheit anlegen soll.
V. 6. Und mancherlei Gaben. Damit schlägt der Apostel unsern angeborenen Stolz nieder. Ein jeder soll es tragen, dass er auch den andern braucht und sich von ihm muss helfen lassen. Gottes allerweisester Rat hat jeglichen sein Teil gegeben. Es dient zum Wohlsein des ganzen Leibes, dass niemand die Fülle aller Gaben empfangen hat und keiner ungestraft seine Brüder verachten darf. Wenn wir diese Grundwahrheit stets im Auge behalten, dass jeder seine besondere, große oder kleine Gabe von Gott empfing, die er innerhalb seiner Grenzen zur Auferbauung der Gesamtheit verwenden soll, so wird die Gemeinde Gottes wohlgeordnet dastehen. Jeder leistet seinen Beitrag zum gemeinen Besten, und keiner hindert den andern. Wer aber solche Ordnung umstößt, der kämpft wider Gott, der sie gegeben hat. Denn der Unterschied der Gaben stammt nicht aus menschlicher Willkür, sondern von dem Gott, der auf solche Weise seine Gnade austeilen wollte.
V. 7. Hat jemand Weissagung usw. Nun folgen einzelne Beispiele dafür, wie jeder nach seiner Kraft und auf seinem Posten das Seine leisten soll. Hat nämlich jede Gabe ihre Grenzen, so verderbt man die Gabe selbst, wenn man sich an diese Grenze nicht hält. Bei der Weissagung, von welcher der Apostel hier redet, müssen wir nicht in erster Linie an die Gabe denken, künftige Ereignisse zu enthüllen, welche ja freilich Gott zur Verherrlichung seines Reiches der christlichen Gemeinde in ihren Anfängen verliehen hatte. Vielmehr handelt es sich um eine Gabe weissagender Offenbarung in dem Sinne, dass der, welcher sie besitzt, den Willen Gottes überhaupt richtig und kundig zu erschließen und auszulegen weiß. Diese Gabe der „Prophetie“ ist noch heutigen Tages in der Christenheit vorhanden. Es ist die Fähigkeit, die Schrift recht zu verstehen und auszulegen. Das ist die Art der Weissagung, die noch besteht, seit die alten Propheten und alle Verheißungen Gottes in Christus und seinem Evangelium ihre Erfüllung gefunden haben. Wenn Paulus sagt (1. Kor. 14, 5; 13, 9): „Ich wollte, dass ihr alle mit Zungen reden könntet, aber viel mehr, dass ihr weissagtet.“ „Unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk“ so schweben ihm auch nicht ausschließlich die wunderbaren Gnadengaben vor, mit welchen Christus das Evangelium im Anfange seines Laufes schmücken wollte, sondern auch die gewöhnlichen und bleibenden Ordnungen seiner Gemeinde. So ermahnt er hier diejenigen, die in der Gemeinde das Prophetenamt innehaben (d. h. als Prediger Gottes Gedanken auslegen), dass sie ihre prophetische Rede dem Glauben gemäß einrichten und von dieser „Regel des Glaubens“ keinen Fußbreit abweichen. Unter „Glaube“ versteht er dabei die Hauptgrundsätze der Religion: wenn eine Lehrweise sich mit diesen in handgreiflichen Widerspruch setzt, ist sie sicher falsch. Die übrigen Beispiele machen dem Verständnis geringere Schwierigkeiten. Hat jemand ein Amt, zu welchem er ordnungsmäßig bestellt ist, so warte er des Amts und bedenke, dass er nicht um seiner selbst, sondern um der andern willen auf seinen Posten gestellt ward. Sein Amt ist ein „Dienst“. In demselben Sinne ruft Paulus den Lehrern zu: Lehret jemand, so warte er der Lehre, d. h. er sorge für eine wahrhafte Auferbauung der Gemeinde. Denn deren Förderung ist der einzige Zweck seiner Tätigkeit. Ein „Lehrer“ ist nämlich derjenige, der die Gemeinde im Wort der Wahrheit unterrichtet und unterweist.
V. 8. Ermahnt jemand, so warte er des Ermahnens, nämlich kräftig und wirksam. Alle die bisher genannten Ämter sind nahe verwandt und grenzen eng aneinander, aber es ist doch für die Ordnung der Gemeinde nützlich, sie auseinander zu halten. Gibt jemand, so gebe er einfältig. Die letzten Glieder zeigen deutlich, dass uns hier der rechte Gebrauch der Gaben Gottes vor Augen gestellt werden soll. Die Gaben, an welche der Apostel hier denkt, sind nicht private und persönliche, sondern diejenigen, welche so genannte „Diakonen“ oder Almosenpfleger (Apg. 6; 1. Tim. 3, 8) aus dem Besitz der Gemeinde zu verteilen haben. Die Übung der Barmherzigkeit ist die Krankenpflege, welche nach der Sitte der alten Kirche christlichen Witwen (1. Tim. 5, 3-16) und andern Gemeindebeamten oblag. Die Almosenpfleger sollen nun ihr Amt „einfältiglich“ verwalten, d. h. ohne Betrug und Ansehen der Person die ihnen anvertrauten Gaben treulich austeilen. Die Krankenpfleger, welche außerdem auch sonst Bedürftigen Trost und Hilfe bringen mochten, sollen ihr Pflicht mit Lust, d. h. fröhlich tun. Ein verdrossenes Wesen würde ihren Diensten den Wert nehmen. Wie einen Kranken oder Betrübten nichts mehr tröstet und erquickt, als wenn man ihm mit frischem und bereitwilligem Gemüte hilft, so wird es ihn nur niederdrücken, wenn er bei seinen Pflegern, die um ihn sind, traurige Mienen sieht. Regiert jemand usw. Dies gilt im Sinne des Apostels zunächst für die Ältesten oder Presbyter, welchen die Regierung der Gemeinde anvertraut war, welche die Gemeinde leiteten und Sittenzucht übten. Es lässt sich aber auf alle Inhaber irgendeines Vorsteheramtes anwenden. Wer für die Ordnung der Gemeinschaft sorgen soll, muss besonders sorgfältig sein und Tag und Nacht für das Wohl der Gesamtheit sorgen.
9 Die Liebe sei nicht falsch. Hasset das Arge, hanget dem Guten an. 10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brünstig im Geiste. Schicket euch in die Zeit. 12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet. 13 Nehmet euch der Notdurft der Heiligen an. Herberget gern.
V. 9. Die Liebe usw. Indem der Apostel nun zu den Pflichten jedes einzelnen Christen übergeht, macht er billig den Anfang mit der Liebe, welche das Band der Vollkommenheit ist. Er gibt darüber die sehr nötige Vorschrift, dass die Liebe, frei von jedem falschen Schein, aus einem reinen und treuen Herzen kommen soll. Denn es lässt sich kaum beschreiben, wie erfinderisch fast alle Menschen darin sind, eine Liebe zu heucheln, die sie gar nicht haben. Sie belügen nicht bloß andere, sondern auch sich selbst, und reden sich ein, dass sie Leuten, die ihnen in Wirklichkeit nicht bloß gleichgültig, sondern verhasst sind, eine hinreichende Liebe zuteil werden lassen. Deshalb will Paulus nur solche Liebe als echt anerkennen, die sich von jeder Heuchelei frei hält. Es kann sich aber jeder selbst bezeugen, ob er im verborgensten Grunde seines Herzens nichts trägt, das der Liebe widerstreitet. Wenn der Apostel die weitere Mahnung gibt: Hasset das Arge, hanget dem Guten an -, so will diese nicht in blasser Allgemeinheit verstanden sein. Vielmehr weist der Zusammenhang darauf hin, dass unter dem „Argen“ ein missgünstiger und ungerechter Sinn verstanden sein soll, welcher den Menschen unbedenklich Schaden zufügt. Das „Gute“ ist dann der freundliche, hilfsbereite Sinn, welcher den Nebenmenschen gern Wohltaten erweist. Die Schrift liebt es, durch solche Gegenüberstellung des Lasters und der Tugend ihre Mahnungen besonders eindringlich zu machen. Der Hass gegen das Arge, welchen uns der Apostel einflößen will, ist natürlich nicht eine bloße Stimmung: wie wir dem Guten tätig anhangen sollen, so sollen wir vielmehr den argen Sinn kräftig abstoßen.
V. 10. Die brüderliche Liebe usw. Der Apostel kann nicht Worte genug finden, um die Innigkeit der Liebe zu beschreiben, welche die Christen untereinander verbinden soll. So brüderlich und herzlich sollen sie miteinander umgehen, als wären sie leibliche Geschwister. Solche Liebe müssen wir den Kindern Gottes entgegen bringen. Der Apostel hilft uns dazu mit einem neuen Winke: Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Gegenseitige Geringschätzung ist ja ein Gift, welches die Zuneigung zueinander am wirksamsten tötet. Nichts stört die brüderliche Eintracht gründlicher als der wegwerfende Hochmut, welcher den andern verachtet, um sich selbst zu erheben. Und umgekehrt gibt es kein besseres Band der Liebe als die Bescheidenheit, die jedem seine Ehre lässt.
V. 11. Seid nicht träge usw. Auch diese Mahnung will nicht bloß im Allgemeinen besagen, dass ein christliches Leben sich stets tätig erweisen soll. Sie will uns insbesondere ans Herz legen, unter Hintanstellung des eignen Nutzens den Brüdern unsern Dienst zu weihen, und zwar nicht bloß den guten, sondern oft gar unwürdigen und undankbaren. Bei allen solchen Pflichten müssen wir uns selbst vergessen: darum ist die Erinnerung nötig, dass wir uns selbst nicht nachgeben dürfen, vielmehr alle Trägheit abschütteln müssen. Anders können wir nie uns für Christi Dienst völlig frei machen. Wenn es weiter heißt: seid brünstig im Geist -, so weist uns dies den Weg zu solchem Eifer. Das Fleisch geht immer in stumpfer Trägheit dahin, wie ein Esel: es bedarf stets, gestachelt und getrieben zu werden. Nur brünstiger Eifer des Geistes vermag unsere Bequemlichkeit zu überwinden. Sollen wir fortgehend Gutes tun, so muss der Geist Gottes in unserm Herzen den rechten Eifer dafür entzünden. Dabei könnte aber jemand fragen, was dann die Ermahnung des Paulus überhaupt helfen könne. Ich antworte, dass zwar Gott uns den rechten Eifer schenkt; die Gläubigen aber haben wider ihre eigne Trägheit anzukämpfen und müssen die von Gott entfachte Flamme in sich aufnehmen. Geschieht es doch nur zu oft, dass unser verkehrtes Wesen den Trieb des Geistes dämpft und erstickt. Ebendahin zielt das dritte Wort: schicket euch in die Zeit. Denn kurz ist unser Lebenslauf, und die Gelegenheit, Gutes zu tun, eilt vorüber. Darum gilt es, eifrig zuzugreifen, wenn wir etwas leisten wollen. In demselben Sinne sagt Paulus Eph. 5, 16: „Kaufet die Zeit aus.“ Denn an unserer Stelle wird er nicht den an sich richtigen Gedanken einprägen wollen, dass wir uns in die Umstände der Zeit fügen, sondern vielmehr, dass wir nicht säumen und uns schicken sollen, die Gelegenheit der Zeit zu nützen. Übrigens bieten viele alte Handschriften vielmehr die Lesart: „Dienet dem Herrn“. Wenn dieselbe richtig sein sollte, so würde der Apostel zu verstehen geben, dass jeder Liebesdienst an den Brüdern im tiefsten Grunde ein Gottesdienst ist. So würde unser Eifer einen besonderen Antrieb empfangen.
V. 12. Seid fröhlich in Hoffnung. Auch die drei Worte dieses Verses sind eng sowohl untereinander als mit den vorangehenden Mahnungen verknüpft. Werden wir doch am besten imstande sein, Gutes zu tun und jede Gelegenheit dafür nützen, wenn wir fröhlich in der Hoffnung auf das ewige Leben ausruhen und dadurch alle gegenwärtige Unruhe geduldig tragen lernen. Wir suchen dann unsere Freude und unser Glück nicht mehr auf Erden und in diesseitigen Gütern, sondern richten unsern Sinn gen Himmel zu voller und beständiger Freude. Solche Freude gründet sich auf die Hoffnung des ewigen Lebens; darum überwiegt sie allen gegenwärtigen Schmerz. So hängt am ersten das zweite: geduldig in Trübsal. Nur wer sein Glück jenseits der Welt sicher geborgen weiß, der wird bereitwillig und geduldig jeden Schmerz tragen und durch den Trost der Hoffnung die Bitterkeit des Leides mildern und lindern. Da wir aber dies beides mit unserer Kraft bei weitem nicht zu zwingen vermögen, so fügt der Apostel hinzu: haltet an am Gebet. Wir sollen Gott bitten, dass er unsern Mut nicht wanken und fallen lasse oder ihn durch das Unglück gar zerbreche. Aber der Apostel mahnt uns nicht bloß zum Beten überhaupt, sondern zu anhaltendem Gebet. Wir müssen immer unter den Waffen stehen; denn täglich erhebt sich mannigfacher Aufruhr, den auch der Tapferste nicht niederschlagen kann, wenn er nicht stets neue Kraft schöpft. Das bewährteste Mittel gegen die Erschlaffung ist aber das Gebet ohne Unterlass.
V. 13. Nehmet euch der Notdurft der Heiligen an. Jetzt lenkt die Rede wieder auf die Liebespflichten zurück, deren vornehmste es ist, denen Gutes zu tun, von welchen wir eine Vergeltung nicht erwarten können. Da nun nach dem gewöhnlichen Lauf der Welt die bedrängtesten und hilfsbedürftigsten Leute am ehesten übergangen werden, weil die Menschen glauben, dass mit allen Wohltaten doch nicht zu helfen sei -, so legt uns Gott eben sie am dringendsten aufs Herz. Wahre Liebe kennt ja nur einen Gesichtspunkt: sie will Gutes tun. So sollen wir den Brüdern helfen, die der Hilfe bedürfen. Ein Hauptstück solcher Liebe wird ausdrücklich genannt: Herberget gern. Haben doch die Fremden, die fern von ihren Lieben sich leicht verlassen fühlen, Wohlwollen und Freundlichkeit besonders nötig. Wir sehen also, dass uns ein Mensch umso mehr aufs Herz gelegt werden soll, je weniger andere sich um ihn kümmern. Solcher Menschen sollen wir uns „annehmen“, als wären sie ein Stück von uns selbst. Insbesondere sollen wir den „Heiligen“ unsere Hilfe zuwenden: denn wenn auch unsere Liebe das ganze Menschengeschlecht umspannen muss, so wird doch ein besonderer Zug der Zuneigung uns mit den Glaubensgenossen verbinden.
14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und fluchet nicht. 15 Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden. 16 Habt einerlei Sinn untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den niedrigen. 17 Haltet euch nicht selbst für klug.
V. 14. Bei diesen mancherlei Mahnungen müssen wir von vornherein darauf verzichten, gar zu peinlich eine bestimmte Ordnung zu suchen. Diese kurzen Vorschriften zielen einmal auf diese, dann wieder auf jene Seite des christlichen Lebens. Nur der allgemeine Gesichtspunkt, welchen uns der Apostel zu Beginn des Kapitels eröffnet hatte, hält sie zusammen. Alsbald werden wir die Vorschrift empfangen, nicht Böses mit Bösem zu vergelten (V. 17). Was der Apostel aber jetzt von uns verlangt, ist noch schwieriger: wir sollen unsern Feinden nicht einmal fluchen, d. h. wir sollen ihnen nichts Böses, sondern lauter Segen wünschen und von Gott erbitten, selbst wenn sie uns quälen und unmenschlich behandeln. Je schwieriger es ist, solch sanftmütigen Sinn zu bewahren, umso angestrengter muss unser Eifer sein, ihn zu erlangen. Denn in allem, was Gott befiehlt, will er unsern Gehorsam sehen. Dabei gilt nicht die Entschuldigung, dass wir solchen Sinn nun einmal nicht haben. Denn Gott will, dass wir uns gerade durch Sanftmut von den Gottlosen und Weltkindern unterscheiden. Damit ist uns freilich eine schwierige Aufgabe gestellt, die gänzlich wider die menschliche Natur geht. Aber es ist nichts so schwer, dass es Gottes Kraft nicht überwinden könnte. Und diese Kraft wird uns nie fehlen, wenn wir nur nicht versäumen, darum zu bitten. Begegnen wir auch schwerlich einem Menschen, der im Gesetz des Herrn solche Fortschritte gemacht hätte, dass er dieses Gebot schon vollkommen hielte -, so soll doch niemand sich für ein Kind Gottes ausgeben oder mit dem Namen eines Christen schmücken, der nicht wenigstens anfangs weise solchen Sinn angezogen hat und mit seiner widerstrebenden Neigung täglich im Kampfe liegt. Ich wiederhole, dass dies Gebot zu halten viel schwerer ist, als bloß von der eignen Rache für eine Beleidigung abzustehen. Mancher hält seine Hände zurück, zügelt auch seine innere Neigung, dem Feinde Schaden zuzufügen, aber er wünscht von ganzem Herzen, dass ihn sonst woher ein Schlag oder Verlust treffe. Und ist mancher selbst von Natur so sanftmütig, dass er seinem Feind nicht ausdrücklich etwas Böses anwünscht, so wird unter Hunderten doch kaum einer den gegenteiligen Wunsch hegen, dass es seinem Beleidiger geradezu gut gehen möchte. Die meisten lassen sich zu ungezähmten Verwünschungen hinreißen. Gottes Wort aber will nicht nur unsere Hände binden, dass sie nichts Böses tun, sondern will auch die bittere Stimmung im Herzen unterdrücken; ja noch mehr: es will, dass wir um das Heil derer besorgt sein sollen, welche uns in ungerechter Weise verfolgen und welche damit dem Verderben entgegen gehen. Gott will an uns nicht bloß soviel Geduld sehen, dass wir in unsern Gebeten den zornigen Ansturm zähmen. Vielmehr soll unsere Fürbitte um Verzeihung ein Zeugnis werden, dass es uns wehe tut, wenn wir unsere Feinde so mutwillig ins Verderben stürzen sehen.
V. 15. Freuet euch mit den Fröhlichen usw. Die allgemeine und zusammenfassende Vorschrift steht erst an dritter Stelle (V. 16): Habt einerlei Sinn untereinander, d. h. nehmet herzlichen Anteil an dem Geschick des Nächsten. Was vorangeht, ist beispielsweise gesagt: wir sollen Freude und Leid mit dem Bruder teilen. Das ist die Art der wahren Liebe, dass sie von dem Leid des andern sich nicht herzlos in die eigne Freude oder Bequemlichkeit zurückzieht, sondern mit ihm trauert. In Summa: Wenn der Sinn des Bruders in jedem wechselnden Geschick, in Freude und Leid unsern Sinn mitberührt, dann haben wir die Vorschrift des Apostels erfüllt. Nur der böse Neid freut sich nicht im Hinblick auf des Bruders Glück. Nur die unmenschliche Hartherzigkeit bleibt unbetrübt, wenn es ihm übel geht. Es soll also unter uns eine solche innere Gemeinschaft bestehen, dass wir alle Regungen gemeinsam empfinden.
V. 16. Trachtet nicht nach hohen Dingen. Dem Christen ziemt es nicht, ehrgeizig nach Dingen auszuschauen, mit denen er andern voraus kommen will, überhaupt nicht, sich hochmütig zu gebärden; er soll vielmehr auf bescheidenes und nachgiebiges Wesen bedacht sein. Dies macht uns groß vor Gott, nicht der Stolz und das verächtliche Herabschauen auf die Brüder. Hieran reiht sich vortrefflich die weitere Erinnerung: haltet euch herunter zu den niedrigen, nämlich zu niedrigen Dingen, nicht „zu den Niedrigen“. Dieses Verständnis empfiehlt sich um des Gegensatzes willen mehr. Nichts fördert ja die Eitelkeit mehr, als wenn man sich zu hohe Pläne macht. Je höher der Platz ist, den wir begehren, umso hochmütiger werden wir. Der Apostel verwirft also alle Streberei und alle hohen Ansprüche, welche die Menschen oft als einen edlen Ehrgeiz loben. Die oberste Tugend der Gläubigen ist Mäßigung, oder vielmehr eine Bescheidenheit, welche die Ehre lieber andern gibt als sich selbst nimmt. Damit hängt auch das Nächste zusammen: Haltet euch nicht selbst für klug. Denn nichts macht hochmütiger als die Überzeugung von der eignen Klugheit. Davon sollen wir ganz absehen, sollen auch andere hören und ihren Ratschlägen Beachtung schenken.
17 Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. 18 Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn (Gottes); denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“
V. 17. Vergeltet niemand Böses. Eine ähnliche Vorschrift folgt wenige Verse später (V. 19). Nur ist dort ausdrücklich von Rache die Rede, hier von einer wenig milderen Art des Ausgleichs. Wir vergelten oft Böses mit Bösem, auch wenn wir uns nicht gröblich für ein erfahrenes Unrecht rächen. Wir begegnen etwa denen, die uns nicht wohlwollen, mit einer berechneten Kälte. Wir messen ab, was uns dieser und jener wert ist oder nicht. Die uns etwas geleistet haben oder von denen wir etwas für uns hoffen, lassen wir unser Dienstwilligkeit erfahren. Hat uns aber jemand im Stich gelassen, wo wir seiner bedurften, so vergelten wir Gleiches mit Gleichem, und helfen ihm gegebenenfalls nicht mehr als er uns geholfen hat. Solche Beispiele, da man ohne offenbare Rache doch Böses mit Bösem vergilt, ließen sich noch viele anführen.
Fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. Weil wir nur zu sehr auf unsern Vorteil oder die Abwehr unseres Schadens bedacht zu sein pflegen, so will Paulus unsere Fürsorge vielmehr auf einen würdigeren Gegenstand richten: unser oberstes Anliegen soll sein, dass unser ehrbares Verhalten jedermann zur Erbauung dienen könne. Ebenso notwendig und unentbehrlich wie ein gutes Gewissen vor Gott ist auch ein guter Ruf bei den Menschen. Denn wenn Gott durch unsere guten Werke geehrt werden soll, so muss es ja seiner Ehre schaden, wenn die Menschen an uns nichts sehen, was Lob verdient. Dabei verdunkeln wir nicht bloß Gottes Ehre: wir hängen ihm geradezu Schaden an. Denn jede Sünde der Gläubigen ist in den Augen der Unerfahrenen ein Schandfleck für das Evangelium. Sollen wir uns nun der Ehrbarkeit gegen jedermann befleißigen, so gilt es zu fragen, zu welchem Zweck. Der Zweck ist nämlich nicht, die Augen der Menschen auf uns zu ziehen und ihre Lobsprüche zu empfangen. Die Lust danach will uns der Herr im Gegenteil austreiben (vgl. Matth. 6, 2.5). Vielmehr sollen wir den Menschen Anlass geben, ihre Seele zu Gott zu erheben und ihn zu preisen (Matth. 5, 16). Unser Beispiel soll sie zu eifrigem Trachten nach der Gerechtigkeit erwecken. Von unserm Leben soll ein guter Geruch ausgehen, der zur Liebe und Hingabe an Gott lockt. Werden wir auch um des Namens Christi willen verlästert, so hören wir doch nicht auf, gegen jedermann Gutes zu erweisen. Dann wird eben erfüllt, was Paulus 2. Kor. 6, 8 ff. ausführt.
V. 18. Ist es möglich usw. Eine ruhige Lebensführung, die uns allen Menschen angenehm macht, gehört zu den besten Gaben des Christenstandes. Wollen wir danach trachten, so bedarf es nicht bloß der höchsten Ehrbarkeit, sondern auch rechter Freundlichkeit in unserm ganzen Wandel. Sie verschafft uns nicht bloß die Gunst der billig denkenden und guten Menschen, sondern überwindet auch den Sinn der Widerstrebenden. Zwei Gefahren gilt es dabei indessen zu meiden. Zuerst dürfen wir nicht derartig nach aller Menschen Liebe haschen, dass wir auch um Christi willen unter keinen Umständen irgendeines Menschen Hass auf uns nehmen wollen. Mancher, der um seines sanften Wesens und stillen Gemütes willen allen Menschen höchst liebenswürdig erscheint, hat doch um des Evangeliums willen die bitterste Feindschaft seiner nächsten Anverwandten zu tragen. Zweitens muss unsere Gewandtheit uns nicht verleiten, zu allem und jedem ja zu sagen: denn damit würden wir um eines faulen Friedens willen nur den Fehlern der Menschen schmeicheln. Da sich also nicht unter allen Umständen der Friede mit allen Menschen aufrechterhalten lässt, deutet der Apostel mit zwei Nebensätzen auf die möglichen Ausnahmen hin: Ist es möglich, soviel an euch ist. Das aber bleibt eine Pflicht der Frömmigkeit und Liebe, dass wir unsererseits den Frieden nicht brechen, wenn uns der andere nicht dazu zwingt. So sollen wir ehrlich bestrebt sein, den Frieden zu wahren, sollen deswegen vieles ruhig dulden, sollen verzeihen und von der vollen Strenge des Rechts manches nachlassen -, aber uns bereithalten, nötigenfalls den Streit scharf und mutig zu führen. Denn dass wir als Christi Streiter mit der Welt, deren Fürst der Satan ist, einen ewigen Frieden halten, wird nicht angehen.
V. 19. Rächet euch selber nicht. Die Sünde, welche der Apostel jetzt angreift, ist schwerer als die kurz zuvor behandelte (V. 17), wie wir schon gesagt haben. Doch entspringen beide aus der gleichen Quelle, nämlich aus übertriebener Selbstliebe und dem uns angeborenen Stolz. Diese Fehler machen uns höchst nachsichtig gegen die eignen Sünden und äußerst unduldsam gegen die Sünden der andern. Da nun vermöge dieser Grundkrankheit jedem Menschen eine brennende Lust eingeboren ist, sich selbst zu rächen, so gibt der Apostel die Vorschrift, dass wir auch bei der allerschwersten Beleidigung durchaus an keine Rache denken, sondern diese dem Herrn überlassen sollen. Und weil Menschen, die einmal solche ohnmächtige Wut erfasst, sich nicht leicht einen Zügel anlegen, so legt ihnen Paulus gewissermaßen mit sanfter Anrede die Hand auf die Schulter, hält sie zurück und spricht: meine Liebsten. Bis dahin reicht die Vorschrift, dass wir uns nicht rächen, ja nicht einmal an Rache denken sollen. Nun folgt der Grund dafür: sondern gebet Raum dem Zorn, nämlich Gottes. D. h. belasst dem Herrn die Möglichkeit, zu richten; ihr nehmt sie ihm vorweg, wenn ihr selbst zur Rache greift. Ist es ein Frevel, an Gottes Statt stehen zu wollen, so ist es auch unerlaubt, Rache zu nehmen. Denn damit fallen wir Gott in das Richteramt, welches er sich vorbehalten hat. Dabei lässt der Apostel auch leise den Gedanken anklingen, dass Gott einerseits denen schon Genugtuung verschaffen wird, die geduldig auf seine Hilfe harren, dass er aber denen zu helfen keinen Raum mehr hat, welche selbst zufahren. Übrigens sei noch einmal erinnert, dass der Apostel nicht bloß unsere Hand zurückhalten, sondern auch die Lust des Herzens stillen will, sich selbst zu rächen. Es ist also auch gänzlich überflüssig, hier zwischen einer öffentlichen und einer privaten Strafe zu unterscheiden. Denn wer etwa mit böswilligem Sinne und in der Absicht, auf diese Weise eine Rache zu üben, die Hilfe der Obrigkeit anruft, handelt nicht minder verwerflich, als wenn er selbst aus Rachsucht Ränke schmieden würde. Ja selbst Gott dürfen wir nicht in jedem Falle um Rache angehen: denn käme etwa ein solches Gebet aus persönlichem Hass und nicht aus dem unverfälschtem Eifer des Heiligen Geistes, so würde es ja den Herrn weniger zum Gericht aufrufen, als vielmehr zum Diener unserer bösen Begierden machen wollen. Nur dann geben wir in rechter Weise dem Zorn Gottes Raum, wenn wir mit ruhigem Gemüte die Zeit abwarten, bis uns geholfen wird, und inzwischen bloß den einen Wunsch hegen, dass die, welche uns jetzt lästig sind, umkehren und unsere Freunde werden möchten.
Denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein“ usw. Dieser Beweisspruch stammt aus dem Liede Mose (5. Mose 32, 35), wo Gott verkündigt, dass er als Rächer an seinen Feinden auftreten werde. Gottes Feinde aber sind, die seine Knechte ohne Ursache angreifen. Seinen Freunden gilt (Sach. 2, 8; 5. Mose 32, 10): „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.“ Mit diesem Troste dürfen wir zufrieden sein, denn die uns eine unverdiente Last auflegen, werden nicht ungestraft bleiben. Wir brauchen auch nicht zu fürchten, dass wir die Böswilligen etwa nur in größere Schuld und in größere Gelegenheit bringen, Böses zu tun, wenn wir geduldig nachgeben. Wir werden nur Gott, unserm einigen Helfer und Erlöser, Raum schaffen, uns zu helfen. Im Übrigen haben wir schon gesagt, dass wir auf unsere Feinde auch nicht die Rache Gottes herabbeten dürfen. Aber wenn sie in ihrem verkehrten Wesen fortfahren, so wird sie das gleiche Schicksal treffen wie alle Verächter Gottes. Und nicht deshalb bringt Paulus diesen Spruch bei, um uns zu erhitzen und zu zornigen Gebeten zu ermutigen, sondern lediglich, um uns getrost zu machen wider der Gottlosen Wut. Wir sollen nicht fürchten, dass unsere Geduld die Feinde nur zu schärferem Auftreten ermutigen werde: denn nicht vergeblich steht Gott als unser Rächer da.
20 So nun deinen Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. 21 Lass dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
V. 20. So nun deinen Feind hungert. Jetzt zeigt der Apostel, wie man das Gebot, sich nicht zu rächen und nicht Böses mit Bösem zu vergelten, in Wahrheit erfüllen kann: so nämlich, dass wir nicht bloß darauf verzichten, Unrecht zu tun, sondern dass wir sogar denen, die uns beleidigen, Wohltaten erweisen. Denn wenn wir ihnen die Wohltaten nicht gönnen wollten, so wäre dies auch nur eine Form sündhafter Wiedervergeltung. Wenn der Apostel fordert, wir sollen unsern Feind speisen und tränken, so begreift er unter diesen Beispielen alle möglichen Leistungen überhaupt. Wir sind also verpflichtet, soweit es irgend in unsern Kräften steht, unserm Feinde und Verfolger, wenn er dessen bedarf, in jeder denkbaren Lage mit unserm Vermögen oder mit Rat und Tat beizustehen. Soll man ihm aber in äußerlichen Dingen helfen, so darf man doch gewiss nicht wider sein Seelenheil beten!
So wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Da niemand gern Kraft und Vermögen ohne Nutzen verschwendet, so zeigt der Apostel auch noch den Erfolg, den wir erzielen können, wenn wir gegen unsere Feinde die Pflichten der Menschlichkeit erfüllen. Bei den feurigen Kohlen denken einige Ausleger an das Verderben, welches wir über das Haupt des Feindes bringen, wenn wir ihm als einem Unwürdigen Wohltaten erweisen und uns so gegen ihn betragen, wie er es nicht verdient: denn dadurch wird seine Schuld verdoppelt. Andere finden hier lieber den Gedanken, dass unsere Wohltaten das Gemüt des Feindes vielleicht erweichen und zur Gegenliebe umstimmen könnten. Ich glaube dagegen, dass der Apostel einfach sagen will, dass der Sinn des Feindes nach irgendeiner Richtung zur Entscheidung getrieben werden muss. Die Wohltaten werden ihn entweder milde stimmen, oder, wenn seine gar zu große Heftigkeit dessen nicht fähig sein sollte, so wird das Zeugnis seines Gewissens so in ihm brennen, dass er wenigstens spüren muss, wie wir mit unserer Güte innerlich über ihn den Sieg davontragen.
V. 21. Lass dich nicht das Böse überwinden. Dieser Satz dient nur zur Bestätigung der bisher vorgetragenen Wahrheiten. Denn mit unserm Kampfe wider die Bosheit ist es so bestellt: wenn wir versuchen, sie zu vergelten, so bekennen wir uns eben damit als von ihr überwunden; vergelten wir dagegen Böses mit Gutem, so beweisen wir damit die unbesiegte Stärke unseres Geistes. Und das ist ohne Zweifel der schönste Sieg, dessen Frucht wir nicht nur im Gemüte spüren, sondern auch tatsächlich sehen werden. Denn wenn Gott es gibt, so werden wir mit unserer Geduld einen Erfolg erringen, wie er schöner gar nicht gedacht werden kann. Wer dagegen versucht, Böses mit Bösem zu überwinden, der mag über seinen Feind vielleicht äußerlich einen Sieg davontragen: aber dies wird tatsächlich zu seinem Verderben ausschlagen, denn er ist damit zu einem Kriegsknecht des Satans geworden.
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Der Römerbrief - Kapitel 13
Johannes Calvin
1 Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. 2 Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebet Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen.
V. 1. Jedermann usw. Dass der Apostel diesen Gegenstand in seiner Unterweisung für das christliche Leben so nachdrücklich behandelt, lässt darauf schließen, dass ein besonderer Anlass dafür vorlag. Stets wird ja die Predigt des Evangeliums auch auf diese Frage führen, aber in damaliger Zeit war dies besonders der Fall. Unruhige Geister gibt es immer, welche glauben, dass das Königreich Christi nur dann zu seinem vollen Majestätsrecht kommt, wenn alle irdische Obrigkeit abgeschafft wird, und dass man der Freiheit eines Christenmenschen nur froh werden kann, wenn man jegliches Joch menschlicher Dienstbarkeit abschüttelt. Insbesondere aber steckten die Juden in diesem Irrtum. Ihnen schien es unwürdig, dass Abrahams Nachkommen, die vor der Ankunft des Erlösers einst ein blühendes Königreich ihr eigen nennen durften, jetzt bei seiner Erscheinung in politischer Abhängigkeit verharren sollten. Und noch ein anderer Grund musste nicht bloß die Christen aus den Juden, sondern auch aus den Heiden ihren Herrschern entfremden. Standen doch alle Obrigkeiten damals jeglicher Frömmigkeit fern, ja sie verfolgten die christliche Religion mit der heftigsten Feindschaft. Es musste also widersinnig erscheinen, dass man diejenigen als rechtmäßige Fürsten und Herrscher anerkennen sollte, welche alles daran setzten, Christus, dem einigen Herrn Himmels und der Erde, sein Königreich zu entreißen. Diese Anlässe haben den Apostel wahrscheinlich dazu geführt, von der Macht der Obrigkeit mit besonderer Sorgfalt zu handeln. An die Spitze stellt er den Hauptgrundsatz, der alles Folgende bereits in sich schließt. Dann fügt er hinzu, was zur Entfaltung und Bewährung der Hauptvorschrift dienen kann. Er sagt von der Obrigkeit, dass sie Gewalt über uns hat. Er schreibt ihr also nicht die denkbar höchste Vollmacht zu, sondern nur eine tatsächliche Gewalt über die andern. Der Apostel scheint damit den vorwitzigen Fragen begegnen zu wollen, die oft aufgeworfen werden, nämlich, woher die Menschen das Recht haben, über andere zu regieren. Es soll uns genug sein, dass sie eben ihre Gewalt haben. Denn sie sind nicht durch ihre eigne Kraft zu dieser Höhe emporgestiegen, sondern Gottes Hand hat sie dorthin gestellt. Heißt es aber: Jedermann sei untertan, so fällt jegliche Ausnahme. Niemand soll glauben, sich der allgemeinen Unterwerfung entziehen zu dürfen.
Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott. Das ist der Grund, weshalb wir der Obrigkeit untertan sein müssen: sie ward durch Gottes Ordnung eingesetzt. Weil es dem Herrn gefällt, auf diese Weise die Welt zu regieren, so widerstrebt jeder, der die Obrigkeit verachtet, der Ordnung Gottes und damit Gott selbst. Denn die Vorsehung dessen verachten, der auch die staatliche Rechtsordnung geschaffen hat, heißt den Kampf mit ihm selbst aufnehmen. Übrigens wollen wir ausdrücklich feststellen, dass die Obrigkeit nicht etwa so von Gott kommt wie etwas Pest, Hungersnot, Krieg und sonstige Sündenstrafen. Vielmehr hat Gott die Obrigkeit eingesetzt, damit sie die Welt mit Recht und Gesetz verwalte. Stammen nun auch Gewaltherrschaften und ungerechte Regierungen, bei denen Unruhe und Unordnung herrscht, nicht aus Gottes wohlgeordnetem Regiment, so hat doch Gott die Obrigkeit und die Herrscherrechte an sich zum Besten der Menschheit eingesetzt. Weil also die Obrigkeit dem Kriege wehren und jeglichem Schaden steuern soll, darum will der Apostel, dass wir uns freiwillig und gern ihrem Regiment unterwerfen sollen: denn das frommt dem menschlichen Geschlecht.
V. 2. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt usw. Weil jeder Widerstand gegen Gott zu unserm Verderben ausschlagen muss, so droht der Apostel, dass auch der nicht ungestraft bleiben wird, welcher in diesem Stück der Vorsehung Gottes widerstrebt. Wir sollen uns also hüten, dass diese Drohung nicht uns treffe! Bei dem Urteil, welches den Widerspenstigen ereilen soll, haben wir nicht bloß an die Strafen zu denken, welche freilich auch die Obrigkeit selbst verhängt, sondern vor allem daran, dass Gott zu seiner Zeit sein Gericht wird ergehen lassen. Der Apostel weist darauf hin, was derer wartet, welche den Kampf mit Gott aufnehmen.
3 Denn die Gewaltigen sind nicht den guten Werken, sondern den bösen zu fürchten. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, so wirst du Lob von ihr haben. 4 Denn sie ist Gottes Dienerin dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut.
V. 3. Denn die Gewaltigen usw. Jetzt empfiehlt uns der Apostel den Gehorsam gegen die Obrigkeit noch besonders um seines Nutzens willen. Dieser besteht darin, dass nach Gottes Absicht bei einem geordneten Zustand für die Ruhe der Wohlgesinnten am besten gesorgt ist und der Übermut der Bösen am sichersten gezügelt wird. Und dies beides ist nötig, wenn das Menschengeschlecht seinen unversehrten Bestand behalten soll. Denn wenn man kein Mittel gegen die Wut schlechter Menschen in Händen hat, und die Unschuldigen von deren Launen abhängig sein sollen, so wird das Ganze ein böses Ende nehmen. Haben wir also hier das einzige Mittel, das Menschengeschlecht vor dem Untergang zu bewahren, so müssen wir es wohl in Acht nehmen, wenn wir nicht als offene Feinde der Menschheit dastehen wollen. Sagt der Apostel aber weiter: Willst du dich aber nicht fürchten, so tue Gutes -, so entnehmen wir daraus, dass für einen gutgesinnten Menschen gar kein Grund vorhanden ist, eine Abneigung gegen die Obrigkeit zu hegen. Es ist nur das stumme Zeugnis eines bösen Gewissens und unsaubere Absichten, wenn jemand dieses Joch durchaus abschütteln möchte. Im Übrigen ist hier von der wahren und im Wesen der Sache liegenden Pflicht der Obrigkeit die Rede, von welcher freilich die Inhaber des Regiments nicht selten abweichen. Trotzdem gebührt auch solchen der Gehorsam, auf welchen jede Regierung Anspruch besitzt. Ist ein böser Herrscher eine Geißel Gottes, mit welcher das Volk für seine Sünden gestraft werden soll, so müssen wir es ja wohl verdient haben, wenn sich in Fluch verwandelt, was an sich ein unermesslicher Segen Gottes ist. Wir wollen also nie ablassen, Gottes gute Ordnung in Ehren zu halten; und dies wird uns leicht werden, wenn wir nur uns selbst zuschreiben, was etwa daran mangelhaft ist. Paulus lehrt uns also hier, zu welchem Zweck Gott die Obrigkeit eingesetzt hat; die heilsame Wirkung wäre stets vorhanden, wenn wir nicht durch unsere Schuld eine so herrliche und heilsame Einrichtung verdürben. Übrigens missbraucht kaum je ein Herrscher seine Macht derartig, dass er bloß gute und unschuldige Menschen drangsalierte, und dass nicht wenigstens eine Spur von gerechtem Regiment bestehen bliebe. Es könnte ja auch eine Gewaltherrschaft sich keinen Augenblick aufrechterhalten, wenn sie nicht wenigstens in etwa zum Schutze der menschlichen Gesellschaft diente.
V. 4. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Hier kann auch die Obrigkeit lernen, wozu sie berufen ist. Sie besitzt die Gewalt nicht um ihretwillen, sondern für das gemeine Wohl. Sie hat auch keine unumschränkte Macht empfangen, sondern nur soviel, als das Wohl der Untertanen erfordert. Ihre Herrschaft ist ein Dienst Gottes und der Menschen. Weil Gott die Obrigkeit eingesetzt hat und sie seine Stelle vertritt, ist sie ihm Rechenschaft schuldig. Weiter soll der Dienst der Obrigkeit den Untertanen zugute kommen: darum hat sie auch ihre Pflichten gegen diese. Wir Privatleute empfangen dabei die Erinnerung, dass es eine Gabe der Güte Gottes ist, wenn uns die Herrscher mit ihrem Schwert wider die Angriffe verbrecherischer Menschen verteidigen.
Sie trägt das Schwert nicht umsonst. Das ist die Kehrseite der obrigkeitlichen Pflicht: wer sich nicht freiwillig durch die Gesetze regieren lässt, dessen böse Unbotmäßigkeit soll die Obrigkeit mit Gewalt bezwingen. Und sie soll über Freveltaten die Strafe verhängen, welche Gottes Rechtsordnung erheischt. Denn sie trägt das Schwert nicht zum leeren Schein, sondern um die Missetäter zu schlagen. Sie ist eine Rächerin zur Strafe, d. h. dasjenige Organ, welches die von Gott verhängte Strafe vollzieht. Zum Beweise dessen dient eben das Schwert, welches Gott in ihre Hand gelegt hat. Unsere Stelle ist besonders wertvoll, um das Recht des Schwertes zu erhärten. Denn wenn der Herr den Obrigkeiten das Schwert eben dazu gegeben hat, damit sie es gebrauchen, so ist jeder Vollzug einer gerechten Todesstrafe nur der Vollzug der Vergeltung, welche Gott befohlen hat. Wer es also für Unrecht erklärt, das Blut eines Verbrechers zu vergießen, der streitet wider Gottes Ordnung.
5 Darum ist´ s not, untertan zu sein, nicht allein um der Strafe willen, sondern auch um des Gewissens willen. 6 Derhalben müsst ihr auch Schoß geben; denn sie sind Gottes Diener, die solchen Schutz sollen handhaben. 7 So gebet nun jedermann, was ihr schuldig seid: Schoß, dem der Schoß gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.
V. 5. Darum ist´ s not, untertan zu sein. Was der Apostel bisher über den Gehorsam gegen die Obrigkeit ausgeführt hat, fasst er rückblickend noch einmal zusammen, doch mit dem Zusatz, dass wir uns nicht bloß um der menschlichen Notwendigkeit willen unterwerfen müssen, sondern auch deshalb, weil es sich dabei um Gehorsam gegen Gott handelt.
8 Seid niemand nichts schuldig, als dass ihr euch untereinander liebet; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist: „Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; dich soll nichts gelüsten“; und so ein anderes Gebot mehr ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
V. 8. Seid niemand nichts schuldig usw. Die zuvor gegebene Vorschrift bezüglich der Gewalt der Obrigkeit bringt nun Paulus in den Zusammenhang mit dem Gesetz der Liebe und verleiht ihr damit erst die entscheidende Stütze. Er will sagen: wenn ich verlange, dass ihr den Herrschern gehorchen sollt, so fordere ich nur, was vermöge des Gesetzes der Liebe jeder Gläubige zu leisten schuldig ist. Denn wenn ihr den Guten eine Wohltat erweisen wollt (und dies nicht zu wollen wäre ja unmenschlich), so müsst ihr mithelfen, dass Gesetz und Recht Bestand behalten, dass die Hüter der Gesetze ein gehorsames Volk haben. Denn nur auf diese Weise wird jedermann den Frieden genießen. Wer Ungehorsam und Anarchie fördert, aus welcher doch alsbald der allgemeine Umsturz folgen muss, verletzt das Gebot der Liebe.
Denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Paulus will alle Einzelgebote auf das Grundgebot der Liebe zurückführen. Wir sollen wissen, dass wir nur dann die Gebote in Wahrheit halten, wenn wir in der Liebe bleiben. So darf uns keine Last zu schwer werden, welche dazu dient, die Liebe zu bewahren. Dass Paulus hier sagt, der erfülle das Gesetz, der den andern liebe, das bereitete manchen Leuten eine schier unlösbare Schwierigkeit. Sie wenden ein, unter solchen Umständen werde ja die Verehrung Gottes, die man doch durchaus nicht auslassen dürfe, beiseite geschoben. Aber Paulus denkt ja hier gar nicht an das ganze Gesetz, sondern redet von den Pflichten, die uns das Gesetz dem Nächsten gegenüber auferlegt. Und da ist es wirklich wahr: das ganze Gesetz wird erfüllt, wenn wir unsern Nächsten lieben; denn die wahre Liebe zum Nächsten fließt ja allein aus der Liebe zu Gott und ist deren Bezeugung und Wirkung zugleich. Indessen denkt hier Paulus nur an die zweite Tafel des Gesetzes. Er will sagen: Wenn einer seinen Nächsten liebt wie sich selbst, so hat er damit gegen die ganze Welt seine Pflicht getan. Aus diesen Worten des Paulus einen Ansatzpunkt für die Werkgerechtigkeit zu machen, ist aber Phantasterei. Denn Paulus redet nicht von dem, was der Mensch tun oder lassen soll, sondern er spricht ja eine Bedingung aus, die nirgendwo erfüllt wird! Wenn wir dagegen sagen, dass der Mensch nicht durch Werke gerechtfertigt wird, so leugnen wir damit keineswegs, dass die Beobachtung des Gesetzes Gerechtigkeit ist. Aber eben diese Beobachtung des Gesetzes leistet ja kein Mensch -, und deshalb sind wir alle von der Gerechtigkeit ausgeschlossen und können allein in Christus eine Zuflucht finden.
V. 9. Denn was da gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen usw. Diese ganze Aufzählung will die Gebote der zweiten Tafel weder erschöpfen noch sich gerade an dieselben binden. Denn sie schließt mit der allgemeinen Wendung: und so ein anderes Gebot mehr ist. Trotzdem muss es verwunderlich erscheinen, dass gerade das eine Gebot fehlt, welches am meisten zur Sache zu gehören schien: du sollst deinen Vater und deine Mutter (also auch die Obrigkeit) ehren. Vielleicht hat Paulus es eben darum ausgelassen, um den Fortschritt seines Beweisganges nicht zu stören. Gerade ein Blick auf die übrigen Gebote der zweiten Tafel soll zeigen, dass das gesamte Gesetz auf gegenseitige Übung der Liebe zielt. Den eigentlichen Schluss des Beweises muss dann ein verständiger Leser für sich ergänzen, dass also eine der wesentlichsten Aufgaben, um Frieden und brüderliche Liebe zu bewahren, der Gehorsam gegen die Obrigkeit ist.
V. 10. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Ein Hinweis auf das, was die Liebe leistet, zeigt nunmehr, dass sie alle andern Gebote unter sich begreift. Denn wessen Herz von Liebe erfüllt ist, dem wird es nie in den Sinn kommen, seinen Brüdern Schaden zu tun. Und worauf anders zielen alle Verbote des Gesetzes, als darauf, dass wir dem Nächsten nichts Böses zufügen sollen? Doch gilt es nun, diesen Gedanken in den gegenwärtigen Zusammenhang einzufügen. Ist die Obrigkeit die Hüterin des Friedens und des Rechtes, so wird ein Christ, der jedem das Seine gönnt und möchte, dass keinem Menschen ein Unrecht geschieht, die staatliche Ordnung aufrechterhalten helfen, soviel an ihm ist. Wer aber seiner Begehrlichkeit den Zügel schießen lassen möchte, der wird zu den Feinden der öffentlichen Ordnung zu rechnen sein. Wenn der Apostel zum Schluss wiederholt: So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung -, so müssen wir wiederum bedenken, dass dies von dem Teil des Gesetzes gilt, welcher sich mit dem Verhältnis der Menschen zueinander beschäftigt. Von der ersten Tafel des Gesetzes, welche von der Verehrung Gottes handelt, ist hier überhaupt nicht die Rede.
11 Und weil wir solches wissen, nämlich die Zeit, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf (sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wir gläubig wurden; 12 die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen): so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichtes. 13 Lasset uns ehrbar wandeln als am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid; 14 sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus und wartet des Leibes, doch also, dass er nicht geil werde.
V. 11. Nunmehr geht die Rede zu einer anderweitigen Ermahnung über. Da uns gleichsam die Morgenröte eines himmlischen Lebens aufgegangen ist, so müssen wir uns halten wie Leute, die mitten am Tage und unter den Augen der Menschen wandeln. In solcher Lage hütet man sich, etwas Gemeines und Unehrenhaftes zu tun. Denn für jeden Fehltritt stehen nur zu viele Zeugen bereit. Wie viel mehr müssen wir alles schändliche Wesen scheuen, die wir vor den Augen Gottes und seiner Engel stehen, und die Christus, die wahre Sonne der Gerechtigkeit, berufen hat, ihn zu schauen. Unsere Worte besagen also: da wir wissen, dass es schon Zeit ist, vom Schlafe aufzuwachen, so lasset uns wegwerfen, was noch der Nacht gehört! Lasset uns die Werke der Finsternis abschütteln, denn die Finsternis ist bereits vergangen! Lasset uns eifrig mit den Werken des Lichts umgehen und wandeln, wie es am Tage sich ziemt! Um den Zusammenhang der Sätze richtig zu fassen, wird man gut tun, den Zwischensatz in Klammern geschlossen zu denken. Und da wir es mit einem Gleichnis zu tun haben, wird es nützlich sein, die einzelnen Stücke auszudeuten. Nacht ist die Zeit, da man Gott noch nicht kennt und im Schlaf des Irrtums dahinwandelt. Denn die Ungläubigen leiden an einem doppelten Übel: sie sind blind und stumpf. Diese Stumpfheit wird unter dem Bilde des Schlafes dargestellt, von dem man ja sagt, dass er das Bild des Todes ist. Licht ist die Offenbarung der göttlichen Wahrheit, in welcher uns Christus als die Sonne der Gerechtigkeit aufgeht. Aufstehen heißt: sich gürten und rüsten, um auszurichten, was der Herr von uns haben will. Werke der Finsternis sind verbrecherische und schamlose Werke. Denn man sagt: Die Nacht kennt keine Scham. Waffen des Lichts sind ehrbare, nüchterne und züchtige Taten, wie man sie gern am Tage sehen lässt. Dabei heißt es nicht „Werke“, sondern „Waffen“, weil man mit solchen Taten die Kriege des Herrn führt. Zu Beginn dieses ganzen neuen Absatzes sagt der Apostel den Gläubigen, dass wir solches wissen, nämlich die Zeit, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ein neues Leben mit neuen Sitten zu beginnen. Denn Gott hat uns berufen, und der Tag seiner gnädigen Heimsuchung ist da.
Sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wir gläubig wurden. Es ist näher gekommen, als es uns zu jenem Zeitpunkt war, da wir zuerst den Glauben annahmen, wie dies besonders die Fortsetzung deutlich macht (V. 12): Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. Jetzt ist also jener Zeitpunkt, da es gilt, Gutes zu tun. Stehen die Gläubigen auch noch nicht im vollen Lichte, so vergleicht doch der Apostel mit Recht die Erkenntnis des ewigen Lebens, welche uns aus dem Evangelium anstrahlt, mit der Morgenröte. Denn freilich bedeutet hier „der Tag“ nicht wie in andern Stellen das Licht des Glaubens: sonst hätte es ja nicht heißen dürfen, dass er nahe herbeigekommen, sondern dass er längst aufgegangen sei und auf seiner Höhe stehe. Der aufgehende Tag ist vielmehr der selige Glanz des ewigen Lebens, dessen Anfang wir bereits im Evangelium schauen. So ergibt sich als Hauptgehalt des Gedankens: sobald nur der erste Ruf Gottes an unser Ohr dringt und der erste Strahl des Lichtes uns darauf schließen lässt, dass bald das volle Licht der Sonne aufsteigen wird, müssen wir uns auf Christi Ankunft rüsten. Für uns ist also die Nacht vorgerückt, weil wir nicht mehr in der dichten Finsternis sitzen wie die Ungläubigen, welchen kein Fünkchen von Leben leuchtet, während uns das Evangelium die Auferstehungshoffnung vor Augen stellt. Also muss das Licht des Glaubens, welches die Nähe des vollen himmlischen Glanzes uns ankündigt, unsere Seele aufwecken, dass wir nicht in irdischer Stumpfheit verharren. Wenig später gebraucht der Apostel übrigens das gleiche Bild in etwas anderer Wendung (V. 13): Lasset uns ehrbar wandeln als am Tage. Jetzt bezeichnet „Tag“ den gegenwärtigen Lebensstand, da Christi Licht uns leuchtet. Der Apostel mahnt uns das eine Mal, unsere Gedanken zum ewigen Leben emporzuheben, dann wieder, Gott, wie er sich uns jetzt zeigt, voller Ehrfurcht anzuschauen.
V. 13. Nicht in Fressen usw. Drei Gruppen von Lastern werden je mit einem doppelten Wort beschrieben: unmäßiges und üppiges Leben, Fleischeslust und aller Schmutz, der damit zusammenhängt, endlich neidisches und zänkisches Wesen. Sind alle diese Dinge so schmählich, dass auch fleischliche Menschen sich schämen, sich vor Menschenaugen damit behaftet zu zeigen, so müssen sie uns, die wir im Lichte Gottes wandeln, völlig fern liegen, auch wenn kein Menschenauge uns beobachtet. In der dritten Gruppe steht zwar der Hader vor dem Neid: trotzdem wird Paulus daran erinnern wollen, dass aus dieser letzten Quelle Kampf und Streit entspringt. Legt es jemand darauf an, mehr zu sein als der andere, so stellt sich der Neid ein. Der tiefste Grund dieses doppelten Übels ist also streberischer Ehrgeiz.
V. 14. Sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus. Dieses Bild ist der Schrift sehr geläufig, wenn von Dingen die Rede ist, welche den Menschen sei es schmücken, sei es verunstalten: beides können ja Gewänder, die man anzieht, zustande bringen. Denn ein schmutziges und zerrissenes Kleid lässt den Menschen hässlich erscheinen, dagegen verleiht ein edles und sauberes Gewand ihm Wohlgestalt. „Christus anziehen“ bedeutet hier nur: mit der Kraft seines Geistes derartig umgeben werden, dass eine Bereitschaft zur Heiligkeit nach jeder Richtung entsteht. So wird Gottes Bild, der schönste Schmuck unserer Seele, in uns erneuert. Der Blick des Paulus richtet sich nämlich auf den Zweck unserer Berufung: als uns Gott zu seinen Kindern annahm, hat er uns in den Leib seines eingeborenen Sohnes eingefügt, damit wir dem alten Leben absagen und in ihm neue Menschen werden möchten. In demselben Sinne heißt es auch (Gal. 3, 27): „Wie viele euer getauft sind, die haben Christus angezogen.“
Und wartet des Leibes usw. Solange wir unser Fleisch noch an uns tragen, können wir die Sorge für dasselbe nicht gänzlich abschütteln. Denn wenn auch unser Wandel im Himmel ist (Phil. 3, 20), so wallen wir doch auch noch auf Erden. Man muss also die Anliegen des Leibes freilich befriedigen, aber nur so, wie man auf der Reise für alles Nötige sorgt und doch des Vaterlandes nicht vergisst. Auch Weltweise haben es ausgesprochen, dass die Natur mit wenigem zufrieden ist, dass aber der Menschen Wünsche alles erfüllbare Maß übersteigen. Wer also den Ansprüchen seines Fleisches Genüge leisten will, dessen Wesen wird nicht bloß völlig zerfließen, sondern geradezu in einen bodenlosen Abgrund versinken. Paulus aber will den Begierden des Fleisches einen Zügel anlegen. Denn er ist der Ansicht, dass alle sündliche Üppigkeit daher kommt, dass man das rechte und nüchterne Maß überschreitet. Darum setzt er eine Grenze: die Bedürfnisse unseres Fleisches sollen wir befriedigen, aber der Begierde nicht nachgeben. So wird das Ergebnis sein, dass wir diese Welt brauchen, als brauchten wir sie nicht.
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Johannes Calvin
1 Den Schwachen im Glauben nehmet auf und verwirret die Gewissen nicht. 2 Einer glaubt, er möge allerlei essen; welcher aber schwach ist, der isst Kraut. 3 Welcher isst, der verachte den nicht, der da nicht isst; und welcher nicht isst, der richte den nicht, der da isst; denn Gott hat ihn aufgenommen. 4 Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem Herrn. Er mag aber wohl aufgerichtet werden; denn Gott kann ihn wohl aufrichten.
V. 1. Den Schwachen im Glauben usw. Jetzt wendet sich die Rede zu Ausführungen, die mit der Regelung des ganzen Gemeindelebens sehr nahe zusammenhängen. Die in der christlichen Erkenntnis schon weiter Vorgeschrittenen sollen auf die, noch Unreiferen, Rücksicht nehmen und sollen ihre Kraft dazu verwenden, die Schwachheit der andern zu stützen. Denn im Volke Gottes gibt es stets auch schwächere Glieder, welche man mit großer Geduld und Sanftmut tragen muss, wenn sie nicht verschüchtert und schließlich vielleicht dem Glauben entfremdet werden sollen. Wahrscheinlich war dies im apostolischen Zeitalter ganz besonders der Fall. Denn die Gemeinden waren aus Juden und Heiden gemischt. Die ersteren waren seit langen Zeiten gewöhnt, das Gesetz Moses mit allen Äußerlichkeiten zu beobachten: und was sie mit der Muttermilch eingesogen hatten, gaben sie nicht leicht preis. Die andern, welchen derartige Gewöhnungen fremd waren, wollten sich unter solches Joch nicht beugen. Da nun aber nach gemeiner Menschenart aus Meinungsverschiedenheiten leicht Streitigkeiten und Kämpfe hervorgehen, so zeigt der Apostel, wie beide Teile trotz verschiedener Ansichten ohne Zwiespalt miteinander leben können. Er weist uns den besten Weg: die Stärkeren sollen sich Mühe geben, den Schwachen zu helfen; die Fortgeschritteneren sollen die Unreiferen tragen. Denn wenn Gott uns vor Andern Kraft verleiht, so tut er es nicht, damit wir die Schwachen erdrücken. Und christliche Weisheit ist es nicht, sich übermäßig groß zu dünken und die andern zu verachten. Unter dem Gesichtspunkte wendet sich also die Rede an die Erfahreneren und Fortgeschritteneren, weil jemand, der vom Herrn ein größere Gnadengabe empfangen hat, umso mehr verpflichtet ist, dem Nächsten zurecht zu helfen.
Und verwirret die Gewissen nicht. So etwa werden wir den Satz umschreiben dürfen, dessen Worte eigentlich, allerdings abgerissener, lauten: den Schwachen im Glauben nehmet auf, „nicht zur Erregung von Zweifeln durch unzeitige Fragen.“ Paulus will sagen: wenn wir uns des Schwachen annehmen, soll unser Verfahren ihn nicht durch unangebrachte Spitzfindigkeiten quälen und in Zweifel stürzen. Sicherlich war es nicht richtig, wenn viele Christen jüdischer Herkunft noch gar zu zähe an ihren gesetzlichen Formen hingen. Aber der Apostel will, dass man ihnen Zeit lassen soll. Ein übermäßiges Drängen würde nur ihren Glauben wankend machen. Die noch ungefestigten Gewissen werden verwirrt und in Zweifel gestürzt, wenn man spitzfindige und undurchsichtige Fragen anrührt, welche die Erbauung nicht fördern. Es gilt überall darauf zu achten, für welche Fragen in jedem Falle Reife und Verständnis vorhanden ist, und die Lehrweise soll sich diesem Stande der Erkenntnis anpassen.
V. 3. Welcher isst, der verachte den nicht usw. Voller Weisheit und Absicht begegnet der Apostel den Fehlern auf beiden Seiten. Die Gefestigten, die sich ohne Anstoß ihres Gewissens freier bewegen, fallen nur zu leicht in die Unart, dass sie die andern, die sich noch mit nichtigen Dingen Skrupel machen, als abergläubische Kinder verachten und verspotten. Diese wieder lassen sich vorschnell zu Verdammungsurteilen hinreißen und verdammen, was ihnen zu hoch ist. Was von ihrer eignen Meinung abweicht, halten sie für verwerflich. So warnt Paulus die einen vor hochfahrender Verachtung, die andern vor gar zu engherziger Peinlichkeit. Der Grund, welcher diese ganze Mahnung stützt, will nun auf beide Glieder bezogen sein, wie er ja auch für jedes Glied der beiden Gruppen zutrifft: denn Gott hat ihn aufgenommen. Besitzt ein Mensch das Licht der Erkenntnis Gottes, so ist dies Zeugnis genug, dass Gott ihn angenommen hat. Wer aber einen solchen verachtet oder verurteilt, der verwirft einen Menschen, welchen Gottes hält.
V. 4. Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Wer unter Menschen eines andern Knecht nach seinem Willen regieren und unter seine Botmäßigkeit zwingen wollte, würde damit nicht bloß unpassend, sondern anmaßend handeln. So nimmst du dir auch zuviel Recht, wenn du an einem Knechte Gottes verurteilst, was dir nicht gefällt. Dir kommt es nicht zu, anzuordnen, was er tun und lassen soll. Und er braucht sich nach deiner Regel nicht zu richten. Soll uns nun das Recht zu urteilen abgesprochen werden, so gilt dies für die Person wie für ihre Taten. Doch besteht hier ein bedeutender Unterschied: den Menschen müssen wir in jedem Falle dem Urteil Gottes überlassen, er mag sein wie er will. Über seine Taten dürfen wir nicht nach unserm eignen Maß urteilen, sondern nach Gottes Wort. Ein Urteil aber, welches diesem Worte entnommen ist, darf weder als menschlich noch als unsachgemäß gelten. Paulus will uns also jegliche Überhebung und Zudringlichkeit im Urteil wehren, deren sich schuldig macht, wer ohne Gottes Wort über die Taten der Menschen abzusprechen unternimmt.
Er steht oder fällt seinem Herrn. Paulus will sagen: zu billigen oder zu verwerfen, was der Knecht tut, steht allein seinem Herrn zu. Diesen Herrn beleidigt, wer das Urteil sich anmaßt. Wenn aber der Apostel hinzufügt: er mag aber wohl aufgerichtet werden, so soll uns dies nicht bloß von einem Verdammungsurteil abhalten, sondern überhaupt zur Milde und menschlichen Nachsicht anleiten; solange wir an einem Menschen noch irgendetwas von Gott sehen, dürfen wir die Hoffnung für ihn nicht aufgeben. Denn der Herr gibt die Zusage, dass er den zu völliger Kraft und Vollkommenheit führen will, in welchem er sein Gnadenwerk angefangen hat. Danach sollen wir unser Urteil einrichten, und wir werden es tun, wenn anders die Liebe in uns lebendig ist.
5 Einer hält einen Tag vor dem andern; der andere aber hält alle Tage gleich. Ein jeglicher sei in seiner Meinung gewiss. 6 Welcher auf die Tage hält, der tut´ s dem Herrn; und welcher nichts darauf hält, der tut´ s dem Herrn. Welcher isst, der isst dem Herrn, denn er dankt Gott; welcher nicht isst, der isst dem Herrn nicht und dankt Gott.
V. 5. Einer hält einen Tag usw. Was soeben von einer religiösen Scheu in der Auswahl der Speisen die Rede, so folgt nunmehr ein gleichartiges Beispiel von der Tagewählerei. Beide Stücke stammten aus dem Judentum. Macht Gottes Gesetz einen Unterschied zwischen reinen und unreinen Speisen und verbietet den Genuss der letzteren, bezeichnete das Gesetz besondere Festtage und schärfte deren Feier ein, so waren den Juden solche Lehren von Jugend auf in Fleisch und Blut übergegangen, und sie konnten die religiöse Ehrfurcht vor besonderen Feiertagen, die ihnen geläufig war und an welche sie sich lebenslang gewöhnt hatten, nicht abschütteln; sie wagten nicht, Speisen anzurühren, vor denen sie nun einmal einen Abscheu besaßen. Dass sie an solche Meinungen sich klammerten, war ein Zeichen von Schwachheit: denn wenn sie die Bedeutung der christlichen Freiheit fest und klar ergriffen hätten, hätten sie anders denken müssen. Dass sie aber sich von Dingen enthielten, die ihnen unerlaubt dünkten, war ein Zeichen von frommer Gewissenhaftigkeit: denn nur freche und gegen die Wahrheit gleichgültige Menschen können etwas wider das Gewissen tun. Der Apostel verfährt also nur mit der durchaus nötigen Besonnenheit, wenn er die Anweisung gibt: ein jeglicher sei in seiner Meinung gewiss. Ein Christ, der wahren Eifer und Gehorsam beweisen will, darf ja unter keinen Umständen etwas tun, wovon er nicht glaubt oder vielmehr gewiss ist, dass es Gott gefällt. Als oberste Lebensregel hat unbedingt zu gelten, dass wir Menschen von Gottes Wink abhängen und keinen Finger regen dürfen, solange die Seele noch in Zweifel und Unruhe steht. Denn der Vorwitz, der auch nur einen Schritt weiter zu gehen wagt, als er fühlt, dass ihm erlaubt ist, wird sich alsbald zu frecher Auflehnung auswachsen. Sollte demgegenüber jemand sagen, dass der Irrtum stets eine gewisse Verworrenheit an sich trage und deshalb in schwachen Gemütern nie die von Paulus geforderte Sicherheit erzeugen könne -, so diene zur Antwort: für solche Fälle liegt Gottes Verzeihung bereit, wenn die Schwachen sich nur innerhalb ihres beschränkten Kreises halten. Paulus will die maßlose „Freiheit“ hintanhalten, in welcher nur zu viele Christen sich aufs Geratewohl und ohne Überlegung in zweifelhafte Dinge stürzen. Der Apostel fordert ein solches Besinnen, welches über alle unsere Taten den Willen Gottes entscheiden lässt.
V. 6. Welcher auf die Tage hält, der tut´ s dem Herrn. Da Paulus keinen Zweifel darüber lässt, dass die Tagewählerei aus mangelhafter Erkenntnis Christi entspringt, so kann er unmöglich solchen Irrtum rückhaltlos verteidigen wollen. Immerhin klingen seine Worte so, als täte der Tagewähler kein Unrecht. Denn dem Herrn kann doch nur gefallen, was gut und recht ist. Um den Sinn des Apostels richtig zu verstehen, gilt es also zu scheiden zwischen der Meinung, die jemand fasst, als müsse er gewisse Tage beobachten, und zwischen der Beobachtung selbst, an welche er sich bindet. Die Meinung ist abergläubisch; dies bestreitet Paulus nicht, denn er verurteilt sie als Ausfluss der Schwachheit (V. 1) und wird sie alsbald noch deutlicher verurteilen (14, 20; 15, 1). Dass aber ein Mensch, der nun einmal in solchem Aberglauben gefangen ist, die Heiligkeit seines heiligen Tages nicht zu verletzen, also nichts mit zweifelndem Gewissen zu unternehmen wagt, gefällt dem Herrn. Denn was soll ein Jude tun, der innerlich noch nicht so weit vorgeschritten ist, dass er von dem Glauben an die besondere Heiligkeit bestimmter Tage los wäre? Er hat ein Wort des Herrn, welches ihm befiehlt, Feiertage zu halten. Das Gesetz zwingt ihn dazu: dass es überwunden ist, ist ihm noch nicht klar. Er kann also nichts tun, als eine völligere Offenbarung abwarten und sich bis dahin in den Schranken dessen halten, was er versteht. Die Wohltat der Freiheit darf er nicht früher genießen als sie sein Glaube wirklich ergriffen hat. Das gleiche Urteil gilt auch, wenn jemand unreine Speisen nicht anzurühren wagt. Würde er in seiner inneren Unsicherheit sich zum Essen entschließen, so hieße dies nicht eine Wohltat aus Gottes Händen nehmen, sondern nach verbotenen Dingen die Hand ausstrecken. Andere Dinge mag er sich erlauben, die er für erlaubt hält: er soll dabei dem Maß seiner Einsicht folgen. So wird er dem Herrn Dank sagen, was er nicht könnte, wenn er nicht überzeugt wäre, eine Wohltat Gottes empfangen zu haben. Also soll man ihn nicht verachten, als wäre seine Zurückhaltung und fromme Scheu eine Beleidigung für Gott. Besonders beachtenswert erscheint, dass der Apostel zweimal sagt: er dankt Gott. Wer dies vermag, dessen Tun ist ein Gottesdienst, mag er nun essen oder sich enthalten. Wo man aber dem Herrn nicht Dank sagt, da ist jeder Genuss unrein, und wenn man sich den Genuss versagt, so ist´ s auch unrein. Allein Gottes Name macht alle unsere Sachen heilig, wenn wir ihn anrufen.
7 Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. 8 Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. 9 Denn dazu ist Christus auch gestorben und auferstanden und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebendige Herr sei.
V. 7. Denn unser keiner usw. Jetzt folgt der entscheidende Beweis dafür, dass wir bei jedem einzelnen Schritt das Auge auf den Herrn gerichtet halten müssen: es kann ja nicht anders sein, wenn doch das ganze Leben zu Gottes Ehre dienen soll. Ein Christenleben ist erst dann im rechten Stande, wenn es den Willen Gottes zum Ziel nimmt. Soll ich bei allen meinen Taten nach Gottes Willen fragen, so wäre es ja ein Unrecht, irgendetwas zu tun, wovon ich glaubte, dass es ihm missfällt, oder vielmehr wovon ich nicht überzeugt wäre, dass es ihm gefällt. Dem Herrn leben heißt, für seinen Willen und Wink bereitstehen und alles, was wir sind und haben, seiner Ehre zur Verfügung stellen. Wir sollen aber dem Herrn nicht bloß leben, sondern auch sterben. D. h. sowohl unser Leben als unser Sterben sollen wir in seine Hand geben. So sollen wir tun: denn wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. So steht bei ihm die Verfügung über unser Leben und unsern Tod. Das ist eine Lehre, die wir für alle Lebensführungen äußerst nutzbar machen können. Lassen wir Gott die Herrschaft über Leben und Tod, so werden wir jede Lage erträglich finden: denn Gott hat uns das Joch auferlegt; ihm steht es zu, einem jeden zu befehlen, wann er ruhen und wann er den Lauf fortsetzen soll. So empfangen wir hier nicht bloß das Verbot, irgendetwas ohne Gottes Willen eigenmächtig anzugreifen, sondern auch Weisung zur Geduld in allen Beschwerden und Unbequemlichkeiten. Will das Fleisch in Widerwärtigkeiten seine eignen Wege gehen, so sollen wir gedenken, dass wir nicht frei sind und uns nicht selbst gehören, dass wir also Recht und Ordnung auf den Kopf stellen, wenn wir nicht auf Gottes Winke warten. Hier wird uns auch die Regel für Leben und Sterben aufgestellt: will Gott unser Leben unter vielen Mühen und Lasten in die Länge dehnen, so sollen wir nicht begehren, vor der Zeit abzuscheiden. Will er uns plötzlich in der Blüte unseres Lebens abrufen, so sollen wir stets zum Abschied bereit sein.
V. 9. Denn dazu ist Christus auch gestorben usw. Hatte der Apostel bisher dargelegt, dass wir im Leben und Sterben in des Herrn Gewalt stehen und also ihm leben und sterben müssen, so fügt er nun hinzu, wie wir in diese Gewalt gekommen sind: Christus hat uns um teuren Preis zum Eigentum erworben. Er hat zu unserm Heil den Tod erlitten und damit Untertanen gewonnen, die ihm auch der Tod nicht entreißen kann. Er ist auferstanden und hat damit die Herrschaft über unser ganzes Leben angetreten. Auf Christi Tod und Auferstehung gründet es sich also, dass wir im Leben und im Sterben dem Ruhme seines Namens dienen müssen.
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder, du anderer, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Christi dargestellt werden; 11 denn es steht geschrieben: „So wahr als ich lebe, spricht der Herr, mir sollen alle Kniee gebeugt werden, und alle Zungen sollen Gott bekennen.“ 12 So wird nun ein jeglicher für sich selbst Gott Rechenschaft geben. 13 Darum lasset uns nicht mehr einer den andern richten; sondern das richtet vielmehr, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis darstelle.
V. 10. Du aber usw. Gehört unser aller Leben und Tod dem Herrn Christus, so steht in dessen Hand auch das Gericht, welches ihm der Vater samt der Herrschaft über Himmel und Erde übertragen hat. Darum ist es eine unerlaubte Anmaßung, wenn jemand einem Bruder das Urteil sprechen will. Damit fällt er dem Herrn Christus in das Amt, welches ihm der Vater verliehen hat. Schon der bloße Name „Bruder“, welchen Paulus gebraucht, sollte uns die Lust zu richten austreiben. Hat uns Gott als Brüder nebeneinander gestellt, so darf niemand sich über den andern erheben. Wer die Stelle des Richters sich anmaßt, begeht ein schweres Unrecht. Vielmehr stellt uns der Apostel vor Gottes Gericht. Ihm wird niemand seine Macht entwinden, und seinem Spruch wird keiner entfliehen. Ein Christ, der die Freiheit des Gewissens seines Bruders vor sein persönliches Gericht ziehen will, handelt ebenso unsinnig, wie in irdischen Verhältnissen ein Angeklagter, der von der Anklagebank auf den Stuhl des Richters steigen wollte. Vgl. auch Jak. 4, 11.
V. 11. Denn es steht geschrieben (Jes. 45, 23): „So wahr als ich lebe“ usw. Diesen Prophetenspruch bringt der Apostel schwerlich bei, um zu beweisen, dass Christus die Welt richten werde. Dies stand unter allen Christen ohnedies fest. Vielmehr soll der Spruch, worauf auch sein Wortlaut deutet, uns daran erinnern, dass man jenem Gerichte mit tiefster Demut und Beugung entgegen gehen muss: es sollen alle Knie gebeugt werden. Allerdings zielt der ursprüngliche Sinn des Spruches nicht ohne weiteres auf das letzte Gericht, sondern im Allgemeinen darauf, dass Gottes herrliche Majestät, die zu den Zeiten des Propheten gewissermaßen in einen Winkel der Erde gebannt war, alle Völker überstrahlen sollte. Eine genauere Erwägung zeigt indessen, dass diese Weissagung auf Erden nie derartig erfüllt wird, dass die Hoffnung sich nicht noch auf eine spätere Zeit richten müsste. Jetzt herrscht der Herr in der Welt nur durch das Evangelium, und seiner Majestät gibt man nur dort die Ehre, wo der Glaube sie aus dem Worte erkennt. Gottes Wort hat aber auch seine heftigen Widersacher und Verächter. So ist es jetzt, und so wird es in alle Zukunft sein. So sehen wir, dass die Weissagung gegenwärtig erst im Anfange der Erfüllung steht. Völlig erfüllt wird sie erst am Tage der Auferstehung werden, wenn alle Feinde Christi zum Schemel seiner Füße gegeben sind. Damit dies geschehe, muss aber der Herr sein Gericht vollziehen: mit Recht deutet also der Apostel unsern Spruch auf dieses Gericht. Die Stelle ist übrigens auch für unsern Glauben an Christi ewige Gottheit bedeutsam. In dem Prophetenspruch redet ja Gott, und zwar der Gott, der verkündet hat, dass er seine Ehre keinem andern gibt (Jes. 42, 8; 48, 11). Wird nun aber in Christus erfüllt, was Gott in diesem Spruch von sich selbst aussagt, so wird ja klar, dass Gott in Christus erschienen ist. In der Tat ist die Weissagung damals zur Wahrheit geworden, als Christus vom ganzen Erdkreis sein Volk zu sammeln begann und zur Anbetung seines Namens wie zum Gehorsam gegen das Evangelium brachte. Darauf zielt Paulus (Phil. 2, 10), wenn er sagt: Gott hat Christus einen Namen gegeben, in welchem aller Kniee sich beugen sollen. Völlig erscheinen wird dies aber erst, wenn Christus kommt, zu richten die Lebendigen und die Toten, wie ihm denn der Vater alles Gericht im Himmel wie auf Erden verliehen hat. Übrigens weicht der Wortlaut des Paulus ein wenig von dem Prophetenspruch ab. Dort heißt es: mir sollen alle Zungen schwören. Paulus dagegen schreibt: alle Zungen sollen Gott bekennen. Sachlich bedeutet dies keinen Unterschied, da ja das Schwören bei Gottes Namen nur eine besondere Form ist, ihn zu bekennen. Der Apostel will einfach sagen, dass alle Menschen nicht bloß Gottes Namen anerkennen, sondern auch in Gehorsam bekennen werden, mit dem Munde und mit körperlicher Gebärde. Auf dies letztere deutet: alle Kniee sollen gebeugt werden.
V. 12. So wird nun ein jeglicher usw. Dieser Schluss ruft uns zur Demut und Unterwürfigkeit zurück. Eben damit gibt Paulus zu verstehen, dass wir einander nicht richten sollen (V. 13). Denn wie sollten wir uns die Stelle eines Richters anmaßen dürfen, die wir doch selbst unweigerlich im Gericht werden Rede stehen müssen! Der Doppelsinn des Wortes „richten“ gibt dabei Anlass zu einem feinen Wortspiel. Heißt es zuerst, dass keiner den andern „richten“ d. h. verdammen soll, so folgt des weiteren die Wendung, dass wir vielmehr alle unser „Richten“ (unsere Urteilskraft) darauf lenken sollen, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis darstelle. Darin steckt ein heftiger Tadel gegen jene Sittenrichter, die ihren ganzen Scharfsinn darauf richten, im Leben der Brüder irgendetwas zu finden, das sich zum Zerpflücken eignet. Ganz im Gegenteil sollte man sich davor mit allem Ernst zu hüten suchen: denn unser wegwerfendes Urteil wird nur zu oft dem Bruder Anstoß und Anlass, auch selbst sich zur Sünde hinreißen lassen.
14 Ich weiß und bin gewiss in dem Herrn Jesus, dass nichts gemein ist an sich selbst; nur dem, der es rechnet für gemein, dem ist´ s gemein. 15 So aber dein Bruder um deiner Speise willen betrübt wird, so wandelst du schon nicht nach der Liebe. Verderbe den nicht mit deiner Speise, um welches willen Christus gestorben ist. 16 Darum schaffet, dass euer Schatz nicht verlästert werde. 17 Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geiste. 18 Wer darin Christo dient, der ist Gott gefällig und den Menschen wert.
V. 14. Ich weiß usw. Gegen die bisherigen Ausführungen hätten vielleicht die in evangelischer Erkenntnis fortgeschrittenen Christen, welche keinen Unterschied mehr zwischen den Speisen machten, noch Einwürfe erheben können. Deshalb zeigt der Apostel zuerst, was von den Speisen an sich zu halten sei; dann fügt er hinzu, wie man sich durch die besondere Art ihres Gebrauchs versündigen könne. Er spricht den Grundsatz aus, dass ein gutes und reines Gewissen keine Speise für unrein zu achten braucht; nichts hindert uns, alles als rein zu gebrauchen -, als allein Unwissenheit und Irrtum. Glaubt jemand, eine Speise sei irgendwie unrein, so hat er die Freiheit verloren, sie zu genießen. Alsbald fügt der Apostel hinzu, dass wir gar nicht bloß an die Speisen denken sollen, sondern auch an die Brüder, unter deren Augen wir essen. Denn wir haben keine solche Freiheit, Gottes Wohltaten zu genießen, die nicht der Liebe unterworfen wäre. Paulus will also sagen: ich weiß, dass alle Speisen rein sind, darum magst du sie frei gebrauchen; ich will dein Gewissen keineswegs binden und etwa kurzweg sagen, dass du dieses und jenes überhaupt nicht anrühren darfst. Aber abgesehen von den Speisen verlange ich, dass du die Rücksicht auf deinen Nächsten nicht außer acht lässest. Gemein heißt hier alles Unheilige und Unreine, womit die Gottlosen sich unterschiedslos abgeben. Das steht im Gegensatz zu dem, was für den Gebrauch des gläubigen Volkes insbesondere als heilig erklärt ward. Paulus gibt der festen Überzeugung Ausdruck, dass alle Speisen rein sind. Damit fällt jeder Zweifel. Aber der Apostel fügt hinzu: in dem Herrn Jesus. Durch dessen Wohltat und Gnade ist es ja zustande gekommen, dass alle Kreaturen, auf denen sonst von Adam her der Fluch ruhte, unter Gottes Segen stehen. Zugleich soll aber diese Wendung die Freiheit, die Christus uns schenkt, der Knechtschaft des Gesetzes gegenüberstellen. So dürfen die Christen wissen, dass sie nicht an Dinge gebunden sind, von denen Christus sie befreit hat. Aber eben dieser Ausdruck bedeutet auch eine Einschränkung: er erinnert daran, dass nichts so rein in sich dasteht, dass es nicht durch ein verderbtes Gewissen verunreinigt würde. Allein der Glaube und ein frommer Sinn macht es, dass uns alles heilig wird. Die Ungläubigen aber stecken mit ihrer inneren Befleckung alles an, was sie nur anrühren (Tit. 1, 15).
V. 15. So aber dein Bruder um deiner Speise willen betrübt wird usw. Jetzt zeigt der Apostel, wie man an sich erlaubte Dinge nicht tun oder gebrauchen darf, wenn man dadurch dem Bruder einen Anstoß bereiten würde. Denn erstens wäre es gegen die Liebe, um eines so geringen Anlasses willen den Bruder zu kränken. Zweitens wird das teure Lösegeld des Blutes Christi um seine Frucht gebracht, wenn wir ein schwaches Gewissen verwunden. Auch für den schwächsten Bruder hat Christus sein Blut vergossen: wir dürfen ihm keinen inneren Schaden zufügen, bloß damit wir uns nichts zu versagen brauchen. Wie schmählich zeigt sich ein Mensch von seinen Begierden gefesselt, wenn ihm in dieser Weise die elende Speise lieber ist als Christus. Endlich (V. 16) sollen wir dafür sorgen, dass unser Schatz, d. h. die Freiheit, die uns Christus erworben hat, nicht verlästert werde. Das wird aber ohne Zweifel geschehen, wenn wir die Gaben Gottes am unrechten Platz missbrauchen. Alle diese Gründe sollen uns dazu bewegen, dass wir um unserer Freiheit willen nicht unüberlegte Anstöße schaffen.
V. 17. Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken. Also können wir recht wohl den Gebrauch unserer Freiheit einschränken, ohne ein wirkliches Gut zu verlieren. In solchen Dingen steht das Reich Gottes nicht. Was wirklich dazu dient, Gottes Reich zu gründen und zu fördern, soll freilich nicht unterbleiben, selbst wenn alle Menschen Anstoß daran nähmen. Aber wo Gottes Ehre, Christi Reich und der Glaube keinen Schaden davon hat, sollen wir nachgeben und um der Liebe willen auf manches verzichten. Es ist unrecht, um geringfügiger Sachen willen die Gemeinde in Unruhe zu versetzen. Die gleichen Gründe führt der Apostel auch im 1. Korintherbrief an (6, 13; 8, 8): „Die Speise dem Bauche und der Bauch der Speise; aber Gott wird diesen und jene zunichte machen.“ „Essen wir, so werden wir darum nicht besser sein.“ Mit dem allen will der Apostel zeigen, dass Speise und Trank viel zu geringe Sachen sind, als dass um ihretwillen der Lauf des Evangeliums gehemmt werden dürfte.
Sondern Gerechtigkeit und Friede. Diese beiden Stücke stellt Paulus in Gegensatz zu Speise und Trank, nicht um darin alles zu begreifen, was Christi Königreich in sich birgt, sondern um anzuzeigen, dass Gottes Reich in geistlichen Gütern besteht. Und er Hauptinhalt wird hier allerdings beschrieben. Er steht darin, dass wir ein gutes Gewissen und Frieden mit Gott haben, durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt. Ein besseres Gut können wir nicht begehren. Dass aber der Apostel zum Frieden die Freude fügt, damit will er ausdrücken, dass allem Übermut und aller Stumpfheit der Ungläubigen zum Trotz ein heiteres und frohes Gewissen nur dort sich findet, wo man einen versöhnten und gnädigen Gott hat. Nur aus solchem Frieden mit Gott fließt wahre Freude. Das alles wirkt nun freilich nur der Heilige Geist. Indessen wird der Apostel hier mehr deshalb an denselben erinnern, um uns den Gegensatz dieses Geistesbesitzes gegen äußerliche Dinge empfinden zu lassen: verzichten wir auch auf erlaubte Genüsse, so wird uns doch ungeschmälert bleiben, was wirklich den Inhalt des göttlichen Reiches ausmacht.
V. 18. Wer darin Christus dient usw. Wer mit ruhigem, fröhlichem Gewissen Christus in Gerechtigkeit dient, der ist Gott und Menschen angenehm. Wo Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist ist, da sind ja alle Gaben des Reiches Gottes vorhanden. Es besteht also nicht in leiblichen Dingen. So ist also der Mensch Gott angenehm, der seinen Willen tut. Auch den Menschen wird ein solcher wert sein, weil sie ja anerkennen müssen, was sie mit Augen sehen. Tatsächlich ist es allerdings in der Welt oft anders: die Gottlosen schmähen die Frommen oft ohne Grund und verdrehen ihre guten Taten zum Bösen. Der Apostel denkt aber hier nur an ein richtiges Urteil, das sich von Missgunst, Hass und üblen Gedanken frei hält.
19 Darum lasset uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und was zur Besserung untereinander dient. 20 Verstöre nicht um der Speise willen Gottes Werk. Es ist zwar alles rein; aber es ist nicht gut dem, der es isst mit einem Anstoß seines Gewissens. 21 Es ist besser, du essest kein Fleisch und trinkest keinen Wein und tuest nichts, daran sich dein Bruder stößt oder ärgert oder schwach wird.
V. 19. Darum lasset uns usw. Soviel er kann, zieht der Apostel unsere Gedanken von der bloßen Betrachtung der Speisen zu wichtigeren Gesichtspunkten empor, welche bei unsern Handlungen vor allem Beachtung fordern, und welche unser ganzes Tun beherrschen sollen. Wir essen, um zu leben; aber wir leben, um dem Herrn zu dienen. Es dient aber nur der Mensch dem Herrn, welcher durch Wohlwollen und Freundlichkeit zur Erbauung und Besserung seines Nächsten beiträgt: Eintracht und ein erbaulicher Wandel -, diese beiden Stücke umspannen fast alle Pflichten der Liebe. Damit man diese Wahrheit nicht gering achte, wiederholt der Apostel (V. 20), was er soeben (V. 15) schon ausgesprochen: Verstöre nicht um der Speise willen, die doch eine ganz untergeordnete Bedeutung hat, Gottes Werk. Wo nur ein Fünkchen von Frömmigkeit sich findet, da haben wir Gottes Werk zu erblicken. Wer nun mit seinem ungestümen Zufahren ein schwaches Gewissen verwirrt, der zerstört Gottes Werk. Übrigens wollen wir bemerken, dass der Apostel nicht bloß vom Frieden, sondern außerdem auch von der Besserung oder „Erbauung“ redet. Es gibt nämlich Leute, welche gar zu weitherzig den andern entgegenkommen und mit solcher Nachgiebigkeit den größten Schaden anrichten. Darum muss man in dem Streben, nachgiebig zu sein, einen Unterschied machen und mit allem Ernst auf den Endzweck sehen: wir sollen dem Bruder gern darreichen, was dazu dient, sein Heil zu fördern. So mahnt Paulus anderwärts (1. Kor. 10, 23): „Ich habe es zwar alles Macht, aber es frommt nicht alles.“ Und er fügt alsbald den Grund hinzu: „Es bessert (oder genauer: es erbaut) nicht alles.“
V. 20. Es ist zwar alles rein. Dies allgemeine Zugeständnis erfährt indessen sofort eine Einschränkung: aber es ist nicht gut dem, der es isst mit einem Anstoß seines Gewissens. Also das Essen mag erlaubt sein: aber der Anstoß ist in jedem Falle unerlaubt. Die Speise ist uns gegeben, dass wir uns damit nähren, ohne die Liebe zu verletzen. Die an sich reine Speise wird unrein, wenn man sie ohne die schuldige liebreiche Rücksicht auf den Bruder genießt. Daraus folgt (V. 21), dass es viel besser ist, sich aller Dinge zu enthalten, welche für den Bruder zu einem Anstoß werden könnten. Diesen Anstoß zu beschreiben, braucht der Apostel drei Worte: daran sich dein Bruder stößt oder auch nur ärgert oder auch nur schwach wird. Das nachfolgende Wort bedeutet stets weniger als das vorangehende. Schwach wird derjenige, in dessen Gewissen ein leiser Zweifel fällt; geärgert wird, dessen Gewissen in eine gröbere Verwirrung gerät; gestoßen und zu Falle gebracht wird, wen irgendein Anstoß dem Glauben gänzlich entfremdet.
22 Hast du den Glauben, so habe ihn bei dir selbst vor Gott. Selig ist, der sich selbst kein Gewissen macht in dem, was er annimmt. 23 Wer aber darüber zweifelt, und isst doch, der ist verdammt; denn es geht nicht aus dem Glauben. Was aber nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde.
V. 22. Um zu Ende zu kommen, zeigt der Apostel, worin das Gut der christlichen Freiheit eigentlich besteht: auf diese Weise erkennt man eine derartige Freiheit, die sich selbst gar nicht zu mäßigen weiß, als ein Zerrbild. Der Apostel betont nämlich, dass die Erkenntnis der Freiheit, da sie Sache des Glaubens ist, im eigentlichen Sinne auf Gott selber gerichtet ist. Wer nun in diesem Hauptstück innerlich gewiss geworden ist, soll damit zufrieden sein, dass er vor Gottes Angesicht ein ruhiges Gewissen hat. Es ist aber nicht nötig, dass er vor Menschenaugen alles bekommt und genießt, wobei er wohl ein ruhiges Gewissen haben könnte. So muss es wohl aus sündiger Begehrlichkeit fließen, wenn wir uns ohne Rücksicht auf die schwachen Brüder allen und jeden Genuss erlauben, für den ja durchaus keine Notwendigkeit besteht. Falsch und gegen den Sinn des Apostels ist es übrigens, wenn man aus dieser Stelle folgert, es sei gleichgültig, wie sich ein Christ dem falschen, abergläubischen Gottesdienst gegenüber verhalte. Denn die Verehrung Gottes ist ja ein Teil unseres Bekenntnisses.
Selig ist, der sich selbst kein Gewissen macht. Hier lehrt Paulus zuerst, auf welche Weise wir die Gaben Gottes fröhlich gebrauchen können. Dann (V. 23) aber zeigt er, wie die Unwissenheit diesen freien Gebrauch oft unmöglich macht. Also gilt es darauf zu achten, dass wir den Unerfahrenen nicht mehr zumuten, als ihr schwaches Verständnis tragen kann. Der allgemeine Grundsatz, der auf alle unsere Handlungen angewendet werden kann, preist denjenigen glücklich, der sich kein Gewissen macht in dem, was er annimmt. Dies erinnert freilich daran, dass dem Entschluss, dem Annehmen oder Verwerfen, eine ernste Prüfung vorangegangen sein muss. Viele Menschen stürzen sich ohne Gewissensbedenken mit geschlossenen Augen und mit ungezügelter Begier in schwere Verbrechen. Aber es ist ein großer Unterschied zwischen solchem blinden Triebe und der wohlerwogenen Annahme dessen, was man als recht erkannt hat. Selig ist nur, wer geprüft und erwogen hat und nun ohne Gewissensbisse tun kann, wofür er sich entschieden. Denn allein diese innere Gewissheit macht es, dass unsere Taten Gott gefallen.
V. 23. Wer aber darüber zweifelt usw. Wer nicht zu einer Entscheidung kommen kann, sondern in seinen Erwägungen noch unsicher bald auf diese, bald auf jene Seite neigt, dem fehlt freilich das erste Erfordernis zu einem rechten Werk: die Gewissheit vor Gottes Angesicht und damit eine ruhige Sicherheit. Also haben wir uns vor allen Dingen die Wahrheit einzuprägen, dass wir nichts angreifen dürfen, wovon unsere Seele nicht gewiss ist, dass Gott es billigen wird. Wenn alle Menschen diesem Grundsatz huldigten, würde es nicht so viel Unruhe, Verstörung und blindes Zufahren geben. Sollen wir aber so vorsichtig wandeln, dass wir mit zweifelndem Gewissen keinen Bissen Brot anrühren, wie viel zurückhaltender müssen wir erst in größeren Entscheidungen sein!
Was aber nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde. Jetzt wird der Grund dafür angegeben, warum ein Mensch verdammt ist, der ohne Zustimmung seines Gewissens etwas unternimmt: eine Tat, die äußerlich noch so herrlich dasteht, wird als Sünde angerechnet, wenn sie nicht aus einem lauteren Gewissen kommt. Gott hält sich nicht bei dem äußeren Schein auf, sondern fordert inneren Gehorsam. Dieser allein macht den Wert unserer Taten aus. Wo bleibt aber dieser Gehorsam, wenn jemand etwas angreift, wovon er nicht überzeugt ist, dass es Gott gefällt? Wo ein solcher Zweifel sich findet, ist ein Mensch, der wider das Zeugnis seines Gewissens auf seinem Wege beharrt, mit Recht unter die Übertreter zu zählen. „Glaube“ bedeutet hier die sichere Überzeugung des Herzens und die klare Gewissheit, die nicht irgendwoher, sondern nur aus der Wahrheit Gottes kommen kann. Schwanken und Ungewissheit befleckt alle unsere Taten, auch wenn sie sonst einen guten Schein haben. Da nun ein frommer Sinn nirgend anders als in Gottes Wort seine Ruhe finden kann, so fallen hier dahin alle erdichteten Gottesdienste und alle selbst erwählten Werke, die dem Gehirn der Menschen entspringen. Wenn der Apostel verurteilt, was nicht aus dem Glauben geht, so verwirft er damit alles, was nicht auf Gottes Wort sich stützt und von demselben gebilligt wird. Und doch reicht es auch noch nicht hin, dass wir uns für unsere Taten äußerlich auf Gottes Wort berufen können: unsere Seele soll sich vielmehr mit einem fröhlichen Vertrauen zum Werke schicken. Dies wird also der Grundsatz für alle unsere Entscheidungen sein, dass unser Sinn ohne Schwanken auf Gottes Wort sich stütze und mit voller Gewissheit dahin sich ausstrecke, wohin Gott uns ruft.
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Johannes Calvin
1 Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an uns selber haben. 2 Es stelle sich ein jeglicher unter uns also, dass er seinem Nächsten gefalle zum Guten, zur Besserung. 3 Denn auch Christus hatte nicht an sich selber Gefallen, sondern wie geschrieben steht: „Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.“
V. 1. Wir aber, die wir stark sind usw. Diejenigen, welche in der Erkenntnis Gottes weiter fortgeschritten sind, sollen die geforderte Nachgiebigkeit nicht als eine gar zu starke Zumutung empfinden. Darum sagt ihnen der Apostel, wozu sie die Kraft verwenden müssen, welche sie vor den andern empfangen haben: zur Stärkung der Schwachen, damit diese nicht fallen. Hat Gott einem Christen eine reifere Erkenntnis verliehen, so soll ein solcher die Unerfahrenen unterweisen. Hat Gott eine besondere Kraft geschenkt, so soll sie dazu dienen, die Schwachen zu stärken. So sollen alle an Christi Gnadengaben Gemeinschaft haben. Je stärker also jemand in Christus ist, desto mehr ist er verpflichtet, der Schwachen Gebrechlichkeit zu tragen. Heißt es, der Christ solle nicht Gefallen an sich selber haben, so will dies besagen: er darf sich nicht damit begnügen, nur seinem eignen Wohlgefallen zu leben. So gehen ja nur zu viele achtlos an den Brüdern vorüber und tun, was ihnen gut dünkt. Diese Erinnerung passt trefflich zu dem gerade verhandelten Gegenstand: nichts hindert und stört unsern Gehorsam gegen Gott mehr, als wenn jeder nur an sich denkt, sich nicht um die andern kümmert und allein sein Stimmungen und Entschlüssen folgt.
V. 2. Es stelle sich ein jeglicher unter uns also usw. Hier empfangen wir die Lehre, dass unsere Pflicht uns an den Nächsten bindet: ihm müssen wir dienen und uns ihm anpassen; ausnahmslos haben wir den Brüdern nachzugeben, wo wir dies nach Gottes Wort zu ihrer Erbauung können. Der Apostel gibt hier also einen zwiefachen Fingerzeig. Erstens dürfen wir nicht mit unserm Urteil zufrieden sein und uns einfach bei unsern Wünschen beruhigen, sondern wir sollen uns mit allem Eifer so stellen, dass unserm Nächsten Genüge geschieht. Zweitens: In dem Bestreben, dem Bruder nachzugeben, sollen wir Gott vor Augen haben und alles auf die Erbauung oder Besserung ziehen lassen. Viele verstehen dem Nächsten ja nur auf die Weise zu gefallen, dass sie seinen Lüsten und Launen schmeicheln. Und bei den meisten Menschen macht man sich freilich am leichtesten angenehm, nicht wenn man ihr Bestes will, sondern wenn man ihre Torheiten gelten lässt, nicht wenn man auf das sieht, was wahrhaft heilsam ist, sondern was sie zu ihrem eignen Verderben wünschen. Nach dem Wohlgefallen solcher Leute sollen wir allerdings nicht haschen, die selbst nur Gefallen am Schlechten haben.
V. 3. Denn auch Christus hatte nicht an sich selber Gefallen. Ist es billig, dass der Knecht nicht zu tun sich weigert, was sein Herr auf sich zu nehmen kein Bedenken trug, so wäre es ja vollends töricht, wenn wir uns zu gut dünkten, der Schwachen Gebrechlichkeit zu tragen, während Christus, unser hoch gelobter Herr und König, zu ihnen sich herabgelassen hat. Er hat gar nicht an sich gedacht, sondern hat sich im Dienst der Brüder verzehrt. Auf ihn trifft es wahrhaft zu, was Psalm 69, 10 prophetisch ausspricht. Zu diesem Bilde gehört auch der Zug, dass der Eifer um des Herrn Haus ihn gefressen, und dass die Schmähungen derer, die Gott schmähen, auf ihn fielen. Das will sagen: ihn beseelte ein solcher Eifer für Gottes Ehre, ihn ergriff eine solche Sehnsucht, Gottes Reich zu mehren, dass er über diesen Anliegen völlig sich selbst vergaß; er hat sich mit solcher Inbrunst dem Herrn geweiht, dass sein Herz zerriss, dass er es wie ihm selbst getan fühlte, wenn er die Schmähungen der Gottlosen Gottes heiligen Namen treffen sah. Herrscht also Christus in uns, wie er in seinen Gläubigen herrschen soll, so muss auch in uns die Gesinnung wirksam sein, dass alles, was Gottes Ehre angreift, uns selbst quält, als wäre es uns geschehen. Wehe also den Menschen, die nichts Besseres kennen, als Ehre vor denen, die Gottes Namen schmähen, Christus mit Füßen treten, sein Evangelium verhöhnen und mit Feuer und Schwert verfolgen!
4 Was aber zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, auf dass wir durch Geduld und Trost der Schrift Hoffnung haben. 5 Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einerlei gesinnt seid untereinander nach Jesu Christo, 6 auf dass ihr einmütig mit einem Munde lobet Gott und den Vater unsers Herrn Jesu Christi.
V. 4. Was aber zuvor geschrieben ist usw. Jetzt folgt die Anwendung des Beispiels. Niemand soll für zu weit hergeholt halten, was der Apostel über die Nachahmung Christi gesagt hat. Denn es gibt nichts in der ganzen Heiligen Schrift, das nicht uns zur Lehre und zur Unterweisung für unser Leben dienen müsste. Eine wichtige Stelle, die uns einprägt, dass Gottes Wort nichts Unnützes und Unfruchtbares enthält, die uns zugleich mahnt, beim Lesen der Schrift auf den Fortschritt in der Frömmigkeit und Lebensheiligung zu achten. Ist hier nun auch zunächst vom Alten Testament die Rede, so gilt doch das Gleiche von den Schriften der Apostel. Denn wenn Christi Geist überall sich selbst gleich bleibt, so hat er ohne Zweifel die Offenbarung seiner Wahrheit, wie einst durch die Propheten, so jetzt durch die Apostel zu unserer Erbauung eingerichtet. Hier finden auch die Schwärmer ihre Widerlegung, welche behaupten, das Alte Testament sei abgeschafft und gehe die Christen nichts mehr an. Welche Anmaßung, die Christen von den Schriften abzutreiben, von welchen doch Paulus bezeugt, dass sie Gott zu ihrem Heil bestimmt habe! Der Satz übrigens, dass wir durch Geduld und Trost der Schrift Hoffnung haben, beschreibt den Nutzen, den wir aus dem Worte Gottes ziehen können, nicht vollständig, sondern bezeichnet nur den Hauptzweck. Dies ist nämlich das Hauptanliegen der Schrift, Menschen zur Geduld zu erziehen, mit Trost zu stärken, zur Hoffnung des ewigen Lebens aufzurichten und in dessen Betrachtung festzuhalten. Das Wort, welches wir mit „Trost“ übersetzen, könnte übrigens auch „Ermahnung“ bedeuten: dass wir durch Geduld und Ermahnung der Schrift Hoffnung haben. Immerhin scheint unsere Auslegung besser zu passen, weil Geduld aus erfahrenem Trost zu erwachsen pflegt. Erst wenn Gottes Trost unsere Last erleichtert, werden wir stark genug sein, sie zu tragen. Denn die Geduld der Gläubigen ist etwas anderes als jener harte, unerschütterliche Sinn, mit welchem nach Vorschrift der Philosophen der Mensch sich wider das Unglück wappnen soll. Sie ist sanftmütig und unterwirft sich gern der Führung Gottes; denn der Geschmack seiner Güte und Vaterliebe macht uns alles süß. Solche Geduld nährt und erhält in uns eine Hoffnung, die uns nie verzagen lässt.
V. 5. Der Gott aber der Geduld. So heißt Gott, weil er die Geduld, welche der vorige Satz aus der Heiligen Schrift ableitete, ins uns schafft. Er ist die alleinige Quelle der Geduld und des Trostes: er wirkt beides in unsern Herzen durch seinen Geist; aber er gebraucht dazu sein Wort als Mittel und Werkzeug. Dieses Wort lehrt nämlich zuerst, worin wahrer Trost und wahre Geduld besteht, dann aber besitzt es auch die Kraft, solche Lehre in unsere Seele hineinzusenken. Übrigens wollen wir darauf achten, dass Paulus an die Lehre und Mahnung, die er bisher vorgetragen, jetzt eine Fürbitte schließt: denn er wusste nur zu gut, dass alle Ermahnungen vergeblich sind, wenn nicht der Gott, der durch Menschenmund uns seine Gebote gibt, diese durch seinen Geist in unsern Herzen erfüllt. Hauptinhalt des Gebets ist, Gott möge die Herzen der Christen zur Eintracht lenken und schaffen, dass sie einerlei gesinnt seien untereinander. Wenn Paulus hinzufügt: nach Jesus Christus, so deutet er damit an, wo das Band der Eintracht zu finden ist. Ein trostloser Bund, der ohne Gott geschlossen wird! Das gilt aber von jedem Bund, der uns von Gottes Wahrheit abführt. Um nun noch mehr zu Einigkeit in Christus zu locken, zeigt der Apostel (V. 6), wie notwendig diese sei. Denn nur dann loben wir Gott in rechter Weise, wenn wir es einmütig und mit einem Munde tun. Niemand darf sich rühmen, dass er Gott auf seine besondere Weise die Ehre geben wolle: denn vor Gott gilt die Einigkeit seiner Knechte soviel, dass er aus dem Geschrei des Zankes und Streites die Lobgesänge, die ihm gelten sollen, gar nicht heraushört. Diese eine Erwägung sollte hinreichen, die krankhafte Lust am Streiten und Disputieren einzudämmen, welche heute so viele Gemüter beherrscht. 7 Darum nehmet euch untereinander auf, gleichwie euch Christus hat aufgenommen zu Gottes Lobe. 8 Ich sage aber, dass Jesus Christus sei ein Diener gewesen der Juden um der Wahrhaftigkeit willen Gottes, zu bestätigen die Verheißungen, den Vätern geschehen; 9 dass die Heiden aber Gott loben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht: „Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.“ 10 Und abermals spricht er: „Freuet euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!“ 11 Und abermals: „Lobet den Herrn, alle Heiden, und preiset ihn, alle Völker!“ 12 Und abermals spricht Jesaja: „Es wird sein die Wurzel Jesse´s, und der auferstehen wird, zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen.“
V. 7. Darum nehmet euch untereinander auf. Nunmehr lenkt die Rede zur Ermahnung zurück, wobei sie uns noch immer Christi Beispiel vor Augen stellt. Glieder Christi sind ja nicht bloß diese und jene, sondern alle Christen. In ihm sind sie zur Einheit verbunden. Also müssen sie einander tragen und helfen, sonst können sie nicht in ihm bleiben. Wir werden also unsere Berufung festmachen, wenn wir uns von denen nicht loslösen, an welche der Herr uns gebunden hat. Die Worte zu Gottes Lobe können auf das bezogen werden, was Christus getan hat, oder auf das, was wir tun sollen. Die letztere Auffassung finde ich richtiger: wie Christus, da wir des Erbarmens bedurften, uns zum Lobe der Gnade Gottes mit seiner Liebe umfasst hat, so sollen wir zum Lobe desselben Gottes jene Gemeinschaft, die wir in Christus haben, durch unser Verhalten bekräftigen und stärken.
V. 8. Ich sage aber, dass Jesus Christus usw. Jetzt beweist uns der Apostel, wie Christus tatsächlich zu uns allen sich herabgelassen hat. Dabei schwindet jeder Unterschied zwischen Juden und Heiden. Nur wurde der Erlöser zuerst dem jüdischen Volk versprochen und zu besonderem Eigentum bestimmt, ehe er auch den Heiden geschenkt ward. Nun aber ist jeder angebliche Vorzug, welcher die Quelle aller Streitigkeiten bildete, dahin gefallen. Denn Christus hat beide Teile aus elender Zerstreuung gesammelt und in das Reich des Vaters geführt, damit in einer Hürde eine Herde unter einem Hirten werde. Deshalb gibt Paulus zu verstehen, dass man die gegenseitige Eintracht pflegen und kein Teil den andern verachten solle: denn auch Christus hat keinen verachtet. Zuerst nun redet der Apostel von den Juden und sagt, Christus sei zu ihnen gesandt um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, d. h. um wahr zu machen, was Gott ihnen versprochen hat, zu bestätigen die Verheißungen, den Vätern geschehen. Welche Ehre tut Christus, der Herr Himmels und der Erde, diesem Volke an, dass er zu seinem Heil ins Fleisch kommt! Und umso höher war die Ehre für die Israeliten, je tiefer er sich um ihretwillen herabgelassen hat.
V. 9. Dass die Heiden aber Gott loben usw. Bei dem zweiten Gliede seines Beweises verweilt Paulus etwas ausführlicher, weil ja die Tatsache, dass Christus auch die Heiden angenommen habe, nicht so allgemein anerkannt war. Das erste Zeugnis, welches der Apostel beibringt, stammt aus Ps. 18, 50 (vgl. 2. Sam. 22, 50). Dieser Psalm birgt ohne Zweifel eine Weissagung auf das Königreich Christi in sich. Dass dazu nun auch die Berufung der Heiden gehören werde, beweist Paulus, indem er an V. 50 erinnert, wo es heißt, dass auch unter den Heiden Gottes Lobpreis erschallen soll. Denn niemand vermöchte unter den Heiden den Herrn zu erheben, wenn sie diesen Lobpreis nicht vernehmen könnten. Soll also unter den Heiden Gottes Name gelobt werden, so muss ihnen zuvor die rechte Erkenntnis geschenkt und die Gemeinschaft des Volkes Gottes eröffnet sein. Denn überall in der Schrift steht der Grundsatz fest, dass man Gottes Ruhm nur in der Gemeinschaft der Gläubigen verkünden kann, welche für diese Botschaft empfängliche Ohren besitzen.
V. 10. „Freuet euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!“ Die gewöhnliche Ansicht, nach welcher dieser Spruch dem Liede Mose (5. Mose 32, 43) entlehnt sein soll, vermag ich nicht zu billigen. Denn dort liegt es dem Mose weit mehr an, die feindlichen Heidenvölker mit Israels Größe zu schrecken als sie zu gemeinsamer Freude aufzufordern. Vielmehr scheint der Spruch aus Ps. 67, 5 zu stammen, wo es heißt: „Die Völker sollen sich freuen und jauchzen, dass du die Leute recht richtest und regierest die Leute auf Erden.“ Aus seinem eignen fügt nun Paulus zur Erläuterung hinzu: mit seinem Volk. Denn tatsächlich ermuntert der Sänger des Psalms die Heiden, sie möchten mit Israel in die Freude einstimmen, die allein auf der Erkenntnis Gottes ruht.
V. 11. Lobet den Herrn, alle Heiden. Auch dieser Spruch passt trefflicher hierher. Denn wie sollten die Heiden Gott loben, ohne seine Größe zu kennen? Das ist ebenso wenig möglich, als dass sie einen Namen anrufen sollten, der ihnen nicht verkündigt wäre. Also birgt der Psalmspruch (Ps. 117, 1) eine Weissagung von der Berufung der Heiden in sich. Dies ergibt sich mit voller Deutlichkeit aus seiner Fortsetzung (Ps. 117, 2): Für seine Gnade und Wahrheit sollen die Heiden Gott preisen.
V. 12. Und abermals spricht Jesaja usw. Diese Weissagung ist die herrlichste von allen. Der Prophet (Jes. 11, 1 ff. 10 ff.) tröstet nämlich in einer Zeit völliger Verzweiflung die dürftigen Reste der Gläubigen: aus dem dürren und erstorbenen Wurzelstamme des Hauses Davids wird eine Rute aufgehen, und ein Zweig aus der verachteten Wurzel wird Frucht bringen; er wird es sein, der Gottes Volk zu früherer Herrlichkeit emporhebt. Dass mit diesem aufschießenden Zweige Christus, der Welt Heiland, gemeint ist, geht aus der Beschreibung des Jesaja deutlich hervor. Und alsbald fügt der Prophet hinzu, dass Christus auch für die Heiden als ein Panier des Heils dasteht. In doppelter Weise bezeugt der Prophetenspruch die Berufung der Heiden: zuerst heißt es nämlich, dass Christus als ein Panier soll aufgerichtet werden -, nun herrscht er aber doch nur unter Gläubigen. Weiter wird ausdrücklich gesagt, dass die Heiden auf ihn hoffen werden -, und dies kann doch nicht geschehen ohne Predigt des Wortes und Erleuchtung durch den Heiligen Geist. Diese Wahrheit spricht auch der Lobgesang des Simeon aus (Luk. 2, 31 f.). Wenn übrigens die Hoffnung der Heiden auf Christus sich richten soll, so ist dies ein Zeugnis seiner Gottheit.
13 Der Gott aber der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr völlige Hoffnung habet durch die Kraft des Heiligen Geistes. 14 Ich weiß aber gar wohl von euch, liebe Brüder, dass ihr selber voll Gütigkeit seid, erfüllt mit aller Erkenntnis, dass ihr euch untereinander könnet ermahnen. 15 Ich habe es aber dennoch gewagt und euch etwas wollen schreiben, liebe Brüder, euch zu erinnern, um der Gnade willen, die mir von Gott gegeben ist, 16 dass ich soll sein ein Diener Christi unter den Heiden, priesterlich zu warten des Evangeliums Gottes, auf dass die Heiden ein Opfer werden, Gott angenehm, geheiligt durch den Heiligen Geist.
V. 13. Der Gott aber der Hoffnung usw. Nunmehr schließt der Apostel, wie dies überhaupt seine Art ist (vgl. V. 5), seine Aussprache mit einem Gebetswunsch: wozu er seine Leser ermahnt, das möge Gott ihnen schenken. Wir entnehmen daraus, dass Gott seine Gebote keineswegs dem Maße unserer Kraft oder dem Vermögen unseres freien Willens anpasst, dass er sie überhaupt nicht gibt, damit wir etwa im Vertrauen auf eigne Kraft uns zum Gehorsam anschicken sollen. Vielmehr stellt Gott Aufgaben, zu deren Lösung wir seiner Gnadenhilfe bedürfen: darum werden uns solche Aufgaben ein Antrieb zum Gebet. Wenn der Apostel von dem Gott der Hoffnung spricht, so erklärt sich dies aus dem vorhergehenden Verse: eben der Gott, auf den wir hoffen, soll die Christen mit Freude, d. h. mit fröhlicher Zuversicht des Gewissens erfüllen; ferner mit Frieden, und zwar im oder durch den Glauben. Denn soll dem Herrn unser Friede gefallen, so muss er auf der Gemeinschaft eines wahren und unverletzten Glaubens ruhen. Derselbe Glaube bildet aber auch die einzige Stütze der Freude. Bei dem Worte Frieden könnte man freilich auch an die innere Ruhe vor Gottes Angesicht denken, welche jeder einzelne Gläubige besitzt. Aber unsere Auslegung passt besser in den zuletzt verfolgten Gedankengang. Er setzt hinzu: Dass ihr völlige Hoffnung habet; denn auf diese Weise wird in uns die Hoffnung gestärkt und gemehrt. Der Zusatz: durch die Kraft des Heiligen Geistes, will uns sagen, dass alles, wovon wir sprachen, Gabe der göttlichen Güte ist. Überhaupt deutet der Ausdruck des Apostels darauf hin, welch wunderbare Kraft des Geistes dazu gehört, in uns allen die genannten Tugenden zu wirken.
V. 14. Ich weiß aber gar wohl usw. Der Apostel entschuldigt sich gewissermaßen, dass er als Lehrer und Seelsorger den Römern gegenüber aufgetreten ist. Es trieb ihn dazu nicht ein Misstrauen gegen ihre Weisheit, Gütigkeit oder Festigkeit, sondern lediglich seine Pflicht. So tritt er dem Verdacht entgegen, als wolle er vorwitzig in ein fremdes Amt greifen oder sich in Dinge mischen, die ihn nichts angingen. Welche Bescheidenheit dieses heiligen Mannes! Der Apostel will persönlich gern zurücktreten, wenn nur seine Lehre etwas ausrichtet! Sicherlich waren die Römer ein stolzes Volk; der bloße Name ihrer Stadt erfüllte auch die Geringsten aus dem Volke mit Selbstbewusstsein, und in solcher Verfassung hörten sie nicht gern auf Belehrungen, die anderswoher, und nun gar von Barbaren und Juden kamen. Paulus verzichtet darauf, den Kampf mit solchem Selbstbewusstsein in seinem eignen Namen aufzunehmen. Vielmehr gewinnt er in aller Sanftmut den Sieg über die Ansprüche seiner Leser, indem er einfach auf sein apostolisches Amt sich stützt.
Dass ihr selber voll Gütigkeit seid, erfüllt mit aller Erkenntnis. Zwei wichtige Tugenden eines Seelsorgers sind die Freundlichkeit, die ihn anleitet, zum wahren Wohl der Brüder seine Ermahnungen in sanfte Form zu kleiden, und die kundige Weisheit, die ihm Autorität verschafft, so dass er seinen Hörern nützen kann. Nichts wirkt unseren brüderlichen Ermahnungen mehr entgegen als unsere eigne hochmütige und hämische Haltung, aus welcher man mehr Verachtung und Spott über die Irrenden herausfühlt als die Absicht, zu bessern. Auch unnötige Härte im Auftreten oder in den Worten bringt eine Zusprache um ihre Frucht. Weiter aber wird der Seelsorger mit aller Freundlichkeit und Sanftmut wenig ausrichten, wenn er nicht auch Geschick besitzt und die gegebenen Umstände recht benutzen kann. Diese doppelte Tätigkeit spricht nun der Apostel den Römern zu, wenn er sagt: ihr seid voll Gütigkeit und erfüllt mit aller Erkenntnis, dass ihr euch untereinander könnet ermahnen. Sie besitzen also die erforderlichen Eigenschaften, sich gegenseitig zu ermahnen.
V. 15. Ich habe es aber dennoch gewagt und euch etwas wollen schreiben. Gerade wenn die Römer selbst leisten konnten, was der Apostel ihnen bietet, so war eine Entschuldigung am Platze, und Paulus durfte wohl von einem Wagnis reden. Aber er fügt hinzu, warum er trotzdem reden musste: um der Gnade willen, die mir von Gott gegeben ist (V. 16), dass ich soll sein ein Diener Christi unter den Heiden. Zählten die Römer unter die Heidenvölker, so durfte der Apostel der Heiden auch an ihnen nicht vorübergehen. Seine eigne Person stellt dabei Paulus hinter der Würde des apostolischen Amtes völlig zurück. Er erhebt die Gnade Gottes, die ihn an seinen Platz gestellt: um ihrer willen durfte er Anerkennung und Gehör beanspruchen. Übrigens bezeichnet es Paulus nicht als seine Aufgabe, die Römer etwas Neues zu lehren, sondern nur, sie zu erinnern. Er ist nicht ihr Lehrer, sondern ihr Mahner.
Priesterlich zu warten des Evangeliums Gottes, auf dass die Heiden ein Opfer werden. Dieser Ausdruck erinnert an einen priesterlichen Opferdienst. Insofern waltet der Apostel und jeder Verkündiger des Evangeliums eines priesterlichen Amtes, als er die Menschen dem Gehorsam gegen das Evangelium unterwirft, dadurch ihre Seelen im Glauben heiligt und sie also Gott dem Herrn wie ein Opfer darbringt. Eine priesterliche Stellung der christlichen Prediger in einem andern Sinne aus diesem zufälligen Ausdruck abzuleiten, ist unerlaubt. Der Apostel fügt hinzu, dass ein solches Opfer Gott angenehm sei: damit will er nicht bloß die Herrlichkeit des Predigtamtes rühmen, sondern auch diejenigen stärken und trösten, welche sich zum Opfer übergeben. Wie nun die früheren Opfer durch äußerliche Zeremonien und Reinigungen dem Herrn geweiht wurden, so werden auch die Opfer, von denen der Apostel spricht Gott geheiligt durch den Heiligen Geist. Dessen Kraft wirkt in den Herzen und löst sie von dieser Welt los. Zwar kann man auch sagen, dass der Glaube an das Wort ein reines Herz schafft: da aber eines Menschen Wort an sich unwirksam und tot bleibt, so wird die reinigende Kraft im entscheidenden Sinne dem Heiligen Geist zugeschrieben.
17 Darum kann ich mich rühmen in Jesu Christo, dass ich Gott diene. 18 Denn ich wollte nicht wagen, etwas zu reden, wo dasselbe Christus nicht durch mich wirkte, die Heiden zum Gehorsam zu bringen durch Wort und Werk, 19 durch Kraft der Zeichen und Wunder und durch Kraft des Geistes Gottes, also dass ich von Jerusalem an und umher bis Illyrien alles mit dem Evangelium Christi erfüllt habe 20 und mich sonderlich geflissen, das Evangelium zu predigen, wo Christi Name nicht bekannt war, auf dass ich nicht auf einen fremden Grund baute, 21 sondern wie geschrieben steht: „Welchen nicht ist von ihm verkündigt, die sollen´s sehen, und welche nicht gehört haben, sollen´s verstehen.“
V. 17. Darum kann ich mich rühmen usw. Nachdem Paulus im Allgemeinen seine Berufung betont hat, damit die Römer ihn gewiss und zweifellos für einen Apostel Christi halten möchten, fügt er nun rühmend hinzu, dass er das apostolische Amt, welches Gott ihm übertragen, nicht bloß übernommen, sondern auch mit herrlichem Erfolge geführt habe. Dabei erinnert er auch an die Treue, die er in der Ausübung seines Dienstes bewiesen hat. Denn das wäre freilich zu wenig, dass ein Prediger nur in das Amt gesetzt wäre, ohne aber seinem Beruf zu entsprechen und seiner Pflicht zu genügen. Übrigens redet der Apostel so nicht aus persönlicher Ruhmbegier; aber er durfte keinen Hinweis unterlassen, welcher dazu dienen konnte, seiner Lehre bei den Römern Eingang und Ansehen zu verschaffen. Gottes rühmt er sich also, nicht seiner selbst; denn er verfolgt nur dies Ziel, dass zu Gott aller Ruhm zurückkehre.
V. 18. Ich wollte nicht wagen, etwas zu reden, wo dasselbe Christus nicht durch mich wirkte. Hier haben wir den Ausdruck wahrer Bescheidenheit. Der Apostel weist nicht auf eigne Leistungen hin, sondern nur darauf, dass er in Christi Schranken sich fügt. Diese Zurückhaltung wirkt nur umso überzeugender. Was Paulus sagt, ist Grund genug zum Rühmen: er kann sich mit der Wahrheit zufrieden geben und braucht nicht nach fremdartigen und zweifelhaften Dingen zu greifen. Vielleicht will er auch falschen Gerüchten von vornherein entgegen treten, welche wie er wohl wusste Übelwollende gegen ihn aussprengten: darum sagt er im Voraus, er werde nur von Dingen reden, die ihm in Wahrheit gegeben waren.
Die Heiden zum Gehorsam zu bringen. Diese Worte erinnern daran, was Paulus eigentlich will: er will seinem Amte auch bei den Römern eine Frucht schaffen und seine Lehre mit Erfolg krönen. Also weist er auf die Zeichen hin, aus denen man ablesen kann, dass Gottes Kraft bei seinem Zeugnis ist und gewissermaßen seinem Apostelamt das Siegel aufgedrückt hat, so dass nun niemand mehr zweifeln kann, dass der Apostel von Gott eingesetzt und gesandt ist. Solche Zeichen sind Wort und Werk und (V. 19) Wunder. Man sieht also, dass die hier gemeinten Werke noch mehr umfassen als bloß Wundertaten. Den Abschluss macht der Hinweis auf die Kraft des Geistes Gottes, womit Paulus daran erinnert, dass solche Taten in keiner andern Kraft zu geschehen vermochten. Indem der Apostel lehrte und handelte und mit Kraft für Christus Zeugnis gab, offenbarte sich in dem allen Gottes Macht. Als drittes und besonderes Stück kommt dann die Wunderkraft hinzu, welche Zeichen und Siegel schafft, um die Gewissheit, die in der Sache an sich ruht, zu bestätigen. Ähnlich heißt es auch Luk. 24, 19, dass Jesus mächtig war von Worten und Taten. Ebenso weist Jesus selbst (Joh. 5, 36) die Juden auf seine Werke hin, welche ihnen zum Zeugnis seiner Gottheit dienen konnten. Übrigens spricht Paulus nicht einfach von Wundertaten, sondern von Zeichen und Wundern, wie auch Petrus (Apg. 2, 22) von Taten und Wundern und Zeichen redet. Denn die Wunder sind Zeugnisse der göttlichen Macht, welche die Menschen aufwecken wollen, damit sie den Herrn, von seiner Herrlichkeit innerlich getroffen, bewundern und anbeten. Und sie bedeuten etwas und zeigen unserm Verständnis etwas von Gottes Wesen. So lernen wir hier, wie man die Wunder anwenden soll: sie sollen die Menschen zur Ehrfurcht und zum Gehorsam gegen Gott erziehen. In diesem Sinne heißt es Mark. 16, 20: Der Herr bekräftigte das Wort durch mitfolgende Zeichen. Und Apg. 14, 3: Gott ließ Zeichen und Wunder geschehen, um das Wort seiner Gnade zu bezeugen. Geschehen also Wunder, welche der Kreatur und nicht dem Herrn Ehre verschaffen oder Glauben an Lügen und nicht an Gottes Wort erwecken wollen, so stammen diese nicht von Gott, sondern vom Teufel.
Von Jerusalem an und umher bis Illyrien. Ein weiteres Zeugnis für die Gotteskraft, die hinter der Predigt des Apostels steht, ist deren Wirkung. Das, was die Predigt des Apostels geschafft hatte, überstieg ja alles menschliche Vermögen. Wer hätte Christus eine solche Zahl von Gemeinden zuführen können als nur ein Mann, welchen Gottes Kraft trug! Von Jerusalem an, so sagt Paulus, bis nach Illyrien habe ich das Evangelium gepredigt. Und dabei ist er nicht geraden Weges zum Ziele geeilt, sondern hat alle Gegenden umher durchmessen.
V. 20. Und mich sonderlich geflissen usw. Weil Paulus sich den Römern nicht bloß als Diener Christi und Hirten der christlichen Gemeinde, sondern als eigentlichen Apostel vorstellen wollte, so nennt er hier das besondere Merkmal, durch welches sich gerade das Apostelamt auszeichnet. Eines Apostels Aufgabe ist es, das Evangelium zu predigen, wo Christi Name nicht bekannt war, nach jenem Auftrag (Mark. 16, 15): „Gehet hin in alle Welt, und predigt das Evangelium aller Kreatur.“ Also darf man aus dieser eigentümlichen Aufgabe des apostolischen Amtes nicht eine allgemeine Regel machen. Man darf es auch nicht für einen Fehler erklären, wenn die Apostel, welche den Grund der Gemeinden gelegt haben, nunmehr in den Pastoren Nachfolger empfangen, die auf diesem Grunde nur weiterbauen, das bisher errichtete Gebäude vor dem Verfall schützen und vielleicht nur wenig erweitern. Als fremden Grund bezeichnet hier der Apostel diejenigen, welchen eine fremde Hand gelegt hat. Anderswo heißt es in etwas abweichender Wendung des Bildes, dass Christus der einige Grund sei, auf welchen die Gemeinde erbaut ist (1. Kor. 3, 11; Eph. 2, 20).
V. 21. Sondern wie geschrieben steht usw. Für die eigenartige Aufgabe seines apostolischen Amtes beruft sich Paulus auf Jes. 52, 15. Dort weissagt der Prophet, dass das Reich des Messias über die ganze Welt ausgebreitet, die Kunde von Christus den Heiden gebracht werden soll, welche zuvor von seinem Namen nichts wussten. Dies zu tun aber liegt den Aposteln ob, welchen es besonders aufgetragen ward. Und dass Paulus ein wirklicher Apostel ist, kann man eben daran erkennen, dass durch seinen Dienst jene Weissagung erfüllt wird.
22 Das ist die Ursache, warum ich vielmal verhindert worden, zu euch zu kommen. 23 Nun ich aber nicht mehr Raum habe in diesen Ländern, habe aber Verlangen, zu euch zu kommen, von vielen Jahren her, 24 so will ich zu euch kommen, wenn ich reisen werde nach Spanien. Denn ich hoffe, dass ich da durchreisen und euch sehen werde und von euch dorthin geleitet werden möge, so doch, dass ich zuvor mich ein wenig an euch ergötze.
V. 22. Das ist die Ursache usw. Was der Apostel bisher über die Pflichten seines Amtes ausgeführt, legt ihm eine Entschuldigung deswegen nahe, dass er noch nie zu den Römern gekommen. Hatten sie doch nicht geringere Ansprüche auf seinen Dienst als andere. Er erinnert also daran, dass er seinen Missionsweg von Judäa bis Illyrien unter Gottes Leitung gegangen ist. Nachdem er diesen Lauf vollendet hat, wird er auch die Römer nicht übergehen. Damit sie aber nicht glauben möchten, der Apostel habe sie bisher vergessen, verscheucht er auch diesen Verdacht und versichert ihnen, dass es seit vielen Jahren sein Verlangen gewesen sei, zu ihnen zu kommen. Nur stellten sich der Ausführung des Planes unüberwindliche Hindernisse in den Weg. Jetzt aber, da es sein Beruf erlaubt, gibt Paulus neue Hoffnung. Dass der Apostel aber wirklich nach Spanien gekommen, dafür liefert unsere Stelle nur einen sehr zweifelhaften Beweis. Denn der Schluss ist unerlaubt, dass des Apostels Verlangen wirklich erfüllt worden sei. Er spricht nur von seiner Hoffnung: und in derselben konnte er sich wohl ebenso täuschen wie andere Gläubige auch.
V. 24. Denn ich hoffe usw. Damit rührt der Apostel den Grund an, weshalb er längst gewünscht, was er jetzt auszuführen gedenkt: nach Rom zu kommen. Er will die römischen Christen besuchen, sich an der Begegnung und der Aussprache mit ihnen zu erquicken, zugleich auch, um ihnen den Dienst zu leisten, den sie von seinem Amte erwarten durften: denn wenn ein Apostel kommt, so kommt mit ihm das Evangelium. Wenn Paulus die Erwartung ausspricht, dass er von den Römern nach Spanien geleitet werden möge, so setzt er damit freilich ein großes Zutrauen in ihre freundliche Hilfsbereitschaft. Aber gerade solches Vertrauen führt am ehesten zum Ziel. Je mehr Vertrauen wir einem Menschen entgegenbringen, desto mehr weiß er sich verpflichtet; denn es gilt unter uns als scheußlich und unmenschlich, ein Vertrauen zu enttäuschen, das man in uns setzt. Wenn es aber endlich heißt: so doch, dass ich zuvor mich ein wenig an euch ergötze -, so offenbart sich darin die herzliche Zuneigung, welche der Apostel auch seinerseits gegen die römischen Christen hegte. Sie dieser Zuneigung zu versichern, konnte ja dem Erfolge seiner Predigt nur förderlich sein.
25 Nun aber fahre ich hin gen Jerusalem den Heiligen zu Dienst. 26 Denn die aus Mazedonien und Achaja haben willig eine gemeinsame Steuer zusammengelegt den armen Heiligen zu Jerusalem. 27 Sie haben´ s willig getan, und sind auch ihre Schuldner. Denn so die Heiden sind ihrer geistlichen Güter teilhaftig geworden, ist´s billig, dass sie ihnen auch in leiblichen Gütern Dienst beweisen. 28 Wenn ich nun solches ausgerichtet und ihnen diese Frucht versiegelt habe, will ich durch euch nach Spanien ziehen. 29 Ich weiß aber, wenn ich zu euch komme, dass ich mit vollem Segen des Evangeliums Christi kommen werde.
V. 25. Nun aber usw. Freilich dürfen die Römer des Apostels Ankunft nicht gar zu schnell erwarten, und wenn sie sich verzögert, nicht etwa sich an ein Versprechen hängen, welches Paulus für die allernächste Zukunft gar nicht gegeben hat. Darum erinnert er noch an eine Pflicht, die ihm zunächst obliegt, und um derentwillen er nicht sofort nach Rom aufbrechen kann. Er muss zunächst nach Jerusalem reisen, um die Kollekte abzuliefern, welche die Christen von Achaja und Mazedonien für die dortige Gemeinde gespendet hatten. Dabei ergibt sich eine ungesuchte Gelegenheit, auch den römischen Christen die Beteiligung an jener Kollekte nahe zu legen und sie mit einem leisen Wink zur Nachfolge aufzufordern. Allerdings bittet der Apostel nicht ausdrücklich: aber wenn er andeutet, dass Achaja und Mazedonien eigentlich nur ihre Schuldigkeit getan haben (V. 27), so konnten die Römer, die sich ja in der gleichen Lage befanden, wohl daraus entnehmen, was auch ihre Pflicht war. Und dass der Apostel tatsächlich solchen Wink erteilen wollte, gesteht er einmal offen zu, wenn er an die Korinther schreibt (2. Kor. 9, 2), dass er ihre Bereitwilligkeit in allen Gemeinden rühme und mit ihrem Beispiel viele zur Nachfolge reize. Übrigens, welches Zeugnis wahrer Frömmigkeit, das die griechischen Gemeinden mit dieser Kollekte gaben! Wenn sie von der Armut der Brüder in Jerusalem hörten, so dachten sie nicht: diese entfernte Gemeinde steht uns zu fern; vielmehr hielten sie die Genossen des Glaubens für ihre Nächsten und gaben ihrer Dürftigkeit aus dem eignen Überfluss.
V. 27. Und sind auch ihre Schuldner. Hier liegt offen zutage, dass Paulus nicht bloß von der Pflicht spricht, welche die Korinther (die Bewohner der Hauptstadt von Achaja) erfüllt haben, sondern dass die Römer ebenfalls etwas von ihrer eignen Pflicht zwischen den Zeilen lesen sollen. Denn mehr als sie schuldeten die Korinther und Mazedonier den Judenchristen auch nicht. Der Grund dieser Verpflichtung liegt nun darin, dass die Heiden von den Juden das Evangelium empfangen haben. Sollten sie für dies größere geistliche Gut nicht willig geringere leibliche Güter wiedererstatten (vgl. auch 1. Kor. 9, 11)? Und nicht bloß den Predigern des Evangeliums sind sie Dank schuldig, sondern dem ganzen Volk, von welchem es zu ihnen kam. So groß ist der Wert dieser Gabe! Wenn übrigens Paulus sagt, dass die Heiden durch ihre Gegengabe einen Dienst beweisen, so gebraucht er damit ein Wort, welches an den öffentlichen Dienst in Staat und Beruf, vielleicht auch an einen priesterlichen Opferdienst erinnert. So wäre eine solche Liebesgabe eine Art Opfer, mit welcher wir nicht bloß die Pflicht der Liebe erfüllen, sondern zugleich auch Gott seinen Zoll der Dankbarkeit weihen. Jedenfalls liebt aber hier der Hauptnachdruck darauf, dass wir zur Wiedervergeltung des Empfangenen verpflichtet sind.
V. 28. Und ihnen die Frucht versiegelt habe. Vielleicht haben wir hier eine Anspielung an die Sitte der Alten, eine Sache, die man sicher verwahren wollte, mit einem Siegel zu verschließen. So würde Paulus an seine Treue und Zuverlässigkeit erinnern und gewissermaßen andeuten: in meinen Händen ist das anvertraute Geld so sicher, als hätte man es unter Siegel gelegt. Der Ausdruck „Frucht“ lässt übrigens zugleich an ein anderes Bild denken: der Ertrag von der Aussaat des Evangeliums kehrt jetzt zu den Juden (Judenchristen) zurück; so nährt der Acker mit seiner Frucht den, welcher ihn bestellt hat.
V. 29. Ich weiß aber usw. Diese Worte können doppelt verstanden werden. Entweder: Paulus hofft in Rom eine reife Frucht des Evangeliums vorzufinden, gute Werke in der Gemeinde und überhaupt einen blühenden Zustand des christlichen Lebens. Dieses Verständnis scheint mir deshalb näher zu liegen, weil der Apostel auch für sich eine besondere Erquickung von seinem Besuch in Rom erwartet (V. 32). Oder: Paulus macht die Römer auf die Frucht aufmerksam, welche sein Besuch ihnen bringen wird. So will er ihre Sehnsucht nach ihm noch mehr erregen. Seine Ankunft wird unter dem Segen Gottes für die Sache des Evangeliums neue Fortschritte bringen.
30 Ich ermahne euch aber, liebe Brüder, durch unsern Herrn Jesus Christus und durch die Liebe des Geistes, dass ihr mir helfet kämpfen mit Beten für mich zu Gott, 31 auf dass ich errettet werde von den Ungläubigen in Judäa, und dass mein Dienst, den ich für Jerusalem tue, angenehm werde den Heiligen, 32 auf dass ich mit Freuden zu euch komme durch den Willen Gottes und mich mit euch erquicke. 33 Der Gott aber des Friedens sei mit euch allen! Amen.
V. 30. Ich ermahne euch aber, liebe Brüder usw. Es ist bekannt, mit welcher Missgunst Paulus von seinen Stammesgenossen verfolgt wurde wegen des falschen Verdachtes, er predige den Abfall von Mose. Und der Apostel wusste nur zu gut, was Verleumdungen der Unschuld ausrichten können, besonders dort, wo ein unbesonnener Fanatismus die Herzen erfüllt. Dazu kam das Zeugnis des Geistes (Apg. 20, 23), laut dessen er in Jerusalem Bande und Trübsale erwarten musste. Je größere Gefahren er nun vor sich sah, desto tiefer ward seine Seele ergriffen. Daher die Bewegtheit, mit welcher er der Gemeinde sein eigenes Ergehen ans Herz legt. Und diese Besorgnis des Apostels um sein Leben darf uns nicht wundernehmen: denn er bedachte, dass an seinem Leben für das Wohl der Kirche vieles hing. Welches Zittern aber seine fromme Seele erfüllte, zeigt die Inbrunst seiner Ermahnung: nicht bloß der Name des Herrn, sondern auch die Liebe des Geistes soll die Heiligen aneinander binden. Der Apostel ist also nicht so empfindungslos und innerlich über jede Gefahr erhaben, dass er leichthin in den Tod gehen wollte. Er greift vielmehr nach den Abwehrmitteln, die Gott ihm darreicht. Er geht die Gemeinde um Fürbitte an, um durch die Hilfe ihrer Gebete Trost zu empfangen, nach der Verheißung (Matth. 18, 19.20): „Wo zwei unter euch eins werden auf Erden, warum es ist, dass sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Und damit niemand sein Gesuch um Fürbitte nur für eine gewohnheitsmäßige Redensart halte, so beschwört Paulus seine Brüder mit großem Nachdruck bei dem Herrn Jesus Christus und der Liebe des Geistes. Das ist jene Liebe, mit welcher uns Christus verbindet, nicht eine Liebe des Fleisches oder der Welt, sondern eine solche, deren Gemeinschaftsband in Christi Geist besteht. Welch unvergleichliche Wohltat Gottes, dass wir an der Fürbitte der Heiligen eine Hilfe haben! Ein Paulus, Gottes auserwähltes Werkzeug, hat diese Hilfe nicht verschmäht: und wir elende, schwache Menschlein sollten etwa glauben, ihrer nicht zu bedürfen?
Dass ihr mir helfet kämpfen. Welche Ängste müssen den Apostel drücken, dass er von einem Kampfe redet! Und wenn er Beistand in diesem Kampfe sucht, können wir daraus lernen, welchen Wert die Gebete der Frommen für die Brüder haben: der eine tritt für den andern ein, und der Bruder nimmt des Bruders Not für sich wie seine eigne. Zugleich verstehen wir, welche Wirkung solche Fürbitte hat. Wer seinen Bruder dem Herrn ans Herz legt, hilft ihm einen Teil seiner Last tragen und macht sie ihm dadurch leichter. Und wenn unsere Kraft darauf beruht, dass wir den Namen des Herrn anrufen, so können wir auch die Brüder auf keine bessere Weise stärken als durch Anrufung dieses Namens.
V. 31. Dass mein Dienst, den ich für Jerusalem tue, angenehm werde. So hatten seine Widersacher den Apostel bei den jüdischen Christen verlästert, dass selbst die Sorge aufsteigen konnte, ob diese einen Dienst, der ihnen sonst in ihrer Not höchst erwünscht sein musste, aus seinen Händen wohl gern annehmen würden. Nun offenbart sich darin die ganze Sanftmut des Apostels, dass er nicht davon absteht, für Leute sich zu mühen, bei denen er och eine dankbare Aufnahme seines Dienstes bezweifeln muss. Solchen Sinn müssen wir uns aneignen: wir dürfen nicht aufhören, Gutes zu tun, auch wo wir des Dankes keineswegs sicher sind. Weiter wollen wir beachten, dass Paulus den Namen von Heiligen eben diesen Leuten nicht entzieht, von denen er doch fürchten muss, dass sie ihm Verdacht oder Misstrauen entgegenbringen werden. Er weiß, dass auch „Heilige“ durch verleumderische Gerüchte sich zu verkehrtem Urteil verleiten lassen können. Obgleich er aber ganz darauf gefasst ist, dass ihm Unrecht von ihnen geschieht, hört er doch nicht auf, in ehrenvoller Weise von ihnen zu sprechen. Wenn übrigens der Apostel zuletzt hinzufügt (V. 32), auf dass ich zu euch komme -, so können seine Leser daraus abnehmen, dass ihre Fürbitte ihnen selbst zugute kommen wird: es liegt in ihrem eignen Interesse, dass Paulus nicht in Judäa getötet werde. Ebendahin zielt der Beisatz mit Freuden: auch dies konnte ja den Römern nur von Nutzen sein, wenn der Apostel fröhlichen Sinnes und frei von Traurigkeit zu ihnen kam, um desto mutiger und kräftiger sein Werk an ihnen zu treiben. Das Wort, dass ich mich mit euch erquicke, zeigt von neuem, eine wie sichere Hoffnung Paulus auf die brüderliche Liebe der Römer setzt. Alles aber erwartet er nur durch den Willen Gottes. Also ist es dringend nötig, anzuhalten im Gebet: denn Gott allein lenkt alle unsere Wege durch seine Vorsehung.
V. 33. Der Gott aber des Friedens sei mit euch allen! Die Form dieses Segenswunsches scheint darauf hinzudeuten, dass der Apostel nicht bloß die Gemeinde im Ganzen der Obhut Gott empfehlen, sondern jedem einzelnen seine Leitung anwünschen will. Damit würde es dann auch stimmen, dass Gott ausdrücklich ein Gott des Friedens heißt: er, der Ursprung alles Friedens, möge um alle Glieder der Gemeinde sein Band schlingen!
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Der Römerbrief - Kapitel 16
Johannes Calvin
1 Ich befehle euch aber unsere Schwester Phöbe, welche ist im Dienste der Gemeinde zu Kenchreä, 2 dass ihr sie aufnehmt in dem Herrn, wie sich´ s ziemt den Heiligen, und tut ihr Beistand in allem Geschäfte, darin sie euer bedarf; denn sie hat auch vielen Beistand getan, auch mir selbst. 3 Grüßet die Priscilla und den Aquila, meine Gehilfen in Christo Jesu, 4 welche haben für mein Leben ihren Hals dargegeben, welchen nicht allein ich danke, sondern alle Gemeinden unter den Heiden. 5 Auch grüßet die Gemeinde in ihrem Hause. Grüßet Epänetus, meinen Lieben, welcher ist der Erstling unter denen aus Achaja in Christo. 6 Grüßet Maria, welche viel Mühe und Arbeit mit uns gehabt hat. 7 Grüßet den Andronikus und den Junias, meine Gefreundeten und meine Migefangenen, welche sind berühmte Apostel und vor mir gewesen in Christo. 8 Grüßet Amplias, meinen Lieben in dem Herrn. 9 Grüßet Urban, unsern Gehilfen in Christo, und Stachys, meinen Lieben. 10 Grüßet Apelles, den Bewährten in Christo. Grüßet, die da sind von des Aristobulus Gesinde. 11 Grüßet Herodion, meinen Gefreundeten. Grüßet, die da sind von des Narzissus Gesinde in dem Herrn. 12 Grüßet die Tryphäna und die Tryphosa, welche in dem Herrn gearbeitet haben. Grüßet die Persis, meine Liebe, welche in dem Herrn viel gearbeitet hat. 13 Grüßet Rufus, den Auserwählten in dem Herrn, und seine und meine Mutter. 14 Grüßet Asynkritus, Phlegon, Hermas, Patrobas, Hermes und die Brüder bei ihnen. 15 Grüßet Philologus und die Julia, Nereus und seine Schwester und Olympas und alle Heiligen bei ihnen. 16 Grüßet euch untereinander mit dem heiligen Kuss. Es grüßen euch die Gemeinden Christi.
V. 1. Ich befehle euch aber usw. Ein guter Teil dieses Kapitels besteht aus Grüßen. Zuerst empfiehlt Paulus die Phöbe, welcher er seinen Brief zur Besorgung übergab. Er empfiehlt sie zuerst um ihres Amtes willen, mit welchem sie ihrer Gemeinde einen hohen und heiligen Dienst leistete. Dann aber fügt er auch einen persönlichen Grund hinzu, weshalb man sie aufnehmen und ihr allen Beistand tun soll: weil sie selbst sich rastlos für alle Frommen aufgeopfert hat. Es ziemet den Heiligen, einer solchen Dienerin des Herrn alle Ehre und Güte zu erweisen. Solches zu unterlassen, würde für Knechte Christi eine Schmach sein. Verdienen schon alle Glieder Christi unsere Liebe, wie viel mehr die, welche ein öffentliches Amt in der Gemeinde bekleiden: sie haben einen Anspruch auf unsere besondere Liebe und Ehrfurcht. Und wie Phöbe stets mit besonderem Eifer den Christen gedient hat, so sollen jetzt die Christen ihr wiedervergelten und ihr in ihren Geschäften die nötige Hilfe angedeihen lassen. Ist es doch eine einfache Pflicht der Menschlichkeit, den nicht zu verlassen, dessen Natur zum Wohltun neigt, wenn er selbst des Beistandes bedarf. Um aber die Bereitwilligkeit seiner Leser noch zu erhöhen, erinnert Paulus daran, dass auch er selbst die Wohltaten der Phöbe genossen hat. In welcher Richtung diese Dienste sich bewegten, können wir einer anderweitigen Aussage des Apostels entnehmen (1. Tim. 5, 9-12). Die es bedürftig waren, wurden nicht nur aus Gemeindemitteln unterstützt, sondern auch in Krankheit durch den Dienst der Gemeinde gepflegt. Dazu waren Witwen verordnet, welche, von häuslichen Geschäften frei und durch keine Fürsorge für ihre Kinder mehr gehindert, bereit waren, sich ganz dem Dienste Gottes und den Pflichten der Frömmigkeit zu weihen. Wer einmal diesen Dienst übernommen hatte, war gewissermaßen demselben verbunden und verpflichtet. Solche Witwe hatte sich durch ihren frommen Entschluss des Verfügungsrechtes über sich selbst begeben. Tritt sie von ihrem Dienste zurück, so spricht ihr der Apostel das Urteil, dass sie die erste Treue gebrochen (1. Tim. 5, 12). Weil nun derartige Witwen im ehelosen Stande bleiben mussten, gab der Apostel die Weisung, dass sie unter einem Lebensalter von sechzig Jahren nicht in ihr Amt aufgenommen werden sollten. Denn er sah voraus, dass für jüngere Witwen ein Gelübde bleibender Ehelosigkeit gefährlich, ja verderblich werden musste. Aus diesem heiligen und für die Kirche höchst nützlichen Witwendienst sind in den späteren Zeiten des Verfalls Genossenschaften von Nonnen geworden, die nur dem Müßiggang leben.
V. 3. Grüßet die Priscilla und den Aquila. Bei den folgenden Grüßen teilt Paulus eine ganze Reihe von Ehrentiteln aus. Diese zielen teils darauf ab, einfach denen, welche es wert sind, ihre Ehre zu geben, teils ihnen auch bei den andern diejenige Autorität zu verschaffen, welche zum Heil des Gemeindelebens erwünscht war. Hier und dort birgt solcher Ehrentitel vielleicht auch eine stille Mahnung, der also Angeredete möge seinen früheren Wandel würdig fortsetzen, ohne rückwärts zu weichen und den Eifer erkalten zu lassen. Besonders ehrenvoll ist für Aquila und namentlich für seine Gattin Priscilla (Apg. 18, 2) als ein Weib, wenn Paulus sie meine Gehilfen in Christus nennt. Welche Bescheidenheit des heiligen Mannes, der sich nicht scheut, im Werke des Herrn ein Weib als seine Gehilfin anzuerkennen und öffentlich zu rühmen!
V. 4. Welchen nicht allein ich danke usw. Weil Priscilla und Aquila ihr Leben eingesetzt haben, um des Paulus Leben zu schützen, bezeugt er ihnen seinen persönlichen Dank. Aber er fügt hinzu, dass ein gleiches Dankgefühl auch alle Gemeinden Christi beseelt, und er will dadurch auch die römischen Christen an ihre Dankespflicht erinnern. Mit Recht hielten ja alle Christen aus den Heiden das Leben dieses einen Mannes teuer und wert: denn es war ihnen ein unvergleichlicher Schatz. So verstand es sich von selbst, dass sie denen sich dankbar erwiesen, welche solches Leben geschützt hatten. Bemerkenswert erscheint auch des Apostels Gruß an die Gemeinde in ihrem Hause. Höher konnte Paulus die Familie des Aquila und der Priscilla nicht ehren, als indem er ihr den Titel einer christlichen Gemeinde gab. Andere denken freilich an eine besondere Versammlung, welche in dem Hause der beiden zusammengekommen sei.
V. 5. Welcher ist der Erstling. In diesem Worte liegt eine Anspielung an die Opfergaben des Gesetzes. Durch den Glauben werden Menschen ein heiliges Opfer für Gott: und wer zuerst zu diesem Glauben berufen ward, heißt mit Recht ein Erstling. Solches zu erfahren, ist eine besondere Ehre von Gott. Natürlich muss das Ende dem Anfang entsprechen. Ist dies aber der Fall, ohne dass im langen Pilgerlauf eine Ermüdung eintrat, so wird der Glaube eines solchen Erstlings besonders erprobt und gereift dastehen.
V. 6. Von neuem bezeugt Paulus einer Maria seinen Dank, welche viel Mühe und Arbeit mit ihm gehabt hat. Er spendet dies Lob offenbar, um der Betreffenden bei den Römern einen guten Namen zu machen.
V. 7. Grüßet den Andronikus usw. Im Allgemeinen legt Paulus der bloß fleischlichen Verwandtschaft und allem, was damit zusammenhängt, einen geringen Wert bei. Immerhin wollte er dem Andronikus und Junias den kennzeichnenden Vorzug nicht vorenthalten, sie seine Gefreundeten, d. h. Verwandten zu nennen. Wichtiger ist ihm freilich das zweite, dass er sie seine Mitgefangenen nennen kann. Denn ein Gefängnis um Christi willen bedeutet eine Ehre in seinem Dienst. Heißen die beiden endlich Apostel, so will dies nicht in dem geläufigen eigentlichen Sinne verstanden sein, sondern im weiteren Begriff ist ein Apostel jeder Prediger, der nicht bloß einer Gemeinde dient, sondern als Missionar das Evangelium für weitere Gebiete predigt. Weil sie das Evangelium früher angenommen hatten als Paulus selbst, so zögert er nicht, ihnen in dieser Hinsicht vor sich selbst den Vorrang zu geben.
V. 11. Die da sind von des Narzissus Gesinde in dem Herrn. Dieser Narzissus wird der bekannte Freigelassene des Kaisers Claudius gewesen sein, an dessen Namen zahlreiche schändliche Verbrechen hingen. Umso bewundernswerter ist Gottes Gnade, die auch in dieses unreine, mit jeglicher Nichtswürdigkeit behaftete Haus eindrang. Nicht als ob Narzissus selbst sich zu Christus bekehrt hätte, wie denn überhaupt unter allen den glänzenden Namen des damaligen Rom keiner für Christus gezählt werden konnte: aber schon das war etwas Großes, dass Christi Gnade dies satanische Haus heimsuchte. Sklaven, welche einem reißenden Löwen, einem gierigen Räuber und verworfenen Menschen dienen mussten, hatten sich zugleich dem reinen Dienste Christi geweiht! Hierin braucht kein Untergebener auf seinen Herrn zu warten: jeder soll für sich selbst Christus nachfolgen. Übrigens ersieht man aus der einschränkenden Wendung des Apostels, dass die Dienerschaft des Narzissus geteilt und nur wenige davon gläubig waren.
V. 15. Zum Schluss dieser ganzen Reihe von Personen, an welche Paulus Grüße bestellt, wollen wir ausdrücklich darauf aufmerksam machen, dass dabei des Petrus keine Erwähnung geschieht. Hätte dieser sich damals in Rom aufgehalten, so wäre dies vonseiten des Paulus ein ganz unwürdiges Verfahren. Es ergibt sich daraus mit voller Sicherheit, dass, was die Römischen über einen langen Aufenthalt des Petrus in Rom zu sagen wissen, eine Fabel ist.
V. 16. Grüßet euch untereinander mit dem heiligen Kuss. Dass der Kuss bei den Juden ein gebräuchliches und verbreitetes Freundschaftszeichen war, geht aus vielen Stellen der Heilige Schrift hervor. Den Römern war er wohl weniger geläufig, wenn auch natürlich nicht gänzlich unbekannt. Frauen zu küssen, verbot freilich die Sitte für jeden, der nicht zu ihren nächsten Verwandten gehörte. Immerhin wurde es bei den ältesten Christen allgemeiner Brauch, dass man vor der Austeilung des heiligen Abendmahles den Kuss als Zeichen christlicher Gemeinschaft austauschte. Dann spendete man das Almosen, um das, was soeben das Zeichen des Kusses dargestellt, in der Tat und Wahrheit zu beweisen. Übrigens scheint Paulus jenen Brauch nicht geradezu anzuordnen. Er will die Christen wohl nur ermahnen, die wahrhaft brüderliche Liebe zu pflegen, die sich scharf von der gemeinen Weltfreundschaft abhebt, welche meist nur Schein ist oder durch unlautere Absichten und zweifelhafte Künste zusammengehalten wird, und welche jedenfalls nie zu einem guten Ziele führt. Wenn der Apostel endlich die Grüße der christlichen Gemeinden ausrichtet, so tut er damit das seine, alle Glieder Christi durch ein gegenseitiges Liebesband zu verknüpfen.
17 Ich ermahne aber euch, liebe Brüder, dass ihr achtet auf die, die da Zertrennung und Ärgernis anrichten neben der Lehre, die ihr gelernt habt, und weichet von ihnen. 18 Denn solche dienen nicht dem Herrn Jesus Christus, sondern ihrem Bauche; und durch süße Worte und prächtige Reden verführen sie die unschuldigen Herzen. 19 Denn euer Gehorsam ist bei jedermann kund geworden. Derhalben freue ich mich über euch; ich will aber, dass ihr weise seid zum Guten, aber einfältig zum Bösen. 20 Aber der Gott des Friedens zertrete den Satan unter eure Füße in kurzem. Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi sei mit euch!
V. 17. Ich ermahne aber euch usw. Nunmehr spricht der Apostel eine Ermahnung aus, wie sie christlichen Gemeinden immer von Zeit zu Zeit nötig sein wird, weil die Diener des Satans keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um in Christi Reich Verwirrung zu tragen. Sie pflegen dies in doppelter Weise anzugreifen: entweder säen sie den Samen der Zwietracht, um die in der Wahrheit entstehende Einheit zu zerstören, oder sie bringen Anstöße auf, um die Liebe zum Evangelium aus den Seelen zu reißen. Jenes geschieht, wenn neue, menschlich erdachte Lehrsätze Gottes Wahrheit ins Wanken bringen wollen, dieses, wenn man mit allerlei Kunstgriffen Hass oder wenigstens Geringschätzung gegen dieselbe zu erregen sucht. Auf die, welche solches tun, will der Apostel die Aufmerksamkeit der Gemeinde lenken, damit nicht arglose Gemüter der Täuschung und Verführung anheim fallen. Solche Leute soll man meiden, weil sie Schaden anrichten. Es ist nicht unsachgemäß, wenn Paulus von den Gläubigen in dieser Hinsicht Achtsamkeit verlangt; denn durch unsere Trägheit und Sorglosigkeit kommt es oft vor, dass üble Schwätzer der Kirche großen Schaden tun, ehe man ihnen entgegentritt, auch gibt es verschlagene Leute, die gefährlich werden, wenn man nicht vorsichtig auf sie achthat. Zu beachten ist dabei, dass der Apostel sich an solche wendet, die in der reinen Lehre unterwiesen sind; denn es ist ein gottloses Beginnen, ja ein Raub an Gottes Ehre, wenn einer die auseinander reißt, die in Christi Wahrheit eins sind. Schamlos ist es aber auf der andern Seite, wenn man unter dem Vorwand des Friedens und der Einigkeit eine Verschwörung der Lüge und eine gottlose Lehre verteidigen will. Die Papisten dürfen sich also aus dieser Stelle kein scheinbares Recht ableiten, um gegen uns Vorwürfe zu erheben: denn, was wir bekämpfen, das ist nicht das Evangelium, sondern Teufelsblendwerk. Paulus verdammt nicht jeden Streit ohne Ausnahme, sondern nur den, der die Einheit im rechten Glauben zerstört!
V. 18. Denn solche dienen nicht dem Herrn Jesus Christus. Damit empfangen wir ein Merkmal, an welchem sich stets die falschen Propheten von den Dienern Christi unterscheiden lassen: ihnen liegt nichts an Christi Ehre, sondern sie versorgen nur ihren Bauch. Ferner schleichen sie in verschlagener Weise in die Gemeinden ein und verbergen ihre Bosheit unter einer schützenden Maske. Darum warnt der Apostel ausdrücklich vor diesen Künsten, durch welche sich niemand täuschen lassen darf. Vielmehr soll man den süßen Worten und prächtigen Reden, die jedem seine Freiheit lassen und allen Lastern schmeicheln, das nötige Misstrauen entgegenbringen. Unschuldige Herzen pflegen ja in ihrer Harmlosigkeit nicht leicht Betrug zu wittern.
V. 19. Denn euer Gehorsam ist bei jedermann kund geworden. Diese freundliche Anerkennung zeigt, dass des Apostels Warnung nicht etwa einem Misstrauen gegen die gute Gesinnung seiner Leser entspringt, sondern nur der Tatsache, dass die Verführung wirklich sehr nahe liegt. Paulus will sagen: an eurem Gehorsam, den jedermann rühmt, zweifle ich durchaus nicht: er ist mir nur ein Gegenstand der Freude. Aber da ein lauterer und einfältiger Sinn nur zu oft arglos zu Fall kommt, so will ich, dass ihr freilich zu einfältig und unerfahren sein möchtet, um Böses zu tun, dagegen so weise wie möglich, um gegebenenfalls eure Reinheit in Lehre und Wandel auch im Kampfe festzuhalten. Die rechte christliche Einfalt ist also nicht etwa dort, wo man eine blöde Unkenntnis des Wortes Gottes als höchste Tugend preist.
V. 20. Der Gott des Friedens zertrete den Satan unter eure Füße. Das ist weniger ein Gebet als eine Verheißung, um die Christen in ihrem Kampfe zu stärken. Sie mögen ohne Furcht den Streit wider den Satan aufnehmen: denn der Sieg ist ihnen gewiss. Zwar hat Christus den Satan ein für allemal besiegt: aber noch immer erneuert dieser den Kampf. Also brauchen wir die Verheißung, dass vollendet werden soll, was man inmitten des Kampfes noch nicht sieht: der Feind wird am Boden liegen. Allerdings redet der Apostel hier nicht bloß von jenem Jüngsten Tage, an welchem der Satan gänzlich soll niedergetreten werden: sondern für die Gegenwart, in welcher des Feindes Zügellosigkeit alles in Verwirrung brachte, gibt er die tröstliche Zusage, dass der Herr dem in kurzem ein Ende machen und den Satan gleichsam unter die Füße der Christen treten werde. Endlich folgt die Fürbitte: die Gnade unsers Herrn Jesu Christi sei mit euch! d. h. möge euch der Genuss aller der Gnadengüter zuteil werden, welche Christus uns erworben hat!
21 Es grüßen euch Timotheus, mein Gehilfe, und Luzius und Jason und Sosipater, meine Gefreundeten. 22 Ich, Tertius, grüße euch, der ich diesen Brief geschrieben habe, in dem Herrn. 23 Es grüßt euch Gajus, mein und der ganzen Gemeinde Wirt. Es grüßt euch Erastus, der Stadt Rentmeister, und Quartus, der Bruder. 24 Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi sei mit euch allen! Amen. 25 Dem aber, der euch stärken kann laut meines Evangeliums und der Predigt von Jesu Christo, durch welche das Geheimnis offenbart ist, das von der Welt her verschwiegen gewesen ist, 26 nun aber offenbart, auch kundgemacht durch der Propheten Schriften nach Befehl des ewigen Gottes, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden: 27 demselbigen Gott, der allein weise ist, sei Ehre durch Jesum Christum in Ewigkeit! Amen.
V. 21. Es grüßen euch usw. Alle diese Grüße sollen teils die Gemeinschaft der weit zerstreuten Brüder fester knüpfen, teils sollen sie den Römern zeigen, wie auch diese Brüder dem Inhalt des Briefes zustimmen. Nicht als ob Paulus fremder Zeugnisse geradezu bedurft hätte: aber die Gemeinschaft der Frommen hat doch ihr besonderes Gewicht.
V. 25. Der Brief schließt mit Lob und Dank gegen Gott. Er preist die herrliche Wohltat Gottes, dass er die Heiden mit dem Lichte des Evangeliums beschenkt hat. Das ist der größte, nie genug zu rühmende Beweis seiner Güte. Dieser Lobpreis ist wohl geeignet, die Zuversicht der Frommen aufzurichten und zu stärken: dürfen sie doch auf das alles, was hier von Gottes Wohltaten gesagt wird, mit fröhlichem Gemüte und voller Sicherheit hoffen; und auch die früheren Gaben Gottes können ihre Hoffnung für die Zukunft nur stärken. Der Übersicht wegen wollen wir den langen und in seinem Aufbau nicht ganz glatten Satz in seine einzelnen Glieder zerlegen. Zunächst gilt es, das Ziel der ganzen Aussage deutlich zu machen (V. 27): Paulus will Gott allein alle Ehre geben; und um zu zeigen, dass ihm solche Ehre wirklich gebührt, erwähnt er kurz einige der herrlichsten göttlichen Eigenschaften: er nennt Gott allein weise. So heißt Gott in Rücksicht auf seinen geheimen Gnadenrat, von welchem in unserm Zusammenhange (V. 25 f.) die Rede ist und zu dessen anbetender Bewunderung uns der Apostel hier stimmen will. Zuvor lasen wir schon (V. 25) die Erinnerung: der euch stärken kann. Dieser Gott hat sie nicht bloß berufen, sondern wird sie auch fest behalten bis ans Ende. Und zur vollen Sicherheit fügt Paulus hinzu, dass diese Kraft Gottes im Evangelium bezeugt sei. Also verheißt uns das Evangelium nicht bloß Gnade für die Gegenwart, sondern es will uns auch die Gewissheit einer ewigen Gnade schenken. Gott ist nicht bloß jetzt unser Vater, sondern er wird es für alle Zukunft sein: unsere Gotteskindschaft überdauert auch den Tod: denn sie führt zu einem ewigen Erbe. Alle weiteren Aussagen dienen dazu, die Kraft und Würde des Evangeliums zu erheben: das Evangelium heißt eine Predigt von Jesus Christus, denn die Erkenntnis Christi ist seine ganze Summe. Von seiner Lehre wird gesagt, dass darin das Geheimnis Gottes offenbart sei. Mit welcher Andacht und Ehrfurcht müssen wir also auf solche Predigt lauschen! Die ganze Tiefe des Geheimnisses mögen wir daraus abnehmen, dass dasselbe von der Welt her verschwiegen gewesen ist. Freilich bietet das Evangelium nicht jene geschwollene und hochmütige Weisheit, welche die Kinder dieser Welt suchen: darum wird es von ihnen auch verachtet. Aber es enthält die unaussagbaren Schätze himmlischer Weisheit, die alles Denken übersteigen, vor der selbst Engel staunend anbeten, und welche kein Menschengeist je ausschöpfen wird. Und wenn Gottes Weisheit unter schlichten und geringen Worten sich verbirgt, so soll man sie deshalb nicht geringer achten: denn auf diese Weise hat es Gott gefallen, des Fleisches Hochmut zu dämpfen. Damit sich aber niemand wundere, dass dieses Geheimnis jahrhunderte lang verborgen gewesen ist, um dann plötzlich ans Licht gezogen zu werden, spricht der Apostel aus, dies sei weder durch menschlichen Vorwitz noch durch Zufall geschehen, sondern nach Befehl des ewigen Gottes. Damit fallen alle Zweifelsfragen unseres voreiligen Verstandes. Wir dürfen nicht mehr glauben, dass etwa unvorbereitet geschehen sei, was so plötzlich und unerwartet auftrat. Vielmehr war es längst beschlossen vor Grundlegung der Welt. Das Evangelium darf nicht mehr eine neue und deshalb unglaubliche Lehre heißen: denn es ist bereits kundgemacht durch der Propheten Schriften und jetzt nur erfüllt. Denn der Propheten Zeugnis ist so klar, dass es einen besseren Beweis für das Evangelium gar nicht geben kann. So hat Gott die Seinen vorbereitet, damit nicht etwa eine plötzliche Neuerung der Lehre Unruhe und Unsicherheit in ihre Gedanken brächte. Diesen Ausführungen gegenüber soll niemand behaupten, dass sie einen Widerspruch in Pauli Worte trügen. Denn dass dasselbe Geheimnis von der Welt her verschwiegen gewesen ist und doch durch der Propheten Schriften kundgemacht, löst sich leicht. Den Schlüssel bietet das Wort des Petrus (1. Petr. 1, 12), nach welchem die Propheten, wenn sie nach der für uns bestimmten Seligkeit forschten, nicht sich selbst, sondern uns gedient haben. Gott hat durch die Propheten geredet und zugleich geschwiegen: denn die Offenbarung der Dinge selbst, von denen seine Knechte weissagen mussten, hielt er noch zurück. Übrigens lässt sich wohl die Frage aufwerfen, in welchem Sinne hier wie Eph. 3, 9 und Kol. 1, 26 das Evangelium ein verborgenes Geheimnis heißt. Vornehmlich wird dabei die Berufung der Heiden in Betracht kommen, welche das eigentlich Neue im Evangelium ausmacht (Eph. 3, 6). Außerdem aber ist daran zu erinnern, dass zwar die Propheten bereits alle Lehren Christi und der Apostel vorgetragen haben -, aber im Vergleich mit der lichtvollen Klarheit des Evangeliums unter so dunklen Hüllen, dass mit vollem Recht gesagt werden kann, es sei einst verborgen gewesen, was jetzt erst offenbar wurde. Nicht umsonst hat der Prophet Maleachi (3, 20) geweissagt: es soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit. Und nicht ohne Grund hatte Jesaja längst zuvor unter Lob und Preis Gottes auf die Sendung des Messias hoffen gelehrt. Denn die Schätze der himmlischen Weisheit wurden eigentlich erst aufgetan, als Gott in seinem eingeborenen Sohn durch die alten Schatten hindurch brach und von Angesicht zu Angesicht erschien. Zweck und Ziel der Predigt des Evangeliums beschreibt der Apostel endlich noch einmal ganz wie im Eingang des Briefes (1, 5): Es gilt, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden.
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HARTMUT GEISLER
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